Kapitel 9 - Das Versprechen


Als Holger am nächsten Morgen die Augen aufschlug, fiel ihm sofort das Handy auf der Bettdecke auf. War er etwa während dem Grübeln eingeschlafen?

„Guten Morgen!“, begrüßte ihn die Krankenschwester und kam ins Zimmer.

Sein Blick glitt zur Uhr. Es war noch verdammt früh. Was hatten die hier nur für komische Weckzeiten zu diesen unchristlichen Stunden?

„Dr. Steadman komm heute im Laufe des Nachmittags zu Ihnen“, erzählte sie, während sie begann das Bett wieder einigermaßen herzurichten.

Holger brauchte erst seine Zeit, bis er richtig wach wurde, nickte nur und zog sich nach dem Waschen frische Kleidung an.
Als er wieder alleine im Zimmer war, stellte er sich die Frage, wann Philipp wohl auftauchen würde. Wahrscheinlich um neun, dann brauchte er nur noch eine Stunde bei ihm aushalten und konnte dann zur Mannschaft zurück. Wie er Philipp dafür beneidete...


Als sein Handy ihn am nächsten Morgen weckte, murrte Philipp. Er hatte unwahrscheinlich schlecht geschlafen. Da war die letzte Nacht sogar angenehmer gewesen. Erst konnte er nicht einschlafen und dann hatte er noch diese komischen Sachen geträumt. Es war das Spiel, was morgen anstand. Sie hatten gewonnen und Holger war auch da. Er saß auf der Tribüne und kam dann runter gelaufen. Keine Krücken, keine Re-Ruptur, nur die Verheilung des ersten Kreuzbandrisses. Philipp und er sind sich in die Arme gefallen. Diese innige Umarmung hat er so genossen in dem Traum und sogar der bloße Gedanke daran, zauberte ihm jetzt ein Lächeln ins Gesicht, während er aufstand und sich unter die Dusche stellte.
Er dachte lieber an diese Umarmung als daran bald wieder fliegen zu müssen. Warum war das so? Wieso war es fast schon eine Belastung Holger alleine lassen zu müssen? Er verstand es nicht. Er verstand auch nicht, warum er sich jetzt so beeilte, um schnellstmöglich bei ihm sein zu können. Das war alles so komisch.
Im Bad blickte Philipp in den Spiegel. Seine Haare waren noch nass vom Duschen und ein paar Wassertropfen perlten über sein Gesicht. Er seufzte leicht. Das war doch alles seltsam…
Schnell rasierte er sich noch, putzte sich die Zähne, zog sich an und packte die restlichen Dinge in seinen Koffer. Dann ging er runter zur Rezeption und lagerte den Koffer da. Nur mit seinem Portemonnaie, seinem Handy und dem grauen Pullover ging er rüber ins Krankenhaus. Frühstücken würde er am Flughafen, hatte er beschlossen. Da musste er sowieso noch lange genug warten und wirklichen Hunger hatte er auch nicht.


Seine Uhr zeigte etwa halb acht als er klopfte.

Auf Holgers Gesicht erhellte sofort ein Lächeln als die Tür aufging. Er wusste, dass es Philipp war, da die Krankenschwester eben erst aus dem Zimmer raus gegangen war. Und es war erst halb acht. Diese Tatsache freute Holger am meisten.

Ohne auf eine Antwort zu warten, trat Philipp ein. Er lächelte leicht. „Guten Morgen.“ Philipp schloss die Tür hinter sich und zog den Stuhl wieder näher ans Bett. Holger war alleine in dem Raum. Wen sollte er auch erwarten? Dr. Steadman hatte seine Operation. Gut, Schwester Anna vielleicht, aber er war ganz froh um diese Zweisamkeit.
Etwas unschlüssig saß er aber nun auf diesem Stuhl und schaute auf den Pullover in seinen Händen. Er breitete ihn aus, damit Holger ihn sehen konnte.
„Ich hab den gestern gefunden. Der ist für dich.“ Unsicher lächelte er ihn an. „Einen FC Bayern-Pullover konnte ich nicht auftreiben“, schob er grinsend hinterher und hielt Holger den Pullover hin, dass er ihn an sich nehmen konnte. Was er wohl dazu sagen würde? Vielleicht gefiel er ihm auch gar nicht. „Ich hab auch noch den Kassenbon, wenn ich ihn umtauschen soll…“

„Für mich?“, fragte er ungläubig nach. Zögerlich nahm Holger den Pulli an sich und betastete mit einer Hand den Stoff, mit der anderen hielt er ihn fest. Der würde an kühleren Tagen sicher schön wärmen. Dankbar lächelte er Philipp an. Er hatte gestern also sogar noch an ihn gedacht. Das war ein schönes Gefühl, was sich da in Holger ausbreitete.

Sein dankbares Lächeln erfüllte Philipp mit Wärme und in gewisser Weise auch mit Bestätigung. Es war also richtig, dass er ihn gekauft hatte.

„Nein, nicht umtauschen. Der Pullover ist toll.“ Man sah dem Innenverteidiger die Freude über das Kleidungsstück deutlich an, als er mühselig an den Rand des Bettes rutschte und Philipp umständlich in eine Umarmung zog. „Danke!“ Er schloss einen Moment die Augen, sog den Duft des Älteren ein und strich sanft über seinen Rücken. „Für alles.“

Es tat unwahrscheinlich gut in dieses glückliche Gesicht zu blicken. Holger rutschte rüber und zog Philipp in eine Umarmung, die er nur zu gerne erwiderte. Der Innenverteidiger strich über seinen Rücken und Philipp tat es ihm gleich, ehe er durch seine flauschigen Haare fuhr. „Ich wünschte, ich könnte mehr tun“, flüsterte er. Am liebsten hätte er Holger gar nicht mehr losgelassen. Er kuschelte sich fast schon kurz an ihn, ehe er wieder von ihm abließ.

Holger schmiegte sich in die Umarmung und Philipp tat das gleiche. Er wäre gern noch stundenlang in seinen Armen gelegen, dort fand er Halt und Geborgenheit. Hatte das Gefühl verstanden zu werden. Aber das ging nicht. Der Kapitän musste bald fliegen. Dieser Gedanke ließ Holger traurig seufzen. Er wollte doch nicht, dass er ihn hier allein ließ. Als sie sich trennten, wollte Holger schon wieder zurück rutschen, doch der Ältere legte seine Hände wieder an seine Wangen. Nein, er sollte das nicht tun... Philipp würde seine glasigen Augen bemerken. Holgers Herz schlug augenblicklich schneller, als sie auch noch Stirn an Stirn aneinander lehnten. Unglaublich, wie schwer es ihm jetzt fiel, die Tränen zurückzuhalten.

„Ich verspreche dir jetzt was. Wir gewinnen morgen. Wir gewinnen morgen für Jupp, für uns, für die Fans und vor allem für dich, hörst du?“

„Ihr schafft das. Ganz bestimmt sogar“, flüsterte der Jüngere nur. Da passierte es auch schon. Er schluchzte leise und zwei kleine Tränchen verließen seine Augen.

Philipp suchte mit seinen Augen Holgers und lächelte leicht. „Ich weiß, dass das wenig Trost ist und ich weiß, dass du gerne dabei wärst, aber es soll nicht sein. Wir müssen das Beste aus dieser Situation machen… du musst das Beste daraus machen und du schaffst das. Du bist stark, Holger und du bist nicht alleine.“
Philipp löste sich ganz, kramte sein Handy hervor und zeigte Holger ein Foto. Das Foto zeigte Bastian, wie er stolz Holgers Trikot mit der 28 hochhielt. Auf seinem eigenen Oberteil sah man auch eine 28 aufgestickt. „Das ist von der PK gestern. Dein Trikot ist auf dem Weg hierher. Die Jungs stehen hinter dir. Wir stehen alle hinter dir.“

Holger zupfte an dem grauen Vail-Pullover, der auf der Bettdecke lag und sah zu diesem nach unten. Egal, wie oft er auch mit dem Ärmel über seine Wangen wischte, es traten immer neue glitzernde Tränen hervor. Er wollte wirklich nicht weinen, aber das war alles so viel auf einmal. Die Freude über den Pullover und dass Philipp da war, die Angst bald alleine hier zu sein, die Panik vor der Zukunft und die Rührung wegen dieser Geste von Basti und den anderen. Holger schaute auf das Foto auf Philipps Handy und lächelte. Was mit den nassen Augen und Wangen schon ziemlich komisch aussah. Diese Unterstützung tat so unbeschreiblich gut, aber sie schmerzte auch so tief in ihm. Sein Trikot, das er im Finale hätte tragen können, war auf dem Weg zu ihm? Holger wusste wirklich nicht mehr, ob er jetzt eher lachen oder weinen sollte. Im Grunde hatte er sich ohnehin schon für die zweite Variante entschieden. Und verfluchte sich dafür. Er hatte sich doch letzte Nacht geschworen stark zu sein und nicht rumzuflennen wie ein kleines Kind. Seine Hände krallten sich in den Pulli, auf dem sich durch die Tränen schon dunklere nasse Stellen abzeichneten. Sein Blick folgte den Tränen. Er schaute auf den Pulli, weil er Philipp nicht ansehen konnte... und auch nicht wollte. Nicht mit so geröteten Augen.

„Nicht weinen, bitte...“ Sanft fuhr Philipp mit seinen Händen über Holgers Wangen. Der Jüngere vermied den Blick zu Philipp und der würde ihn nicht zwingen ihn anzusehen.
„Hör auf, sonst heul ich gleich auch noch“, er lachte leicht. Seine Augen füllten sich schon mit Tränen, aber er versuchte sie zurückzuhalten. Er musste doch stark sein für Holger.
Vorsichtig legte er seine Hände auf Holgers, die sich in den Pullover krallten.
Mit einem Mal fehlten ihm die Worte. Für einen kurzen Moment schloss er seine Augen. Drängte die Tränen zurück. Nur langsam öffnete er sie wieder. Holger hörte nicht auf zu weinen. Immer wieder bahnten sich neue Tränen den Weg über seine Wangen. Es versetzte ihm einen Stich ins Herz ihn so zusehen. Wieso war es so schwer? Es war vor einem halben Jahr doch auch nicht so schwer gewesen. Da hatte er Holger doch auch in München besucht, nachdem er wieder da gewesen war. Da ging es ihm auch nicht gut. Okay, er hatte auch nicht geweint, zumindest nicht in seiner Gegenwart.
War es diesmal schlimmer, weil es das zweite Mal war? Und weil die Pause länger war? Weil er weinte? Er wusste es nicht. Er wusste so vieles nicht. Aber er wusste, dass er am liebsten bleiben und nicht fliegen würde.
„Weißt du schon, wie lange du bleiben musst? Ich kann ja nach den Spielen noch mal vorbeikommen.“ Wieso er flüsterte, wusste er selber nicht. Sein ganzer Kopf war gerade voll mit Fragen, die mit „Wieso“ oder „Warum“ begannen. Und er konnte kaum welche davon beantworten.

„Ich weiß nicht genau“, schluchzte Holger.
Philipp redete auf ihn ein, sagte, er solle nicht weinen. Aber das war einfacher gesagt als getan. Holger wollte selbst nicht weinen, er war der Letzte der sich je zu Tränen bekennen würde, aber jetzt wurde ihm das alles zu viel. Es machte es nicht mal besser, als Philipp seine Hände berührte. Seine Schultern zuckten, er schluchzte, zitterte und weinte bitterlich. Er hatte das Gefühl, als würde es schlimmer werden, je mehr er sich gegen diese Hilflosigkeit stemmte, die ihn gerade zu übermannen versuchte.

„Aber nur, wenn du aufhörst zu weinen. Ich will dich nicht weinen sehen“, hauchte Philipp und grinste dabei. Er wollte Holger zum Lachen bringen. Er sollte nicht weinen, Tränen standen ihm nicht. Aber nicht nur deswegen wollte er ihn nicht weinen sehen. Er wollte ihn so nicht sehen, weil es ihm auf irgendeine Art und Weise wehtat.

Plötzlich ging die Tür auf und Philipp hob den Blick. Schwester Anna.

„Schön, dass ich Sie noch antreffe, bevor Sie wieder abreisen, Herr Lahm.“

Er lächelte nur. Was sollte er dazu schon sagen? Es entging ihm aber nicht, dass Holger schnell die Tränen wegwischte. Sie sollte diesen Moment der Schwäche wohl nicht sehen. Fast schon traurig lächelte der Kapitän nun. Er wünschte, es müsste diesen Moment nicht geben und er wünschte, er müsste nicht hier sein. Genau wie Holger.

Geschickt wich Holger deren Blick aus, während diese seine Infusion überprüfte und den Tropf mit Schmerzmittel austauschte. Es reichte schon, wenn Philipp seine Tränen gesehen hatte.

„Dortmund schlagen Sie doch morgen, oder?“, stellte sie lächelnd die Frage an Philipp.

Etwas überrascht sah der Kapitän sie an, lächelte aber dann. „Müssen wir. Ich hab es Holger versprochen“, war er ehrlich und schenkte ihm ein liebevolles Lächeln, was er aber nicht mitbekam, da er weiter stur auf den Pullover starrte.

„Das ist aber ein großes Versprechen“, stellte sie lächelnd fest.

„Aber es ist alles, was ich tun kann, wenn ich erst wieder abgereist bin.“

„Kommen Sie doch einfach noch mal her. Das lässt sich doch sicher einrichten? Herr Badstuber würde sich sicher freuen“, redete sie einfach weiter.
Es klang dabei fast so, als wäre Holger gar nicht im Raum.

Holger fühlte sich ein wenig fehl am Platz. Schwester Anna und Philipp schienen sich wirklich gut zu verstehen, so wie sie miteinander sprachen. Holger sah kurz auf und runzelte die Stirn. Beinahe hätte er gesagt: „Hallo, ich bin noch anwesend und kann für mich selbst sprechen“, aber er ließ es bleiben. Schwester Anna hatte ja Recht. Sie sprach genau das aus, was Holger nicht über die Lippen brachte, aber die ganze Zeit dachte. Eigentlich wäre das doch leicht auszusprechen, vielleicht wollte der Jüngere sich nicht einfach das Recht herausnehmen und Philipp von Mannschaft und Familie trennen, nur weil er nicht allein sein wollte.

Bei den Worten suchte Philipp Holgers Blick. Würde er sich freuen? Das war eine gute Frage. Er würde sofort wiederkommen, wenn Holger es nur wollen würde.

Schwester Anna beobachtete, wie Philipp Holger ansah. Sie schmunzelte. In gewisser Weise waren die beiden ziemlich süß zusammen. Der besorgte Kapitän und der Innenverteidiger, der mit so viel Nähe anscheinend nicht umgehen konnte. Sie hatte das Gefühl, als fiele es Holger wirklich schwer seine Gefühle und Gedanken auszudrücken. Umso schöner war es doch, dass er Philipp gegenüber seine Tränen zulassen konnte.

„Herr Badstuber, ich komme später wieder zu Ihnen, wenn es Essen gibt. Sollte was sein einfach die Klingel betätigen, Sie kennen das ja. Und Herr Lahm, Ihnen wünsche ich einen guten Flug und viel Erfolg für das Spiel morgen.“

„Danke.“ Höflich wie er war, stand er auf und reichte ihr die Hand bevor sie wieder verschwand. Er warf einen Blick auf die Uhr. Ein wenig Zeit hatten sie noch. Eigentlich wollte er etwas sagen, aber er wusste beim besten Willen nicht was. Er spielte mit dem Ärmel des Pullovers, der aus dem Bett hing. Eine seltsame Stille, die sich da auszubreiten wagte.

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