Kapitel 40 – An der Grenze


Philipp hatte das Gefühl sein Herz würde brechen. Anders konnte er das Gefühl in seinem Inneren nicht beschreiben. Fest drückte er Holger an sich, fuhr ihm beruhigend durch die Haare, strich immer wieder über seinen Rücken.
Er verstand kaum etwas von dem, was Holger da von sich gab. Aber einen Satz, den verstand er und wenn er ehrlich war, hätte er ihn sich auch denken können. Holger war am Ende.
Dem Kapitän stellte sich die Frage, ob er schuld daran war. Er hatte Holger gesagt, er sollte gute Laune haben und solch schlechte Sachen nicht mehr sagen… hatte er damit ein Fass geöffnet, was sich immer mehr gefüllt hatte und was jetzt übergelaufen war? Übergelaufen an Gefühlen, mit denen Holger nicht umzugehen wusste, weil es zu viel war? Und weil zu viel in der Schwebe hing? Zu viel auf dem Spiel stand? Philipp wusste ja, wie sehr er den Fußball liebte und genau der schien immer mehr in weite Ferne gerückt… mit einem Mal musste er an Holgers Vater denken. Auch der wurde ihm plötzlich und ohne Rücksicht auf Verluste genommen. Jetzt sollte ihm auch das, was er am meisten liebte, genommen werden. Wie viele Rückschläge verkraftete ein Mensch? Wie viele Rückschläge verkraftete Holger?
„Ich bin da“, flüsterte Philipp. „Ich werde dich nicht alleine lassen, wir gehen da zusammen durch. Ich helfe dir. Wir schaffen das.“ Immer wieder redete er gut auf ihn ein, wusste nicht, ob was helfen würde, aber was sollte er sonst tun? Was konnte er sonst tun?
Sanft drückte er einen Kuss auf Holgers Haar. Für einen kurzen, irrsinnigen Moment dachte er daran seine Lippen zu küssen. Aber das war eine Schnapsidee. Es würde doch alles verschlimmern, oder nicht? Warum wusste er nicht, er wusste nur, dass es das tun würde. Die Begründung wollte Philipp auch nicht wissen. Schnell mahnte er sich selbst an etwas anderes zu denken.
„Holger“, murmelte er und drückte ihn noch näher an sich. Ihm war zum Heulen zumute, aber er riss sich zusammen. Er musste jetzt stark für Holger sein, sonst würde er es gar nicht schaffen. Und er würde ihn wirklich nicht alleine lassen. In dem Moment, in dem Philipp unbeholfen mit Holger einsam und alleine auf diesem großen Fußballfeld hockte, fasste er den Entschluss, dass er nicht mit nach Hawaii fliegen würde. Claudia würde sauer sein, aber sie hatte ja Sarah und Bastian. Würde sie Holger hier so sehen, würde sie es vielleicht verstehen, aber Philipp würde dafür sorgen, dass niemand Holger so zusehen bekam. Er kannte den Stolz des Abwehrspielers nur zu gut. Wahrscheinlich war es ihm schon zu viel, dass er hier war. Aber einer musste doch auf ihn aufpassen und ihn wieder auf die Beine stellen.

Philipps Anwesenheit stellte sich als wundervoll und grässlich zugleich heraus. Holger wollte doch nie vor seinen Augen weinend zusammenbrechen. Ihm nie seine gesamte Schwäche zeigen. Je näher Philipp ihn an sich drückte, desto mehr fühlte Holger sich in seinen Armen geborgen. Doch dieses Gefühl reichte längst nicht aus um die Kälte, die Verzweiflung und diese alles erstickende Bitterkeit zu vertreiben. Holger war sich dem Ausmaß seiner Verletzung noch nie so bewusst geworden wie gerade jetzt in diesem Augenblick. Eine Träne jagte die Nächste, er konnte einfach nicht aufhören. Immer neue Gedanken drängten sich in den Vordergrund. Allesamt negativ. Alles, was sich in den letzten Tagen, Stunden, Minuten angestaut hatte, brach jetzt aus ihm heraus. Wie ein Damm, der durch eine erbarmungslose Flutwelle rücksichtslos zerstört wurde. Holgers Finger krallten sich in Philipps Oberteil, ließen manchmal wieder locker, klammerte sich aber letztlich doch immer wieder an ihn. Es ging gar nicht anders. Philipp war das rettende Ufer, das ihn zu beruhigen versuchte. Er nahm alles wahr. Jedes einzelne Wort. Jede noch so zaghafte, vorsichtige Berührung. Sogar den Kuss auf sein Haar spürte er intensiv. Aber in diesem Moment der vollkommenen Verzweiflung schaffte er es kaum darauf zu reagieren. Er wollte es, aber alles was dabei herauskam, war ein Schluchzen und das Zittern und Beben seines ganzen Körpers, was sich nur noch mehr verstärkte. Noch nie hatte er so ein enormes Gefühl der Schwäche und Kraftlosigkeit in sich verspürt. Konnte man dagegen ankommen? Konnte Philipp ihm da raushelfen? Er würde ihn doch wieder nur allein lassen. Er flog nach Hawaii. Zusammen mit seinem besten Freund Basti. Und Mario hatte seinen Urlaub auf irgendeiner Mittelmeerinsel mit Carina schon gebucht und würde ihn auch hier zurücklassen. Aber wenn Holger ehrlich war, interessierten ihn Mario und Basti gar nicht. Er wollte, dass Philipp da war. Sein Philipp. Jemand anderen brauchte er gar nicht.
„Es geht einfach nicht mehr“, weinte er. Holger war sich nicht mal sicher, ob man die tränenerstickten Silben verstehen konnte. Aber war das nicht im Grunde egal? Philipp hatte gesagt, er sollte nicht mehr solche Sachen sagen, deshalb war es gut, wenn er es gar nicht erst verstand. „Es hat keinen Sinn...“, hauchte er schwach und schluckte schwer. Sein Gesicht vergrub er vollständig in Philipps Shirt. „Ich werde... nicht mehr zurückkommen.“ Holger konnte nicht mehr und gab sich auf. Es ging einfach nicht mehr. Irgendwann waren auch seine Reserven erschöpft.
Holger verstärkte den Griff um Philipp, ließ seine Arme dann aber kraftlos sinken. Seinen ganzen Körper lehnte er aber weiterhin dicht an den Kapitän. Er brauchte diesen Halt, aber ihm wurde auch bewusst, was er Philipp überhaupt zumutete. Hatte er ihn in Vail nicht schon genug fertig gemacht? Nein, er setzte dem natürlich jetzt hier in München noch das Krönchen auf. Zu seiner Verzweiflung mischten sich lähmende Schuldgefühle. Philipp hatte das gar nicht verdient. Holger hatte ihn einfach nicht verdient, der sogar seine Frau und seinen Sohn versetzte, um bei ihm zu sein. War es Zufall, dass Philipp ihn hier fand? Hatte er nach ihm gesucht? Soviele Fragen, aber Holger war nicht in der Lage sie zu stellen.

Es waren nicht nur die Worte, Holgers ganze Körpersprache zeigte seine Hilflosigkeit.
Aber Philipp ging es nicht anders. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte ihn trösten, aber hatte das Gefühl, als würde er ihn nicht erreichen. Immer weiter weinte Holger, ließ alles raus.
Als er aber sagte, er würde nicht zurückkommen, zog sich alles in Philipp zusammen. Am liebsten hätte er Holger eine Ohrfeige gegeben, um ihn wachzurütteln. Aber abgesehen davon, dass er es gerade nicht übers Herz brachte, ihn zu schlagen, würde sie jetzt in dieser Situation wenig Sinn haben.
Philipp hoffte einfach, dass Holger ihm zuhörte, als er auf ihn einredete: „Wer war das? Wer hat dir den Floh ins Ohr gesetzt? Wann hast du aufgehört ein Kämpfer zu sein, Holger Badstuber? Du hast gekämpft, dass du diesen Vertrag bekommen hast und du hast dich in die Startelf gekämpft. Sogar in die Nationalmannschaft… du hast dich gegen große Namen durchgesetzt und jetzt willst du aufgeben, nur, weil dein Kreuzband Mucken macht? Wo ist der Kämpfer hin? Der Kämpfer, den ich so schätze und mag?“
Er erwartete keine Antwort, er hoffte nur, dass seine Worte ein wenig Wirkung zeigten. Oder sie verfehlten mal wieder ihr Ziel… Philipp wusste es nicht.

Als Philipp ein weiteres Mal auf ihn einredete, öffnete Holger aufmerksam die Augen, allerdings blieb alles um ihn herum weiterhin dunkel, so sehr hatte er sich an die Brust des Älteren gelehnt. Beinahe schon gequetscht, aber er wollte es so. Es bot Sichtschutz...
„Viele“, hauchte er zitternd. Er erfand das schließlich nicht. Das Internet war voll von Spekulationen. Aber das war auch nur ein Teil des Puzzles. Hinzu kam auch die Begegnung mit diesem Patienten in Vail. Es spielten einfach so viele Faktoren im Moment eine Rolle. Es schmerzte, wie Philipp davon sprach, wie hart er sich damals alles erkämpft hatte. Ein trauriges Lächeln legte sich in sein weinendes Gesicht. Durch van Gaal schaffte er den Sprung in den Profikader, gemeinsam mit Thomas. Es war hart, aber er hatte es durch unermüdlichen Eifer doch noch geschafft... und jetzt? Thomas spielte weiterhin in seiner Bestform und er? Lag weinend in Philipps Armen und gab sich und seine Karriere auf. Holger widersprach Philipp in seinen Gedanken. War nicht gerade Mario das beste Beispiel, dass es so schnell vorbei sein konnte? Selbst bei einer „harmlosen“ Verletzung? Mario fiel nicht so lange aus und doch durfte er seinen Stammplatz, fast schon sein ganzes Ansehen, an Mario Mandzukic abgeben. Bei Holger wurde vermutlich Jan Kirchhoff diese Rolle einnehmen. Aber er wollte jetzt nicht mit Philipp streiten oder diskutieren, dafür fehlte ihm die Kraft. Philipp würde ihm sowieso nie direkt sagen, dass es vorbei war. Er traute sich in Vail nicht einmal den Arzt zu zitieren und ihm Bescheid geben, dass sie das ganze Kreuzband entfernt hatten.

Philipps Hände hatten nicht aufgehört beruhigend über seinen Rücken zu streichen und hin und wieder sanft durch seine weichen Haare zu gehen.
„Holger, komm, ich bringe dich nach Hause. Hier muss dich nicht jeder sehen und Zuhause kannst du dich hinlegen, okay? Ich komme auch mit. Ich werde nicht wieder fahren, wenn ich dich abgesetzt habe.“
Liebevoll setzte er einen erneuten Kuss auf sein Haar und wartete dann auf eine Reaktion. Ein Nicken oder irgendetwas, was ihm die Erlaubnis gab ihn in sein Auto zu verfrachten.

Perplex löste er sich ganz leicht von Philipp, nachdem dieser sanft einen zweiten Kuss auf seine Haare setzte, und sah ihn aus feuchten Augen an. Er bot ein erbärmliches Bild. Seine Wangen glänzten vor Nässe, während sich unaufhörlich dicke Tränchen immer noch in seinen Augen sammelten und den Weg nach unten suchten. Sein Anblick spiegelte genau wieder wie er sich fühlte.
Ohne Worte nickte Holger. Er war nicht in der Verfassung etwas zu sagen. Nicht im Stande diese ganzen Eindrücke zu verarbeiten und sich ein objektives Bild daraus zu bilden. Warum wollte Philipp bleiben? Warum war er hier? Warum küsste er zweimal zärtlich seine Stirn? Holger hoffte so sehr, dass der Kapitän nicht nur aus Mitleid bleiben wollte...

Vorsichtig half der Kapitän Holger auf die Beine und machte sich mit ihm auf den Weg zum Ausgang. Sie hatten Glück, dass gerade niemand durch die Gänge huschte. Zwar sah Holger stets auf den Boden, trotzdem wäre es schwierig geworden sein Gesicht zu verbergen. Philipp leitete den Innenverteidiger zum Auto. Holger beobachtete, wie er zur Beifahrerseite ging, dabei war die Tür zu öffnen, es aber letzten Endes doch bleiben ließ. Stattdessen marschierte er nun zur Fahrerseite und schien geduldig zu warten. Wollte er Holger nicht das Gefühl geben, dass er gar nichts mehr alleine machen konnte? Dass er schon beim Öffnen einer Autotür scheiterte?
Schweigend setzte sich Holger ins Auto und starrte stur aus dem Fenster. Die Nacht war über Deutschland hereingebrochen und ließ München durch die unzähligen Straßenlaternen im Lichterglanz erstrahlen. Er war etwas ruhiger geworden, auch wenn seiner Kehle hin und wieder ein Schluchzen entwich.

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