Kapitel 24 - Vorwürfe



Am nächsten Morgen stand Holger relativ früh auf und war schon vorher wach, als das Personal ihn hätte wecken können. Nach dem Duschen und dem Frühstück blickte er prüfend aus dem Fenster, während er sich an den Tisch neben dem Sessel gesetzt hatte. Es regnete zum Glück nicht, aber einem Bericht zufolge sollte sich die gestrige Wetterlage wiederholen.
Sollten sie also besser gleich in der Klinik bleiben? Während er rätselte, klingelte das Handy und Holger wusste, dass er das Gespräch besser annehmen sollte. Schließlich handelte es sich dieses mal nicht um Mario, den er einfach ignorieren konnte. Nein, Jupp höchstpersönlich meldete sich.

„Guten Morgen, Trainer“, begrüßte er ihn. Erst jetzt fiel ihm ein, dass Deutschland ja schon acht Stunden weiter war. „Guten Nachmittag“, korrigierte er sich.

„Wie geht’s dir, Holger?“

„Naja, man schlägt sich so durch.“ Er hasste diese Frage.

„Halt den Kopf hoch, das wird alles wieder. Aber es braucht Zeit. Außerdem weißt du, dass die gesamte Mannschaft hinter dir steht.“

„Das tut gut zu wissen in dieser Zeit.“

„Und wie geht es Philipp? Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, dass ich dir ihn geschickt habe.“ Jupp lachte.

„Dem geht’s, denke ich, auch gut. Müsste grad beim Joggen sein.“

„Dann hält er sich also an meine Anweisung? Sehr gut, aber was anderes hab ich von ihm auch nicht erwartet.“

Die beiden redeten noch über ein paar belanglose Dinge, aber auch über die Neuigkeiten, die Dr. Steadman schon nach München geschickt hatte, ehe sie das Gespräch beendeten.


Am nächsten Morgen wurde Philipp wie immer von seinem Handy geweckt. Er drückte auf Schlummern und döste noch zehn Minuten, ehe es sich wieder zu Wort meldete. Diesmal stellte er den Wecker ganz aus und griff es sich. Ein paar neue Nachrichten, neue E-Mails… aber nichts von Holger. Na gut, was hätte er auch auf die SMS antworten sollen?
Philipp schälte sich aus dem Bett, machte sich fertig, zog sich seine Sportklamotten an und ging Joggen. Die Sonne strahlte am Himmel, aber am Horizont zogen die ersten Wolken auf. Wenn die bald näherkamen, würde es wohl wirklich auf ein Brettspiel hinauslaufen.

Der Bayernspieler bemühte sich, während er durch den Park joggte, nicht an den Kuss zu denken, aber irgendwie klappte das nicht unbedingt so, wie er sich das vorgestellt hatte. Immer wieder dachte er daran zurück und je intensiver er die Gedanken zuließ, desto intensiver wurde dieses seltsame Gefühl in seiner Magengegend. Er konnte es sich nicht erklären. Er konnte nicht mal sagen, ob es gut oder schlecht war. War es die Aufregung gleich wieder auf Holger zu treffen oder die Angst, dass er es nicht vor Claudia verheimlichen konnte? Vielleicht war es auch was ganz anderes…

Nach gut einer Stunde war er wieder zurück im Hotel, duschte, entschied sich diesmal bewusst gegen ein weißes T-Shirt und ging dann runter zum Frühstück. Noch währenddessen bemerkte er, wie weiter dunkle Wolken am Himmel entlang zogen. Sollte es ernsthaft noch regnen heute? Na solange das der einzige Tag war… wobei heute Mittwoch war und morgenfrüh würde er schon wieder zurückfliegen. Ach ja… ungern ließ er Holger zurück, aber sie wollten schließlich auch das Triple gewinnen und zu Holger konnte er immer noch zurück.


Holger überflog sämtliche Nachrichten auf seinem Tablet, bevor er wieder durch das Klingeln seines Handys gestört wurde. Mario ließ einfach nicht locker. Aber es war auch falsch ihm jetzt dafür die Schuld zu geben, dass das mit Philipp gestern aus dem Ruder gelaufen war.

„Mario“, sagte er nur, als er abhob. Intelligente Feststellung, aber danach ihn überschwänglich zu begrüßen, war ihm nicht.

„Hey Holger, ich hab dich gestern nochmal versucht anzurufen, wegen...“ Er brach kurz ab und fing anders an, „Also ehrlich gesagt, versteh ich nur Bahnhof, was da zwischen Pippo und dir abläuft, aber wenn ich gestern irgendwas falsches gesagt oder getan habe, tut es mir Leid. Philipp hat mich gestern nämlich auch noch angerufen und meinte, dass du alleine im Regen rumläufst. Was soll das denn? Legst du es etwa drauf an krank zu werden? Oder wollte dir Philipp nicht helfen?“

Holger merkte deutlich, dass Mario vollkommen verwirrt war. Aber das war der Innenverteidiger auch. Philipp rief den Stürmer an? Warum?

„Nein, wir hatten eben eine Meinungsverschiedenheit und... ich wollte alleine zur Klinik zurück gehen. Jetzt ist aber wieder alles in Ordnung, also mach dir keinen Kopf. Warum hat Philipp dich angerufen?“

Ein Seufzen am anderen Ende der Leitung.

„Mario!“

„Er wollte wissen, wer die SMS geschrieben hat. Wobei ich gar nicht weiß, um welche SMS es überhaupt geht... Pippo meinte, ich habe dir eine geschrieben, die du dann in deinem Namen an ihn weiter geleitet hast.“

Also war es doch so, dass Philipp daran zweifelte, dass diese Worte von ihm gekommen waren. Nachdenklich starrte Holger auf die Tischplatte vor sich, während er überlegte, was er Mario jetzt antworten sollte.


Nach dem Frühstück machte Philipp sich direkt auf den Weg zum Krankenhaus. Handy und Schlüssel hatte er ja bei sich.
Als er auf die Straße trat, verdrängte die Sonne gerade die dunklen Wolken. Dann konnten sie ja doch rausgehen. Philipp hielt die Hand vor die Stirn und da fiel ihm auf was er vergessen hatte. Schnell lief er noch mal hoch ins Zimmer und holte die Sonnenbrille.

Als er dann etwas später die Klinik betrat, ging er direkt zu Holger ins Zimmer. Er klopfte kurz und trat dann ein.

Holger wollte Mario gerade antworten, setzte schon zum Reden an, da klopfte es kurz an der Tür und schon erschien Philipp auf der Bildfläche.

„Guten Morgen, wir können ja doch… oh, sorry.“ Philipp stutzte als er sah, dass Holger am telefonieren war und zeigte auf die Tür.
„Soll ich draußen warten?“

Holger schüttelte den Kopf und winkte ab. Das war nicht nötig, das Gespräch würde sowieso gleich enden.

„Ich meld mich dann heute oder morgen wieder, okay? - Tschüß.“

Gespräch beendet, jetzt konnte Holger sich Philipp zuwenden. Ob er ihn darauf ansprechen sollte, dass er ihn doch ruhig selber hätte fragen können, wer die SMS geschrieben hatte? Würde das dann wieder zu Streitigkeiten führen? Vermutlich schon. Also ließ Holger es bleiben und warf einen prüfenden Blick aus dem Fenster. „Dann können wir ja jetzt in den Park.“ Sollte es wegen des gestrigen Kusses seltsam zwischen ihnen sein?

Okay? Er war etwas überrascht als Holger das Gespräch so plötzlich beendete, aber gut, musste er ja wissen. Wer das wohl gewesen war?
Auf Holgers Aussage hin nickte Philipp direkt. „Ja, das sollten wir auch sofort machen, weil immer mal wieder dunkle Wolken vorbeiziehen. Heute Nachmittag können wir uns ja immer noch in den Aufenthaltsraum setzen und einen Kaffee trinken oder so“, schlug er vor. Dann zögerte Philipp. Sollte er Holger erst fragen, ob er den Rollstuhl haben wollte? Aber er würde ihn doch eh nicht freiwillig nehmen, oder?

Holger nickte. Klang nach einem guten Plan, jetzt in den Park zu gehen und sich nachher, wenn es tatsächlich regnen sollte, in den Aufenthaltsraum zu setzen.

„Kletter du schon mal aus dem Sessel und ich…“ – in dem Moment ging die Tür auf.

„Guten Morgen die Herrschaften!“ Schwester Anna kam mit dem Rollstuhl zusammen ins Zimmer. Sie lächelte wie immer eigentlich und strahlte die beiden Fußballer regelrecht an.

Holger verdrehte beim Anblick des Rollstuhls sofort die Augen. Warum kam die eigentlich genau zu solchen Momenten rein, in denen man sie eigentlich weniger erwartete oder auch gebrauchen konnte? Er mochte sie, aber mit welcher Selbstverständlichkeit sie den Rollstuhl vor sich herschob, nervte ihn. Philipp hätte bestimmt heute mal nichts gesagt.

„Sie wollen doch sicher wieder raus, oder? Es soll erst heute Nachmittag regnen, haben sie vorhin gesagt. Hoffen wir mal, dass es stimmt. Aber noch kann man die Sonne ja genießen und Sie beide sind nicht sonderlich braun. Sie sollten wirklich Sonne tanken. Also viel Spaß.“ Und schon war sie wieder weg.

Irritiert sah Philipp von Holger zum Rollstuhl und wieder zurück. „Gut, dann würde ich sagen, können wir direkt los, oder?“

„Hm“, brummte Holger zustimmend.

Schwester Anna war Philipp fast schon unheimlich. Aber im positiven Sinne. Sie war wirklich so etwas wie die gute Seele dieses Krankenhauses.
„Kann ich dir helfen oder geht’s alleine?“, fragte er vorsichtig nach. Hoffentlich war das nicht schon wieder zu viel und Holger würde sauer werden.

„Geht schon“, winkte dieser ab und humpelte zum Rollstuhl. Was sollte diese Frage denn? Er war kein Pflegefall, den man in den Rollstuhl hieven musste. Aber Holger wollte Philipp wenigstens an seinem letzten Tag hier den Gefallen tun und erstmal nicht rumzicken. Der Tag war schließlich noch lang genug, um das, wenn nötig, nachzuholen.

War klar, dass Holger nicht begeistert war, aber wenigstens diskutierte er nicht. Vielleicht hatte er ja endlich verstanden, dass es dabei um seine Gesundheit ging und nicht darum ihn zu ärgern.
Warum sagte Holger eigentlich nichts wegen dem Kuss? Na, aber wenn der Jüngere nichts sagte, würde er auch nichts sagen, beschloss Philipp. Was sollte man auch groß darüber reden? Lieber schweigen, bevor es ganz peinlich werden würde.

Philipp befestigte die Krücken hinten am Rollstuhl und schob Holger aus dem Zimmer.

„Jupp hat übrigens nach dir gefragt. Ich hab ihm gesagt, dass du fleißig joggen gehst und auch sonst alles in Ordnung ist. War doch okay, oder?“

„Er hat ernsthaft nachgefragt, ob ich joggen gehe? Aber klar, war okay, dass du das gesagt hast. Ist ja nun mal auch die Wahrheit.“
Er hatte den Trainer eigentlich anders eingeschätzt. Oder hatte er das bloß so aus Spaß gefragt? Na, war ja auch egal.

„Er fragte eigentlich eher, wie es dir geht. Also keine Sorge, direkt nachgefragt hat er nicht“, erzählte der Innenverteidiger, „Und er meinte auch, dass es ihn gewundert hätte, wenn du seine Anweisungen missachtest.“

„Ach so.“ Na, das hätte Philipp aber auch wirklich gewundert, wenn Jupp explizit gefragt hätte, ob er auch wirklich joggen geht.

Philipp schob Holger also aus der Klinik raus in die Sonne. Sofort setzte er sich selber seine Sonnenbrille auf. Er steuerte den Weg zu dem Park an. Es war ruhig zwischen ihnen. Eigentlich wollte er über irgendwas reden, aber er wusste nicht so wirklich über was. Es kam ihm sogar falsch vor zu fragen, ob er schon mal wieder mit Basti oder Mario gesprochen hatte, immerhin hatte das die Situation im Eiscafé hervorgerufen.

Es war ein schöner Weg, der sie in den Park führte. Kein Straßenlärm, nur das leise Zwitschern der Vögel in den Bäumen war zu hören. Das aber auch nur, weil die beiden schwiegen. Langsam wurde es wirklich peinlich, wie wenig sie sich doch zu sagen hatten.

„Es gibt hier viele Jogger“, stellte Philipp intelligenter Weise fest, als ihnen einer entgegen kam. Was für ein tolles Thema. Vor allem wo Holger nicht laufen konnte. Langsam verstand Philipp warum er immer wieder angepisst von ihm war.

Leise seufzte Holger. Eine normale Feststellung, aber doch unangebracht, wie der Innenverteidiger fand.
„Ist ja auch schön hier“, antwortete er, obwohl es ihm einiges abverlangte ruhig zu bleiben. Manchmal ließ Philipp kein Fettnäpfchen aus. Holger rechnete schon damit, dass sie sich gleich an den See setzten und der Kapitän vorschlug, dass sie ja schwimmen gehen könnten, ehe ihm dann doch noch einfallen würde, dass das im Moment schlecht möglich war.

Der Kapitän schob ihn weiter durch den Park und er musste sagen, dass er ihm mit jedem neuen Besuch mehr gefiel. Er war froh, dass er mit Holger hier war. Aber… lag das jetzt an dem Ort oder ausschließlich an der Person?
Nach dem kurzen Weg kamen sie auch schon bei dem kleinen See mit Parkbänken an. Daneben führte der Weg weiter in eine grüne Idylle.

„Bleiben wir hier?“, fragte Holger und drehte sich leicht zu Philipp, der den Rollstuhl etwa in Höhe einer Parkbank stoppte. Sofort setzte sich der Innenverteidiger um. Er saß lieber auf einer ganz normalen Bank und nicht im Rollstuhl.

„Gute Idee.“ Philipp war froh, dass Holger ihn aus seinen Gedanken holte und stellte den Rollstuhl neben eine Parkbank. Es wunderte ihn nicht, dass er ausstieg. Warum auch nicht? War sicher schöner auf der Bank zu sitzen. Fast so als wäre alles normal. Aber eben auch nur fast.
Sie schwiegen. Mal wieder. Er zog die Bremse fest und ließ sich dann neben ihm nieder.
Aber Philipp wusste auch nicht, womit er anfangen sollte. War das schon immer so schwer gewesen zwischen ihnen beiden ein Gespräch anzufangen oder lag es an der blöden Situation, in der Holger war? Oder lag es an gestern Abend? Ein leichtes Lächeln, für das er gar nichts konnte, umspielte seine Lippen. Eine Erklärung hatte er nicht dafür.

Während sie hier saßen, dachte Holger sofort an die Situation gestern Nacht zurück. Es war fast die selbe Situation, wenn auch unter anderen Umständen.
Darüber wollte der Innenverteidiger aber keinesfalls sprechen. Weil er nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Würde Philipp nachfragen, warum er ihn geküsst und sich nicht sofort zurückgezogen hatte, könnte Holger nur mit den Schultern zucken. Also besser ein anderes Thema, wenn sie nicht noch weiter schweigen wollten.

„Mario ist übrigens nicht meine Sekretärin“, murmelte Holger. Im nächsten Moment hätte er sich dafür schon ohrfeigen können. Jetzt fing er doch mit diesem leidigen Thema an, das ihnen schon am Vortag die Stimmung versaut hatte. Aber jetzt hatte er schon damit angefangen und er konnte es nicht so einfach im Raum stehen lassen. Dass er damit aber auch verriet, dass er in der Zwischenzeit also nochmal mit Mario telefoniert hatte, schien ihm gar nicht bewusst.

Philipp drehte überrascht den Kopf zu ihm. Wie kam er denn jetzt darauf?

„Er hat mir nur erzählt, dass dich meine SMS ziemlich runtergezogen hat und er das alles andere als gut fand. Meine Nachrichten schreib ich jedenfalls immer noch selbst.“

Jetzt hatte Philipp ein schlechtes Gewissen. Es nagte richtig an ihm.
„Holger, ich…“, immer noch sah er ihn an, hatte leicht den Oberkörper zu ihm gedreht. Er legte sogar ein Bein auf die Bank und drehte sich noch weiter. Stützte den Ellenbogen auf der Lehne ab und fuhr sich durch die Haare.
„Es tut mir leid. Ich wollte dir das nie unterstellen. Aber mich hat das kurze Telefonat in der Eisdiele verwirrt und da… da musste ich einfach nachfragen“, gestand er. Seine Augen lagen jetzt auf dem Wasser des kleinen Sees. Oder war es mehr ein Teich? Stumm seufzte er. War das nicht gerade vollkommen egal?
„Ich hätte nicht zweifeln sollen, aber du…“, wieder brach er ab. Konnte er ihm schon wieder vorwerfen, dass er doch eh immer wieder zurück gestoßen wurde und daher die Zweifel kamen?

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