Kapitel 41 - Trost und Beistand



Philipp parkte den Wagen am Straßenrand und stieg aus. Er wartete auf Holger, ehe er das Auto abschloss und mit ihm zur Wohnung ging. Er war froh, dass es so dunkel war draußen, so sah niemand die roten Augen des Innenverteidigers und stellte keine dämlichen Fragen.
Fragen hatte Philipp auch. So viele… aber er stellte keine, er handelte nur. In Holgers Apartment dachte er einen Moment nach, deutete aber dann auf das Schlafzimmer. „Leg dich hin, ich komme gleich nach.“
Er wollte Holger zur Ruhe bringen und ihn wärmen. Erst jetzt merkte Philipp, wie kalt auch er war, wie sollte es dann Holger gehen? Er sah an sich hinab. Seine Hose war nass und dreckig. Zum Glück war es eben nicht am Regnen, wobei es zur Situation passen würde.

Holger widersprach nicht. Humpelte ohne Wiederworte ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Sein Blick fiel automatisch auf den großen Spiegel seines Kleiderschranks. Wie er es sich schon gedacht hatte. Er sah wirklich erbärmlich aus. Und noch nicht einmal jetzt waren seine Tränen vollständig getrocknet. Was musste sich Philipp jetzt von ihm denken? Holger wollte und versuchte auch nicht darüber nachzudenken. Die Antworten, auf die er spontan kam, fielen alles andere als glimpflich aus. War es falsch ihn nicht zurückgewiesen zu haben? Dann hätte er seine Tränen nicht gesehen und wäre ihm nicht so lange ausgesetzt gewesen. Holger ließ sich kraftlos auf dem Bett nieder und lehnte seine Krücken an die Wand. Er fühlte sich gefangen. Wie ein Vogel in einem Käfig aus Verzweiflung und aus Angst.

Seufzend ging der Kapitän in die Küche. Er selber würde sich jetzt einen Tee machen, aber es ging um Holger. Tee? Nein… ein heißer Kakao würde ihm sicher besser tun.
Ohne zu fragen suchte er eine Tasse, Milch, Kakaopulver und packte die Tasse in die Mikrowelle. Währenddessen nahm er sein Handy zur Hand. Was sollte er denn Claudia jetzt schreiben? Er würde heute Abend nicht mehr nach Hause kommen… er konnte Holger nicht alleine lassen…

//Das war nicht mein Plan, aber ich sitz grad bei Manu. Ein paar der anderen sind auch da. Ich werde das Angebot annehmen und hier bleiben heute Nacht. Sei mir nicht böse, aber unser Keeper ist ein Feierbiest :*//

Eine glatte Lüge! Oh war das bitter… er log seine Frau eiskalt an. Aber er wusste, dass sie es nicht verstehen würde. Vielleicht würden es sogar seine Kollegen nicht verstehen. Richtig verstehen tat Philipp es auch nicht… die Mikrowelle holte ihn aus seinen Gedanken. Er nahm den Kakao heraus, aber richtig heiß war er nicht, also noch mal rein.
Philipp stützte sich an der Arbeitsplatte ab und schaute aus dem Fenster auf die Straße. Ihm kamen die Tränen hoch, aber er unterdrückte sie. Fuhr sich unruhig über die Augen. Er wollte gerade nicht hier sein, er wünschte sich nicht hier sein zu müssen. Nicht aus diesen Gründen. Was sollte er tun? Er wusste es nicht… wie konnte er Holger helfen? Konnte er es überhaupt oder war er da der Falsche? Vielleicht ein Psychologe… oder dachte er da schon zu weit? Aber es war doch Kopfsache! Und wenn Holger psychisch so geschwächt war, würde er doch nie wieder auf die Beine kommen…
Philipp seufzte und wieder unterbrach die Mikrowelle seine Gedanken. Diesmal war der Kakao heiß genug. Er nahm ihn und ging zum Schlafzimmer. Ob Holger auf ihn gehört hatte und sich schon hingelegt hatte?

Unbeholfen wischte Holger sich übers Gesicht und merkte so erst richtig, wie feucht sein Ärmel war. Langsam schlich sich ein weiteres Gefühl bei ihm sein... War Scham das richtige Gefühl, was er Philipp gegenüber empfand? Es gab ein stärkeres Empfinden für den Kapitän, aber das spielte jetzt keine Rolle. Das durfte jetzt nicht relevant sein, denn es würde ihn nur noch trauriger als ohnehin schon stimmen.
Um das was er sich jetzt Gedanken machen musste, war nun mal wie es weiter gehen würde. Nicht im Hinblick auf seine Karriere. Die Antwort hatte er Philipp weinend auf dem Platz gegeben. Er dachte im Moment nur daran, wie dieser Abend verlaufen würde. Würde Philipp noch kurz bleiben? Die ganze Nacht über? Ein Teil von Holger wünschte sich genau das, der andere lehnte die Anwesenheit des Kapitäns kategorisch ab. Abwesend strich er leicht über die Bettdecke, hob sie kurzerhand an und darunter zu schlüpfen. Verstecken war gut. Holger zog die Decke komplett über sich und merkte immer noch wie er am ganzen Körper etwas zitterte. Konnte er sich denn nicht einfach mal beruhigen? Was sollte er aber auch erwarten, wenn seine Zukunft in den Sternen stand? Warum haute das Schicksal nur immer wieder weiter drauf? Holger achtete gar nicht darauf, dass Philipps Shirt unter dem Kopfkissen recht gut zu erkennen war und die Medaille immer noch in der Ecke verweilte. Jetzt, wo er die Arme leicht um seinen Körper geschlungen hatte und sich an der Bettdecke festklammerte, spürte er, wie sehr ihm der Halt von Philipp fehlte. Wie gut es ihm tat, dass er auch zufällig an der Säbener Straße vorbei geschaut und ihn entdeckt hatte. Wobei... Zufällig? Holger glaubte nicht an Zufall...

Als Philipp das Schlafzimmer betrat, sah er direkt, dass Holger sich unter der Bettdecke versteckt hatte. Vorsichtig stellte er die Tasse auf den Nachtschrank und setzte sich auf die Matratze. Langsam zog er die Bettdecke tiefer, damit zumindest Holgers Kopf zum Vorschein kam. Zärtlich strich er durch die blonden Haare.

Holger schloss instinktiv die Augen, als sich die Matratze senkte. Ob Philipp dann glauben würde, dass er schlief? Aber das war albern. Sofort als die Bettdecke weggezogen wurde, schlug der Innenverteidiger die Augen auf, drehte sich aber nicht um. Er sah nur geradeaus auf die blaugestrichenen Wände mit dem Wandspruch. ''Wer seine Träume der Wirklichkeit opfert, gibt sich für immer geschlagen'', schenkte er dem Text rein gedanklich Beachtung. Sollte das nicht eigentlich Mut machen, anstatt ihn runterzuziehen?

„Ich hab dir einen heißen Kakao gemacht“, sagte Philipp leise. „Trink ihn, er wird dir gut tun.“
Er zog die Bettdecke weiter nach unten, damit Holger nicht auf die Idee kam sich wieder darunter zu verstecken. Dabei fiel ihm auf, dass er ja immer noch seine Kleidung trug.
„Holger…“, er unterdrückte ein Seufzen und schlug die Decke komplett weg. „Zieh dich aus. Deine Kleidung ist doch nass und schmutzig. Ist dir kalt? Willst du noch unter die heiße Dusche?“
Oder bemutterte er ihn gerade zu sehr? Das wollte er ja nicht, er wollte sich doch nur kümmern, weil er sich Sorgen machte. Zu große Sorgen vermutlich, aber wie konnte er auch nicht? Holger lag so traurig mit diesen nassen Wangen und roten Augen vor ihm… da zog sich wieder alles in ihm zusammen.

Holger fühlte sich plötzlich dem Schutz der Decke entzogen, doch er versuchte erst gar nicht sie wieder überzuziehen. Auch das war kindisch. Philipp hatte ihn gerade eben schon an seiner mentalen Grenze erlebt, was sollte er dann noch vor ihm verstecken? Sein Herzklopfen erinnerte Holger wieder an etwas, was es zu verbergen galt. Seine Gefühle für ihn musste er verstecken, verdrängen und nach und nach vergessen. Das war doch blanker Irrsinn! Wie konnte sowas überhaupt passieren? Ach, er vergaß. Das Schicksal fragte ihn doch eh nicht.

Ohne nachzudenken, beugte Philipp sich nach unten und küsste seine Wange, strich danach sanft darüber. Als er sich wieder aufrichtete, erregte etwas seine Aufmerksamkeit. War das… ja, das war sein Shirt, oder? Warum lag es denn hier unter dem Kopfkissen? Philipp war verwirrt, aber er verdrängte alle Gedanken, die in ihm aufkommen wollten. Das war gerade nicht das Thema, das konnte er morgen fragen. Wenn er die Antwort überhaupt wissen wollte… warum verband er dieses T-Shirt direkt mit dem Kuss? Das war doch bescheuert.

Holger lag beinahe schon apathisch in diesem Bett, wurde von Philipp gestreichelt und sogar ein Kuss sprang für ihn heraus. Eigentlich genug um die Kälte, die ihn ihm herrschte, zu vertreiben.
„N-nein, mir ist nicht kalt“, sagte er dann endlich, stotterte etwas durch die brüchige Stimme. Zögerlich löste Holger seine Position und setzte sich auf. Den Blick zu Philipp vermied er, schaute stattdessen zum Nachttischchen und entdeckte die Tasse. Es war Holger selber nicht bewusst, aber ein leichtes Lächeln begann sich auf seinem Gesicht auszubreiten. Das war unheimlich süß von Philipp. Womit hatte er nur so einen Menschen wie ihn verdient?

Zufrieden stellte Philipp fest, dass Holger sich zumindest schon mal aufsetzte. Sogar ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
Ein gutes Gefühl machte sich in dem Kapitän breit. Er hatte immerhin das geschafft. Aber brachte nicht auch sonst seine bloße Anwesenheit Holger zum Lächeln? Zu oft hatten sie die Diskussion in Vail gehabt. Aber er wollte sie auch nicht wieder heraufbeschwören.
„Wo find ich denn was zum Schlafen in deinem Schrank?“, fragte Philipp. Aufmunternd sah er Holger an, grinste dann sogar leicht. „Also für dich und für mich. Ich werde nämlich nicht gehen. Heute Abend wirst du mich nicht los.“ Auch wenn es scherzhaft klingen sollte, so war es doch sein vollkommener Ernst.

Ohne eine Antwort abzuwarten, stand Philipp auf, wollte zum Schrank gehen, aber seine Aufmerksamkeit wurde auf etwas anderes gelenkt. Zaghaft bückte er sich und hob die Medaille auf. Er betrachtete sie einfach nur. War Holger so verbittert, dass er sie in eine Ecke warf? Aber konnte Philipp es ihm verübeln? Nein. In gewisser Weise verstand er ihn ja auch und… wenn er ehrlich war, konnte er das gar nicht verstehen. Also vielleicht verstehen, aber nicht vorstellen. Wie musste es sein, wenn die Mannschaft ohne einen die beste Saison aller Zeiten spielte? Die Meisterschaft holte, den Champions League-Pokal, den DFB-Pokal… das Triple.
Nachdenklich und vor allem traurig starrte er auf die Medaille in seiner Hand. Holger musste weit mehr ertragen als Philipp es sich bisher vorgestellt hatte. Es war kein Wunder, dass er irgendwann unter dieser Last zusammengebrochen war.

Überrascht schluckte Holger seine erste Reaktion runter. „Warum“ war wirklich eine blöde Frage in Anbetracht dessen, dass Philipp seinen Nervenzusammenbruch miterlebte. Machte er sich so große Sorgen um ihn, dass er heute bei ihm blieb und seine Familie ein weiteres Mal versetzte? Er nutzte die Gelegenheit als Philipp sich umdrehte, um zu antworten. „Ich freu mich, dass... du hier bleibst. Aber … ich will nicht, dass du dich verpflichtest fühlst... ich komm klar und -“ Er brach ab und beobachtete Philipp, der sich bückte und die Medaille aufhob. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in Holger breit.

Der Kapitän bekam die Worte sehr wohl mit, die Holger da voller Ehrlichkeit über seine Lippen brachte, aber er war gerade zu sehr in Gedanken um darauf reagieren zu können.

Holger blickte nur auf den Rücken des Kapitäns, der sich nicht rührte und starr das Schmuckstück zu begutachten schien. Was musste er jetzt darüber denken? „D-die ist mir runtergefallen“, log er und bewegte sich aus dem Bett. Die kurze Distanz bis zum Schrank benötigte er keine Krücken. Er öffnete dessen Türen und holte zwei Shirts heraus. Schlafen konnten sie ja in ihren Shorts. Ohne jedes weitere Wort entriss er Philipp die Medaille und legte sie auf eine der Kommoden. Er wollte nicht, dass er sie mit so einem traurigen Blick bedachte. Er reichte ihm eines der Shirts und setzte sich wieder aufs Bett.

Als er dann sagte, die Medaille wäre ihm nur runtergefallen, wollte Philipp protestieren, ließ es aber bleiben. Sie wussten beide, dass dem nicht so war und jetzt war definitiv der falsche Zeitpunkt für eine Diskussion.

„Du hättest für dich auch was zu trinken machen können“, merkte Holger dann leise an.

Dankend nahm Philipp das Shirt entgegen und folgte ihm dann mit seinem Blick.

„Ich fühle mich nicht verpflichtet“, ging Philipp auf die Worte von eben ein und ignorierte die Aussage gerade. „Also schon ein wenig, aber ich bin nicht hier, weil ich es muss, sondern weil ich es will. Du kommst nicht klar, Holger, das haben wir beide eben gesehen.“ Philipp setzte sich neben ihn aufs Bett und legte eine Hand auf seinen Oberschenkel.
„Ich glaube, es wurde höchste Zeit, dass das alles aus dir herausgebrochen ist. Es hilft nichts, wenn man so etwas immer weiter aufschiebt und verdrängt. Ich bin nur froh, dass ich dich da gefunden habe.“ Philipp legte seinen Arm nun um Holgers Schulter und zog ihn an sich. Strich wieder mal durch seine weichen Haare.
„Ich weiß, wie schwer es dir fällt Schwäche zu zeigen und zuzugeben, aber ich habe sie doch schon gesehen, dann lass es doch wenigstens zu, wenn ich dabei bin. Friss nicht alles in dich hinein, ich will nicht, dass es dich kaputt macht.“ Die letzten Worte waren nur noch geflüstert.

Philipp ging gar nicht auf seine letzten Worte ein, sondern fand die anderen Aussagen wohl interessanter. Holger senkte den Blick. Er verstand, warum er das Belanglose komplett ignorierte und sich stattdessen mit dem Ernsten befasste. Sie hatten sich zu oft an Unwichtigen festgehalten und deshalb gestritten. Holger wusste zwar, dass Philipp mit all seinen Worten recht hatte, aber er konnte ihm nicht zustimmen. Irgendetwas sträubte sich da noch. Die Angst eine Diskussion heraufzubeschwören war plötzlich wieder da. Er konnte sie nicht zurückdrängen. Genauso wenig wie er es schaffte die Tränen wieder einmal zurückzuhalten, als Philipp ihn so dicht an sich zog und mit seiner Hand beruhigend durch seine Haare streichelte. Er tat das mittlerweile unglaublich oft, es war eine schöne Geste, die Holger meistens beruhigte. „Aber deine Familie...“ Er ließ den Satz offen. Philipp würde es verstehen. Schließlich ließ er sie schon wieder allein. Wegen ihm.

„Meine Familie wird heute auch ohne mich auskommen. Du bist wichtiger, Holger. Für nichts in der Welt würde ich dich heute alleine lassen“, flüsterte Philipp. Wie könnte er denn auch? Es würde ihm das Herz zerreißen, ihn hier alleine zurücklassen zu müssen.

War es wirklich so? War er wichtiger? Zumindest jetzt im Moment? Es klang so unwirklich für Holger, da er sich eben genau so etwas wünschte und sich nicht vorstellen konnte, dass dem mal so sein würde. Obwohl er sich das in einer anderen Situation mehr gewünscht hätte, die nicht überschattet war von Scham, Schuldgefühlen, Angst und Zweifel.
„Warum warst du an der Säbener Straße?“, traute er sich die Frage kleinlaut zu stellen und unterdrückte ein Schluchzen.

„Ich war hier bei dir, aber du warst nicht da. Ich dachte, dass du vielleicht noch eine Behandlung hast und hab es einfach versucht. Hätte ich dich da nicht gefunden, hätte ich weitergesucht“, erklärte er Holger ruhig. Eigentlich war es Zufall, dass er zum Trainingsgelände gefahren ist… oder?

Holger brauchte nicht mehr zu fragen, warum Philipp nach ihm gesucht hatte. Die Antwort lag auf der Hand und auch wenn der Grund traurig war, mischte sich doch ein kleines Gefühl der Freude dazu, das eigentlich falsch war in Verbindung zu den Sorgen, die Philipp sich um ihn machte.

Philipps letzten Worte, die er nur noch ganz leise flüsterte, verstärkten dieses leise schluchzen noch und zeigten ihm nur zu deutlich, was für ein bescheuerte Tag heute war. Dass der Tag der Triple-Feier so enden würde, hätte Holger nicht gedacht. Philipp sicher auch nicht. Sie wollten doch zusammen auf dem Balkon feiern.
Holger wusste nicht, ob er seine Arme nur aus einem Impuls heraus um Philipp schlang und ihn umständlich durch die Position in eine Umarmung zog, aber er wollte diesen Halt jetzt spüren. Die Tränen zeigten ihm, dass er ihn jetzt brauchte. „Danke“, schluchzte er unterdrückt. „Du bist für mich da, obwohl ich dir versprochen hab mich zusammenzureißen. Ich wollte dich nicht enttäuschen... das hast du einfach nicht verdient.“

Als Holger plötzlich die Arme um ihn schlang, konnte Philipp nur das Gleiche tun. Beruhigend strich er über seinen Rücken. Aber die Worte schmerzten. Er hatte Recht. Diese Eingebung, die er da hatte, dass er schuld daran sein könnte… das hatte er doch nicht gewollt!
„Das wollte ich nicht“, flüsterte er. „Das wollte ich damit nicht bezwecken.“ Er hatte durch seine Aussage wirklich ein Fass geöffnet, was Holger gefüllt hatte, um ihn nicht zu enttäuschen. Was war er nur für ein Freund?
„Es tut mir leid“, hauchte er. „Ich wollte dir helfen, aber ich hab alles nur schlimmer gemacht. Du enttäuscht mich nicht damit. Wenn es nicht geht, dann reiß dich nicht zusammen. Ich will, dass es dir gut geht und nicht, dass du dich selber kaputt machst… wegen mir.“
Wieder fand Philipps Hand den Weg in seine Haare. Er hinterfragte es gar nicht, es war ja auch egal, oder? Er hatte das Gefühl, dass es Holger gut tat, sonst hätte er schon was gesagt.

Während er über seinen Rücken strich, sorgten die Worte des Kapitäns dafür, dass Holger augenblicklich den Kopf schüttelte. Kam der jetzt allen ernstes auf die Idee, dass er Schuld daran war? Philipp war der Letzte, dem er irgendwelche Schuld an seinem Zustand geben würde. Er hatte sich zwar für ihn bemüht sich nicht mehr negativ zu äußern und seine Stimmungsschwankungen unter Kontrolle zu bringen, aber er tat es gern für ihn. Er wusste ja selbst, dass er sich ändern musste. Dass das letztlich in einem Rückschritt enden würde, konnte man doch nicht ahnen.
„Der einzige, der sich das vorwerfen muss... bin ich“, hauchte er. Holger erinnerte sich noch gut an seine erste Laufeinheit. Er war so voller Euphorie und Vorfreude wieder mit den anderen trainieren zu dürfen, dass er es vielleicht sogar etwas übertrieb... aber darüber schwieg er bislang. Dr. Müller-Wohlfahrt meinte zwar, dass das nicht dafür verantwortlich war, anderseits äußerte er sich auch nicht dazu, was Schuld am erneuten Versagen des Kreuzbandes war. Natürlich spielte die OP, in der er das Narbengewebe entfernen ließ, noch mit rein, aber Holger ahnte, dass er nicht ganz unschuldig an der zweiten Ruptur war. Woher hätte er denn auch ahnen sollen, dass die Sehnen noch nicht richtig festgewachsen waren? Gut, die Schmerzen waren ein Hinweis, aber das es dann tatsächlich soweit kommen würde, hätte Holger sich nie vorstellen können.
Holger verstärkte die Umarmung. „Hör bitte auf dich zu entschuldigen. Ich weiß nicht mal, wie ich das alles wieder gutmachen soll“, flüsterte er ihm zu. „Du bist der beste Freund, den man sich wünschen kann.“ Seine Augen waren glasig, presste die Lider zusammen, wodurch die vereinzelten Tränen nach unten tropften. Er bereute diesen Satz keineswegs. Konnte er Philipp so zeigen, dass er nichts falsch gemacht hatte? Ganz im Gegenteil sogar!

Philipp schwieg. Was sollten sie ausgerechnet jetzt diskutieren, wer warum Schuld hatte? Das war absolut der falsche Augenblick. Holger konnte eh sagen, was er wollte. Der Kapitän wusste einfach, dass er nicht ganz unschuldig war. Aber er selber versuchte auch den Gedanken zu verdrängen. Er würde sich nur selber runterziehen und gerade jetzt musste er stark sein für Holger.
Ein seliges, aber irgendwie auch trauriges Lächeln legte sich auf seine Lippen und er drehte seinen Kopf, hauchte ihm einen Kuss auf die Halsbeuge. „Du musst nichts wieder gutmachen“, erklärte er. Ihm lag auf der Zunge, dass er einfach gesund werden könnte, aber das sparte er sich. Nicht jetzt. Er würde ihn unter Druck setzen und vielleicht auch in Zweifel stürzen, weil Holger Angst haben würde, dass er das nicht einlösen könnte.
Und der letzte Satz? Was sollte er erwidern? Es tat gut das zu hören und in gewisser Weise war er glücklich, aber... ja... was sagte man da? Bestimmt nicht, dass er glücklich war. Vor allem kam es Holger doch sicher nur so vor, weil er mit in Vail war. Konnte er da was für? Nein. Wenn Mario und Bastian wieder bei ihm sein würden, änderte sich das sicher wieder. Das war ja auch nicht schlimm, aber irgendwie... erklären konnte Philipp es nicht, aber er wollte weiter mit ihm Zeit verbringen, für ihn da sein. Er wollte Holger nicht mehr alleine lassen.

Plötzlich fiel Holgers Blick aber auf das Kissen und somit auch auf das Shirt. Geschockt riss er seine Augen auf. Hatte Philipp es schon entdeckt? Der würde ihn doch für komplett bescheuert halten! Oder war der Zug schon längst abgefahren nach seinem Zusammenbruch? Egal, er musste es vertuschen. Er löste den Griff um Philipp leicht und versuchte so unbemerkt wie möglich seine Hand auszustrecken, um das Shirt zu fassen zu kriegen. Das gelang ihm sogar, wodurch er das Oberteil weiter unter das Kissen schob, damit man es nicht mehr sehen konnte. Gefahr gebannt, oder?

„Komm“, sanft drückte Philipp ihn von sich weg, strich über seine nassen Wangen und lächelte ihn an, „wir ziehen uns erst mal um und legen uns hin. Außerdem hast du noch deinen Kakao.“
Philipp stand auf und machte den Anfang, schlüpfte aus der Jeans und dem T-Shirt. Dann griff er nach dem Shirt, was Holger ihm eben gegeben hatte. Dabei fiel sein Blick auf das Kopfkissen unter dem eben noch sein Kaffee-Oberteil lag und er hielt in seiner Bewegung inne. Wo war es denn hin? Oder hatte er es sich nur eingebildet? So langsam sah er auch schon Gespenster.

Holger fasste es nicht unbedingt als schlechtes Zeichen auf, dass Philipp keinen Ton von sich gab. Er wusste aber nicht, wie er den weiteren Kuss, dieses mal auf die Halsbeuge, interpretieren sollte. Was sollten diese ganzen Küsse? Sie machten es doch noch viel schwerer... Holger konnte Philipp aber keinen Vorwurf machen, der konnte ja nicht ahnen, dass der Innenverteidiger weit mehr fühlte, als er vermutete.

Philipp zog also Holgers Shirt an und musste schmunzeln. „Kauf dir mal kleinere Kleidung“, versuchte er sich an einem Witz.

Holger hatte diesen Körper ja schon oft gesehen, aber diese Anziehungskraft, die er mittlerweile auf ihn ausübte, nahm außergewöhnliche Formen an. Gekonnt sah der Blonde weg und griff zu seinem Shirt.

„Ich bin eben noch für kleine Jungs“, entschuldigte er sich dann und verließ Holgers Schlafzimmer in Richtung Badezimmer. Dort stellte er sich vor den Spiegel und musterte sich selbst. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie das alles an ihm nagte. Der wenige Schlaf und dieses Chaos... er verrichtete, weswegen er hier war und spritzte sich dann etwas Wasser ins Gesicht. Wirklich besser sah er nicht aus, aber Holger würde das wohl kaum stören heute Abend... oder eher heute Nacht.

Würden sie etwa zusammen im seinem Bett schlafen? War es Vorfreude oder Aufregung, was sich in ihm breit machte? Vielleicht beides. Auf jeden Fall gehörte keines der Gefühle da hin.
Die Oberteile waren schnell getauscht, nur das Ausziehen der Hose bereitete etwas mehr Schwierigkeiten. Er schaffte es aber letztendlich doch noch, bevor Philipp zurück kam. Holger setzte sich ins Bett und zog die Decke bis zur Hälfte über seinen Körper, ehe er zu der Tasse Kakao griff. Sie hatte gerade die richtige Temperatur erreicht und schmeckte echt lecker. Während er das Getränk genoss, stellte er sich die Frage, wie es weitergehen würde. Am nächsten Tag, die nächsten Wochen? Alles stand in den Sternen. Irgendwie war er froh morgen noch nicht zur Reha zu müssen, aber wenn er ehrlich war, wollte er im Moment gar nicht mehr hin. Er meinte all das, was er Philipp unter Tränen mitteilte, vollkommen ernst. Aber er wollte diesen Abend nicht mehr darüber reden, der Kapitän brauchte doch auch eine Pause und eine Diskussion brachte sie nicht weiter. War es wieder so weit? Er wollte sich für ihn zusammenreißen und es blieb eine Frage der Zeit, wie lange es dieses mal gut gehen würde.
Holger ließ seinen Oberkörper seufzend tiefer rutschen und hielt die Tasse, die angenehme Wärme spendete, mit seinen Händen fest umschlossen. Er konnte nichts dagegen tun, aber die Schuldgefühle wuchsen. Er wusste doch, wie sehr Philipp sich über das Triple freute. Er war Kapitän der ersten deutschen Triple-Mannschaft! Wie konnte man sich da auch nicht besonders freuen? Aber nein, Holger musste Philipp auch das kaputt machen.

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