Kapitel 21 - Erdrückende Stille



Trotz aller Umstände schlug Holger sich tapfer. Auch wenn er Schmerzen hatte, humpelte er eifrig voran, achtete fast schon penibel auf den Gehweg, um nicht zu stolpern, aber als er den äußerst steilen Berg erreichte, blieb er kurz stehen und sah hinauf. Philipp war schon gar nicht mehr zu erkennen, war vermutlich sogar schon angekommen. Zu allem Ärger wurde der Regen von Minute zu Minute stärker.
„Na dann mal los“, seufzte Holger und hopste voran. Das würde schon gut gehen. Er war Profisportler, da konnte so ein lächerlicher Berg ihn doch nicht kleinkriegen.
Aber schon bei weniger als der Hälfte atmete er schwer und war gezwungen stehen zu bleiben. Seine Sonnenbrille nahm er kurz ab, schaute in den Himmel und sah direkt in die prasselnde Naturgewalt. Er war schon klitschnass. Seine Kleidung klebte unangenehm an seiner Haut, während er sich versuchte zusammenzureißen. Holger wollte fluchen, aber das kostete ihn nur weiter Luft, die er zum Gehen benötigte. War der Berg schon immer so weit? Steil ja, aber so lang?
Holger humpelte noch ein bisschen voran, dann versagte aber seine Kraft endgültig und er schaffte es nicht einmal mehr einen Schritt zu gehen. Nicht einmal eine Bank zum Ausruhen gab es hier. Oder was zum Unterstellen. Es war doch zum Verrücktwerden. Völlig fertig lehnte Holger sich auf seine linke Krücke und sackte etwas mit dem Oberkörper in sich zusammen. Die Nässe, die Schmerzen und seine fehlende Ausdauer, die seine Auszeit und die OP nach sich zog, waren zu übermächtig geworden, als dass er jetzt weitergehen könnte.
Warum musste er sich gerade jetzt überschätzen? Sollte er Philipp vielleicht schreiben, damit er ihn holte? Nein, lieber schlug er hier ein Zelt auf und übernachtete auf dem Gehweg, als dass er jetzt zu Kreuze kroch, nur weil er nicht mehr in der Lage war einen Berg zu erklimmen. Ach, das war doch alles nicht fair!

Philipp riss den Blick vom Regenschirm los und stand auf, nahm den Rollstuhl und schob ihn zurück. Holger war sowieso schon nass und er würde auch noch nass werden, warum also diesen lästigen Schirm mitnehmen?
Sobald er unter dem Dach hervorkam, spürte er den heftigen Regen auf sich hinunterprasseln. Es dauerte nicht lange, da klebte der Stoff seiner Kleidung regelrecht an seinem Körper. Er zerrte an dem weißen Shirt, aber es wollte nicht von der Haut weg. Aber war ja auch egal.
Es gab genug Menschen, die ihn komisch ansahen, aber Philipp ignorierte alle Blicke. Allerdings wurde ihm schnell bewusst, warum sie so schauten. Er hatte die Sonnenbrille noch auf. Schnell hing er sie an seinen Kragen und ging weiter.
Ein paar Meter weiter und da sah er Holger. Er stand auf der Stelle und stützte sich auf seine Krücken. Entweder Philipp bildete es sich ein oder der Oberkörper hob und senkte sich schnell. Fehlte ihm so sehr die Luft?
„Oh Holger“, flüsterte er. Der Innenverteidiger tat ihm mit einem Mal richtig leid. Am liebsten hätte er den Rollstuhl stehen gelassen, wäre zu ihm gelaufen und hätte ihn umarmt. Warum fiel es Holger so schwer Hilfe zuzulassen? Dann wäre es doch um einiges einfacher.
Aber er konnte ihn gerade nicht umarmen, er musste zu ihm. Schnell überbrückte er die letzten Meter. Holger hatte den Blick gesenkt und schien ihn nicht zu bemerken.

Holger nahm sich vor in etwa einer Minute wieder weiter zu humpeln. Irgendwie musste er den Berg schaffen, wenn er hier nicht versauern wollte. Sein Blick fixierte den nassen Teer unter seinen Füßen, sah dabei zu, wie sich langsam Pfützen bildeten und merkte so, dass der Regen statt weniger zu werden immer stärker wurde.

„Setzt du dich jetzt in den Rollstuhl?“, fragte Philipp als er in Hörweite war und fixierte Holger in der Hoffnung er würde aufsehen, nicken und sich endlich setzen, damit er ihm helfen konnte.

Holger sah überrascht auf. Philipps Stimme hatte er natürlich erkannt, wer sonst würde ihm auch diese Frage stellen? Mit tropfnassem Gesicht musterte er den Älteren, der seinen Blick nicht von ihm abwandte. Seine Sonnenbrille hatte er abgenommen und sie an den nassen Shirtkragen gehangen. Wäre die Situation um sie herum vielleicht nicht so gedrückt, hätte Holger angemerkt, dass ein weißes Shirt bei der Wetterlage nicht so praktisch war, aber so behielt er diesen Kommentar für sich. Warum blickte er überhaupt auf das nasse Oberteil, das jeden seiner Muskel betonte, da es klitschnass am seinem Körper klebte?
Holger schluckte schwer und senkte den Blick wieder. Aus dem Augenwinkel erkannte er immer noch die Räder des Rollstuhls. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Er wollte diesen verdammten Berg alleine schaffen und es sich selber auch beweisen, aber wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er am Ende war. Ihm fehlte immer mehr die Luft, selbst wenn er weiter rasten würde, wäre es nach ein paar Schritten wieder das selbe. Dazu der Schmerz im rechten und die Schwäche im linken Bein. Es war jetzt egal, ob vereinzelte Tränen aus seinen Augen traten, sie vermischten sich unbemerkt mit den ganzen Regentropfen.
Warum war Philipp wieder gekommen? Bestimmt aus Mitleid. Super. Das gab einem doch ein tolles Gefühl. Aber ihm das jetzt unterstellen? Und wenn er das oben in der Klinik tat, hieß es nur, er habe ihn ausgenutzt.

Ihm war die Verwunderung deutlich anzusehen, als Holger schließlich den Blick hob. Sanft lächelte Philipp ihn an. Wartete auf eine Antwort, eine Reaktion. Für einen Moment schien Holger ihn zu mustern, ehe er den Blick wieder senkte. Er schien sich gerade überwinden zu wollen. Das hatte Philipp inzwischen verstanden. Es ging nicht immer sofort, Holger brauchte immer einen Moment. Und den bekam er gerade.

„Danke“, murmelte der Jüngere schließlich, gab sich einen letzten Ruck und überreichte Philipp die Krücken, ehe er sich vorsichtig im Rollstuhl niederließ. Die Sitzfläche war natürlich dementsprechend nass, aber es war ohnehin schon egal.

Philipp stellte die Bremse fest, um die Krücken an der Halterung zu befestigen. Er sagte nichts zu Holger. Es wäre alles falsch gewesen. Vorwürfe wären unangebracht, Mitleid erst recht.

Erst als Philipp den Rollstuhl drehte und bergauf schob, merkte Holger welch Last ihm von den Schultern fiel. Aber er übertrug sie auf Philipp, der das jetzt wirklich als Krafttraining ansehen konnte. Leise seufzte er und stützte seinen Kopf auf seinen Arm, schirmte seine Augen leicht mit der Hand ab. Er fühlte sich richtig unwohl, aber das lag nicht nur am Regen.

Stumm schob Philipp den Rollstuhl den Berg hoch. Das war schwieriger als gedacht, wenn er ehrlich war. Holger war kein Fliegengewicht und der Regen erleichterte ihm die Situation nicht unbedingt, aber er schwieg dennoch. Einzig und allein sein Atem war zu hören. Generell kam es Philipp so ruhig vor. Er bekam von den Autos, die an ihm vorbeifuhren, gar nichts mit. Zu sehr war er auf Holger, den Rollstuhl und die Klinik fixiert. Langsam aber sicher kamen sie dieser sogar immer näher.
Der Regen dachte nicht daran weniger zu werden. Da hätte auch der Schirm nichts mehr gebracht.
Das letzte Stück des Berges musste sich Philipp schon ziemlich anstrengen, aber er beschwerte sich nicht. Holger hatte ein größeres Leid zu tragen als er die paar Meter.
Der Schirm war weg, als sie den Eingang erreichten. Er würde Schwester Anna einen neuen kaufen, wenn er ihn ersetzen musste, aber das war ihm gerade herzlich egal.

Er schob Holger durch die große Glastür direkt auf den Fahrstuhl zu. Wieder lagen zu viele Blicke auf ihnen und der Spur aus Regen, die sie hinter sich herzogen. Die Reifen zogen schmutzige Streifen auf dem hellen Bogen und Philipp selber tropfte richtig schön. Er wusste schon, was er machen würde. Er brachte Holger in sein Zimmer und verschwand dann, um sich umzuziehen. Und heiß duschen! Denn wie er so vor dem Aufzug stand, fröstelte es ihm dann doch.
Als der endlich kam und sich die Türen öffneten, wurde ihm erst mal bewusst, wie er eigentlich aussah. Er stockte kurz, ehe er dann doch eintrat. Wie zwei begossene Pudel sahen sie aus. In jeder anderen Situation hätte er darüber lachen können, aber nicht mal ansatzweise zogen sich seine Mundwinkel nach oben. Holger zog sie nach unten. Er sah sich selbst durch den Spiegel in seine traurigen Augen.

Philipp schwieg, Holger tat es ihm gleich. Hatten sie sich wirklich nichts zu sagen? Wahrscheinlich musste der Kapitän seinen Ärger runterschlucken und sein Mitleid zügeln. Der Innenverteidiger fragte auch gar nicht nach, warum er ihn doch noch geholt hatte. Das war eindeutig Mitleid. Den Blick in den Spiegel im Aufzug mied er und schaute lieber traurig zu Boden.

Philipp war sogar ganz froh drum, dass das Zimmer im ersten Stock lag, so musste er den Anblick nicht länger ertragen. Auf direktem Wege brachte er Holger in sein Zimmer. Die Tür war noch nichts ins Schloss gefallen, da kam schon Schwester Anna herein.
Philipp ließ den Rollstuhl im Zimmer stehen und zog die Bremse an. „Ich bin im Hotel. Duschen und so…“
Er konnte Holger nicht noch einmal ansehen. Lediglich Schwester Anna schenkte er ein kurzes, dankbares Lächeln. Dann verschwand er aus dem Krankenhaus.

Schwester Anna stand nun bei dem Innenverteidiger und musterte ihn. Erst hatte sie leise geseufzt, ehe auf ihrem Gesicht ein freundliches Lächeln erschien.

„Jetzt duschen Sie erstmal warm, ziehen sich frische Kleidung an und dann sieht die Welt gleich ganz anders aus.“

Schön wärs. Holger nickte, zwang sich zu einem Lächeln und quälte sich ein weiteres Mal aus dem Rollstuhl. Nachdem er die Krücken an sich genommen hatte, fuhr Schwester Anna den Rollstuhl weg und schloss die Tür hinter sich.
Nachdenklich blieb er in der Mitte des Raumes stehen und fragte sich, warum Philipp den Satz so offen ließ. „Duschen und so...“ keine Angabe, wann er wieder kam. Konnte er es ihm verübeln, wenn er heute nur noch im Hotel bleiben würde? Nein, eigentlich nicht. Deshalb redete sich Holger auch selber ein sich keine Gedanken darüber zu machen. Aber das war leichter gesagt, als getan...


Noch mehr blöde Blicke, die er alle ignorierte. Schnellen Schrittes verschwand Philipp in sein Hotelzimmer und dort direkt ins Bad. Achtlos warf er die nassen Klamotten über den Badewannenrand und stellte sich unter die heiße Dusche. Diese Wärme tat unglaublich gut. Aber die Dusche war Segen und Fluch zugleich. Es war einer der besten Orte an denen Philipp nachdenken konnte und natürlich glitten seine Gedanken immer wieder zu Holger. Sollte er direkt wieder rübergehen? Oder sollte er Holger seine Zeit geben sich abzureagieren? Er konnte ihm auch schreiben, ob er wollte, dass er kam, aber das war ihm zu blöd. Eigentlich konnte und wollte er Holger nicht alleine lassen, aber es tat weh immer wieder zurück gestoßen zu werden. Jedes Mal aufs Neue. In dem einen Moment entschuldigte er sich für sein Verhalten und sagte ihm, wie froh er doch war, dass er da war, aber keine fünf Minuten später teilte er wieder aus.
Philipp konnte nur seufzen als er aus der Dusche trat und sich abtrocknete. Mit dem Handtuch um die Hüften ging er ins Zimmer und kramte im Koffer nach frischer Kleidung. Nachdem er sich angezogen hatte, bestellte er sich einen Kaffee über den Zimmerservice. Mit dem setzte er sich in einen Sessel ans Fenster. Wieder die Aussicht aufs Krankenhaus. Irgendwo da lag Holger. Ob er gerade an ihn dachte? Vermutlich war er froh, dass er nicht da war!
Abrupt stand Philipp auf. Er drehte den Sessel, dass er das Fenster im Rücken hatte und nahm sein Handy. Er beschloss erst mal Claudia anzurufen. Lust hatte er keine, aber… sie war nun mal seine Frau und er hatte sich noch gar nicht gemeldet, das war echt nicht gut von ihm. Hoffentlich war sie nicht allzu sauer.


Nach dem Duschen nahm Holger eine der Schmerztabletten, die Schwester Anna bereit gestellt hatte und setzte sich aufs Bett. Warum hatte er so instinktiv nach dem grauen Vail-Pulli gegriffen und ihn sich übergestreift? War es in der Hoffnung Philipp käme doch wieder zurück und würde ihn darin sehen? Holgers Blick fiel auf die Uhr, weswegen er schnaubend den Kopf schüttelte. Um sein Outfit zu sehen, müsste der Kapitän nur erstmal wieder kommen, aber der hatte anscheinend besseres zu tun. Was konnte denn bitteschön besser sein, als sich von Holger den ganzen Tag anschnauzen lassen?
Plötzlich wurde er durch ein Klopfen aus den Gedanken gerissen. „Philipp?“, hauchte er fast stumm und blickte erwartungsvoll zur Tür, die sich öffnete und Schwester Anna in Erscheinung trat. Enttäuscht ließ der Innenverteidiger die Schultern sinken. Ach, langsam wurde es doch lächerlich. Er sollte nicht auf ihn warten, es war besser so, wenn sie sich nicht mehr zu Gesicht zu bekamen. Sie würden streiten oder sich anschweigen, was anderes ging doch sowieso nicht. Warum also darauf lauern, dass Philipp doch wieder auftauchte?
Irritiert beobachtete er Schwester Anna, die sich einen Stuhl heran zog und ihn musterte.

„Was ist denn nun wieder vorgefallen?“

„Nichts“, winkte Holger ab, aber Schwester Anna glaubte ihm nicht. Das sah man ihr deutlich an.

Um keinen Blick mehr auf das forschende Gesicht der Krankenschwester erhaschen zu müssen, wandte er sich dem Gute Besserungs-Hasen zu. Lächelnd folgte Schwester Anna dem Gegenstand, dem Holger Aufmerksamkeit schenkte und drückte kurzerhand das Öhrchen des Hasen nach unten, wodurch das typische „Get well soon“ erklang.

„Soon...“, schnaubte Holger und senkte betroffen den Blick.


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