Kapitel 15 - Eine Medaille hat immer zwei Seiten


„Wenn du mir noch mehr Geschenke machst, wird bald mal eine Einladung zum Essen fällig“, sagte Holger noch während der innigen Umarmung.

Als sie sich voneinander lösten, schlug Philipp spielerisch gegen seinen Oberarm. „Wenn du einen Abend keine Lust auf das Krankenhausessen hast, können wir ja in ein Restaurant in der Nähe gehen. Oder bekommst du besonderes Essen hier? Haben sie dich auf Diät gesetzt, damit du nicht zu fett wirst?“

Diät? Fett? Philipp musste dringend an seiner Art Witze zu reißen arbeiten oder sich ein anderes Thema suchen. Er würde sicher nicht zunehmen, auch wenn er zehn Monate auf intensives Lauftraining verzichten musste... Holger stoppte seine Gedanken. In diesen gedanklichen Teufelskreis wollte er jetzt nicht schon wieder abrutschten! Entschied sich automatisch dafür nichts dazu zu sagen.

„Wollen wir heute noch in die Stadt? Ich würd sie mir auch gern mal ansehen.“ Mit Krücken zwar nicht ganz so toll, aber da musste er eben jetzt mit leben. Seit wann zeigte er sich überhaupt so unternehmungslustig? In München mit Freunden unternahm er gerne was, aber seit er hier war, lungerte er eigentlich nur herum. Tat Philipps Anwesenheit ihm wirklich so gut?

Philipp reagierte überrascht aufgrund seines Vorschlags. „Also… wenn du nicht böse bist, würde ich das lieber morgen machen. Ich bin ziemlich k.o. vom Flug und muss heute nicht noch durch die Stadt laufen.Wir können ja morgen früh dann direkt los, was meinst du?“

Holger nickte verständnisvoll. Er kannte es selbst, vor allem musste Philipp einen ziemlichen Jetlag haben. Schließlich waren es etwa acht Stunden Unterschied zu Deutschland. „Kein Problem, gehen wir einfach morgen.“


Langsam brach die Dämmerung herein und Holger musste sich die Frage stellen, ob Philipp wohl gleich ins Hotel zurück gehen wollte. Er konnte sie auch einfach dem Kapitän stellen, dann hätte er Gewissheit.
„Dann willst du bestimmt auch gleich zurück ins Hotel, oder?“ Ohne es zu wollen, klang er irgendwie traurig. Lieber wäre es ihm, wenn er noch ein bisschen bleiben würde. Am besten gleich über Nacht, aber den Gedanken konnte er sich aus dem Kopf schlagen.

Der Blonde sah aus dem Fenster und automatisch folgte Philipp seinem Blick. Die Sonne senkte sich langsam, aber stetig.
„Gleich, ja, aber noch habe ich ja etwas Besuchszeit“, erklärte er. „Die will ich auch ausnutzen, immerhin bin ich deshalb ja hier. Um bei dir zu sein und nicht um das Leben im Hotel zu genießen.“

„Also Besuchszeit geht bis acht... aber so genau achtet da auch niemand drauf, wenn du länger bleibst oder so...“ Er ließ den Satz einfach mal im Raum stehen und strich beiläufig über die Bettdecke. Klang irgendwie seltsam, wenn Holger so darüber nachdachte. Aber es sagte das aus, was er nunmal dachte und wollte. Philipp könnte ruhig länger bleiben. Verständlich war aber auch, dass er Ruhe nach dem anstrengenden Flug brauchte. Leider.

„Dann bleibe ich bis mich jemand rausschmeißt oder bis ich hundemüde bin“, Philipp zuckte mit den Schultern. „Oder bis du keine Lust mehr auf mich hast und deine Ruhe haben willst“, hängte er grinsend hintendran. Ob Holger die letzten Tage genossen hatte? So ohne den Kapitän? Endlich konnte er mal Ruhe haben, immerhin war er ja von Anfang an immer da gewesen.
„Allerdings soll ich zusehen, dass ich fit bleibe und werde wohl jetzt jeden Morgen erst eine Runde Joggen gehen“, Philipp lachte leicht. „Diesmal hat Jupp sich selber wohl auch vorbereitet und festgestellt, dass es besser ist, wenn ich die ganzen Tage nicht nur faul neben dir am Bett sitze, sondern etwas Sport treibe.“

Grinsend sah Holger ihn an. Er würde selber gerne mit joggen, aber den Wunsch zu äußern, wäre albern. „War wohl nichts mit bezahlten, angenehmen Urlaub“, scherzte er. Obwohl man das wohl weniger Urlaub nennen konnte, wenn man Zeit mit ihm verbringen musste. „Dann kann ich ja gespannt sein, ob sich Jupp bei mir erkundigt, ob du auch regelmäßig und fleißig Sport treibst.“

Philipp lachte leicht über Holgers Worte und seufzte theatralisch. „Ja, wenn ich das vorher gewusst hätte, dann hätte ich mir das echt überlegt.“
„Du kannst ihm ja einfach sagen, ich wäre jeden Tag laufen gewesen“, grinste Philipp. Nein, er würde es wirklich tun. Immerhin war es ja auch schlecht für ihn, wenn er Samstag in Berlin japsend über den Platz rennen würde, nur, weil er eine Woche total faul war.

„Ach, kann ich das?“, erwiderte Holger lachend. „Nein, mein Lieber. Du gehst morgens joggen. Ich will ja nicht, dass du in Berlin eine schlechte Figur abgibst und Jupp sich dann bei mir beschwert.“

Philipp setzte sich nun leicht auf die Matratze und nicht nur auf den Stuhl, was Holger überrascht beobachtete.

„Mach die Augen zu“, forderte der Kapitän. Er fand, es war nun der richtige Moment dafür.

„Was?“ Irritiert runzelte Holger die Stirn. Was sollte das denn jetzt? Noch eine Überraschung? Widerwillig schloss er die Augen dann doch noch. Allerdings bemerkte er die Aufregung und Vorfreude, die er plötzlich verspürte. Was ihn wohl jetzt erwarten würde?

Lächelnd holte Philipp die Medaille aus seiner Hosentasche, beugte sich vor, hängte sie ihm um und konnte nicht widerstehen ihm einen Kuss aufs Haar zu drücken.

Holger verkniff sich einen Witz dazu, als er merkte, dass Philipp ihm etwas um den Hals hing. Schließlich waren sie doch noch nicht soweit, dass er ihm sogar Schmuck schenken sollte. Auch bei dem Kuss auf seine Stirn wollte er schon nachfragen, ob es diesesmal „Mit freundlichen Grüßen von Mario“ oder irgendjemand anderen hieß. Aber diese Geste kam von Philipp, daran bestand eigentlich kein Zweifel mehr.

„Du hast sie dir verdient. Du bist Sieger genau wie wir. Herzlichen Glückwunsch, Holger.“
Philipp sah in die nun geöffneten Augen des Innenverteidigers. Tiefes Blau blickte ihm entgegen. Eine wunderschöne Farbe, wenn man Philipp fragte. Immer noch lächelte er einfach nur und hoffte inständig, dass Holger sich freute. Er wollte ihm dadurch nicht wehtun. Aber könnte man es ihm verübeln, wenn er traurig wurde deswegen und die Medaille sogar gar nicht haben wollte?

Bei diesen Worten war dem Innenverteidiger aber sofort klar, um welchen Schmuck es sich handelte. Sofort öffnete er die Augen und blickte in Philipps lächelndes Gesicht, ehe er sich die Medaille um seinen Hals näher besah. Zaghaft fasste er das Gold an, studierte die Gravur und ließ sie dann wieder sinken.
„Wow...“ Richtig euphorisch klang das leider nicht, auch wenn Holger das geplant gehabt hätte. Es war echt nett von Philipp die Medaille mitzubringen, auch wenn er so gut wie gar nicht mitwirken konnte, um verdient den Titel CL-Sieger 2013 zu tragen.
„Ich freu mich... wirklich drüber.“ Holger sah von der Medaille zu Philipp, versuchte sich an einem aufrichtigen Lächeln, stattdessen merkte er zum wiederholten Male wie er seine Lippen aufeinander pressen musste, um nicht zu schluchzen. Was hatte er denn gewonnen? Zehn Monate Auszeit und vielleicht sogar sein Karriereende? Ja, dafür sollte man ihm wirklich eine Medaille verleihen. Für den größten Pechvogel weit und breit. Wäre das hier ein Märchen, wäre er eindeutig Pechmarie mit einer goldenen Medaille um den Hals, die ihm Glücksmarie alias Philipp ironischerweise um den Hals hängte.

Holger sah ihn an und Philipp kaufte ihm diese Aussage nicht ab. Vielleicht wollte er lächeln, aber dem war nicht so. Er presste die Lippen aufeinander. Hatte er ihn zum Weinen gebracht? Was sollte er denn tun? Irgendwie war alles was er machte falsch. Zumindest erschien es ihm gerade so.
Er schwieg erst mal. Wusste nicht, was er sagen sollte. Das fröhliche Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Traurig schaute er seinen Kollegen nun an.

Holger schaute immer mal wieder zu Philipp auf. Eigentlich müsste er ihn jetzt wieder vom Bett stoßen, damit er ihn nicht wieder dabei beobachten konnte, wie er losheulte wegen diesem ganzen Mist, der ihm passierte.
„Es ist nur schade, dass ich kaum Champions-League Spiele bestreiten konnte“, versuchte er irgendwie abzulenken und schob einen Witz hinterher: „Dabei mochte ich das schwarze Trikot so gern.“ Passte eben perfekt zu ihm. Pech war nun mal schwarz.

„Was kann ich tun?“ Philipp ging auf das Trikot gar nicht näher ein. „Ich hab gehofft, dir damit eine Freude zu bereiten, aber du siehst alles andere als erfreut aus. Ich verstehe ja, dass du dich nicht so freuen kannst, wie vielleicht Basti oder Mario, aber… was soll ich denn sonst tun, um dir eine Freude zu bereiten? Ich will dich nicht traurig sehen. Ich will, dass du lächeln kannst. Und das nicht nur, weil du meine dämliche Visage siehst.“ Er griff nach Holgers Hand. Es sollte nicht nur seine Anwesenheit Holger zum Lachen bringen, sondern auch seine Taten. Denn seine bloße Gegenwart konnte die ganzen dummen Fehler seiner Handlungen nicht wettmachen. Oder?

Reichte es denn nicht, wenn Holger glücklich lächelte, wenn er ihn sah? Über das Gute Besserungs-Häschen hatte er sich auch gefreut, also war es nicht nur seine bloße Anwesenheit, die etwas ausrichten konnte. „Du kannst nichts tun“, murmelte er. „Niemand kann das.“ Und schon wieder begann er sich in diesem gedanklichen Teufelskreis zu verfangen.

Diese beiden Sätze schmerzten. Philipp verstand ihn ja, aber er wollte so gerne was tun. Ihm so gerne helfen…

„Ich freu mich doch drüber.“ Holger verdrängte für einen Moment seine dämlichen Gedanken und überwand sich zu einem kurzen Lächeln.
„E-es ist … eben zurzeit alles so schwierig“, stammelte er, versuchte sich zu erklären. Er wollte Philipp nicht ständig enttäuschen. Der Kapitän gab sich so viel Mühe und was machte Holger? Nichts außer schlechte Laune verbreiten.
„Es reicht doch, wenn ich mich über deine dämliche Visage freue“, zitierte er ihn müde lächelnd und blickte auf ihre Hände. Diese Geste genügte, um dem blonden Verteidiger ein ungezwungenes Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Genau diesen Halt brauchte er jetzt in dieser schweren Zeit.

„Na ja… es ist ja eigentlich nicht nur meine Visage.“ Philipp grinste etwas. „Immerhin hast du eben auch über Witze über mich lachen können.“ Er lachte sogar kurz. Irgendwie war das bescheuert. „Wie lange ward ihr eigentlich schon da und habt über mich gelacht?“, fragte er aus reiner Neugier. Er war nicht böse deswegen. Wie denn auch? War doch eigentlich schön, dass er Holger auch so zum Lachen bringen konnte. Und wer konnte das schon von sich behaupten?


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