Kapitel 54 - Kleiner Fan, große Wirkung



Wie von Jupp angekündigt, wurde Holger von einem Fahrdienst abgeholt. Nach wie vor war er nicht begeistert von der Tatsache, dass man über seinem Kopf hinweg entschied, dass er zu einem Sportpsychologen sollte.
Mit einem leichten Händeschütteln begrüßte Dr. Engbert ihn in seiner Praxis und bot ihn einen Platz auf dem Sessel an. Letzte Nacht hatte er viel über Philipp nachgedacht, obwohl er das nicht wollte. Auch nach dem Geständnis vor Mario fühlte er sich wirklich nicht besser. Aber darum ging es in dieser Stunde, die er hier verbringen musste, nicht.

Dr. Engbert versuchte freundschaftlich an ihn heranzukommen, begann mit einem lockeren Gespräch, lediglich über die letzte Saison. Er wollte ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und er hatte so das Gefühl, dass drängen bei Holger in dieser Situation sowieso nicht zum gewünschten Ergebnis führte.

„Haben Sie sich denn über die ganzen Siege gefreut?“

Holger nickte zögerlich. „Ja, natürlich. Ist ja meine Mannschaft.“

„Aber?“

Es war als wüsste Dr. Engbert schon, dass es da ein ganz großes Aber in Holgers Kopf gab, also brauchte er es auch nicht abzustreiten. „Ist einfach nicht so schön, wenn man selber nicht mitwirken kann.“

„Aber Sie können wieder mitwirken“, sagte der Psychologe mit Nachdruck, doch Holger verdrehte nur die Augen.

Ja, das sagten doch alle. Jupp, Philipp, Mario... einfach jeder. Naja, außer der Presse. Einige Fans, Außenstehende etc. glaubten ja auch, dass es das nun für ihn war. Allen voran aber Holger.

„Sie glauben nicht daran nochmal zurückzukommen?“ Er stellte diese Frage so vorsichtig wie irgendwie möglich.

Holger zuckte mit den Schultern und fixierte die hübsche Tischdecke vor ihm. „Doch, ich glaube daran, dass ich zurückkomme, aber nicht so wie ich es will und deshalb ist das für mich keine wirkliche Rückkehr. Jeder der selbst im Profigeschäft ist, müsste eigentlich wissen, dass es für mich vorbei ist. Nach so langer Auszeit...“ Holgers Stimme klang seltsamerweise nicht einmal brüchig, er hatte sich selbstverständlich auch um einen festen Ton bemüht, aber selbst für Dr. Engbert klang das entschlossen. Anderseits sprach seine Gestik etwas anderes, weswegen der Psychologe mit Sicherheit sagen konnte, dass seine Entscheidung um seine Karriere zu kämpfen, noch nicht endgültig gefallen war.

Er war deshalb ganz froh darüber, dass er vorher durch Jupp ein paar Informationen zu Holger sammelte, damit er ihn besser einschätzen konnte.
„Was halten Sie davon, wenn Sie ein paar Tage raus aus München kommen. Weg vom Triple-Gewinner und einfach wieder der Junge von nebenan sein, in ihrer Heimatstadt.“

Holger hob überrascht den Kopf. Mit so einem Vorschlag hatte er jetzt wirklich nicht gerechnet.

Anders als Dr. Engbert, der einen ganz speziellen Plan verfolgte. Der Innenverteidiger sollte sich zurückerinnern, wie es früher war, als er sich für das Profigeschäft entschied und dafür kämpfte beim FC Bayern unter Vertrag zu kommen. Er sollte sich einfach an alles erinnern, um ihm seinen Kampfgeist zurückzugeben. Natürlich konnte dieser Versuch auch scheitern, aber Dr. Engbert wollte zuversichtlich bleiben.

„Naja... ich weiß nicht so recht.“

„Ihre Freunde und Familie freuen sich bestimmt, wenn Sie ein paar Tage dort unterkommen. Und dort denken Sie dann in Ruhe darüber nach, wie es weitergehen soll.“

Hm, vielleicht doch gar keine so schlechte Idee, wenn er darüber nachdachte.

„Alles weitere kläre ich dann mit Jupp.“

Also war es beschlossene Sache. Holger würde für ein paar Tage zurück nach Biberach gehen.


Donnerstagabend erhielt Mario seine Antwort auf die SMS. Er lächelte leicht. Ja ja, die Zeitverschiebung. An die hatte er schon fast gar nicht mehr gedacht, als er die SMS geschrieben hatte. Philipp schwieg also, was auch besser so war. Aber dieser kannte ja nicht einmal die ganze Wahrheit, zumindest ging der Stürmer davon aus, dass der Kapitän nichts von den Gefühlen, die Holger für ihn empfand, wusste.

//Übertreibts in der Bar nicht ;)Ja, ich war bei Holger und ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Er hat da schon eine in Aussicht, will es aber langsam angehen lassen. Im Moment steht die Verletzung für ihn im Vordergrund. Mario//

~*~


„Guten Morgen“, als Sarah und Bastian in den Speisesaal kamen, waren Claudia und Philipp schon da.

„Schöne Grüße von Mario“, bestellte der Mittelfeldspieler direkt. "Er will eine Karte haben. Ich kümmere mich da nicht drum."

„Wieso nicht? Mach das mal, du kannst das sicher gut“, grinste Philipp.

„Anweisung vom Kapitän“, hängte Claudia dran.

Bastian verdrehte die Augen. „Darüber reden wir noch mal.“


Nach dem Frühstück begaben sie sich auf eine kleine Inseltour. Ein bisschen Sightseeing, ehe es nachmittags wieder an den Strand ging. Immerhin waren sie nun mal zum Entspannen und Braunwerden auf Hawaii.
Und zum Abfüllen, wenn man Bastian fragte. Er setzte seinen Willen durch und nach dem Abendessen stand ein schöner Abend in der Bar auf dem Plan. Er würde Sarah einfach sagen, sie sollte Claudia etwas beanspruchen und schon hatte er Philipp für sich und konnte ihm genug Alkohol einflößen, damit er redselig wurde.


Als sie nachmittags wieder am Meer unter ihrem Sonnenschirm lagen, tippte Philipp lustlos auf seinem Handy rum. Er war in Versuchung Holger zu schreiben - schon wieder. Aber er ließ es. Er war immer noch verletzt. Und sauer auf sich selber, dass er nicht mal 24 Stunden nicht an ihn denken konnte. Was er jetzt wohl machte? Ob er bei einem Psychologen war? Hatte er endlich mit seiner Reha angefangen? Ging es ihm besser jetzt wo Philipp mal nicht bei ihm war? Fragen über Fragen.

„Kommst du mit ins Wasser?“ Bastian stupste ihn an.

Der Kapitän schüttelte den Kopf, aber sein Freund ließ nicht locker.

"Komm schon, Fips. Du tippst eh nur dumm auf deinem Handy rum, dann können wir auch etwas schwimmen gehen."

Er seufzte. "Okay", Philipp rappelte sich auf. Das klang nach Ablenkung und das war nicht verkehrt. Außerdem konnte ein bisschen Spaß auch nicht schaden.


~*~

Holger stand zwischen Kleiderschrank und Bett in seinem Schlafzimmer und legte einige seiner Kleidung hinein. Zu lange plante er auch nicht bei Ute zu bleiben, obwohl sich diese über seinen Anruf sehr gefreut hatte.
Über die Worte des Psychologen dachte er die ganze Heimfahrt zu seiner Wohnung über nach. Und auch jetzt spukten sie in seinem Kopf herum. Verletzungen hatten seiner Meinung nach auch etwas Gutes. Er würde an mentaler Stärke gewinnen. Würde deshalb auch mental stärker sein als die anderen. Ganz toll. Die anderen wurden Triple-Sieger und konnten Fußball spielen, während er mit seiner mentalen Stärke auf der Tribüne glänzte. Dr. Engbert hatte das vermutlich nett gemeint und wollte ihn aufmuntern, aber es war als hätte sich Holger ein Schutzschild errichtet, das alles was nicht mit seiner Meinung übereinstimmte abprallen ließ. Inclusive Philipp. Unweigerlich fiel sein Blick auf das Handy. Neue Nachrichten, aber keine von ihm. Er musste sich die Frage stellen, ob seine Gefühle abschwächen würden, wenn sie auf Abstand gingen. Oder würden sie durch seine Sehnsucht stärker werden? Er hoffte es wirklich nicht, aber im Moment konnte er sagen, dass er Philipp bereits vermisste, auch wenn er noch enttäuscht von ihm war, dass er mit Jupp geredet hatte.
Holger packte eine Jacke ein, wollte schon den Reißverschluss zuziehen, da ertappte er sich dabei, wie sein Blick Philipps Shirt suchte. Sollte er es mitnehmen? Es war albern... aber er hatte es bitter nötig. Eigentlich wäre ihm der Hase lieber gewesen, aber der war zu groß und dämlicherweise auch viel zu auffällig. Das Shirt konnte man sowieso nicht zuordnen, wem es gehörte. Und etwas, auch wenn es sich nur um einen Gegenstand handelte, brauchte er, um das Gefühl zu haben es wäre alles in Ordnung zwischen ihnen.
So fand auch Philipps Shirt Platz in Holgers Tasche. Genau rechtzeitig wurde er fertig, als es an der Tür klingelte. Seine Schwester bot an ihn abzuholen, vielleicht aus Angst, er würde doch noch kneifen und sich alleine in seinem Apartment verkriechen.

„Bist du fertig?“, kam sie gut gelaunt zur Tür rein.

Holger zwang sich zu einem Lächeln, nickte und ließ sich von ihr die Tasche abnehmen.
Ute hatte nicht weiter nachgefragt, als Holger am Telefon sagte, dass der Sportpsychologe diesen Vorschlag mit dem kleinen Tapetenwechsel machte, da sie wusste, dass das alles andere als angenehm für ihren Bruder war.

„Mama hat mich übrigens gefragt, warum du nicht bei ihr die paar Tage bleiben wolltest“, erzählte sie während sie ins Auto stiegen.

Erwartungsvoll sah Holger sie an. Natürlich wäre zu seiner Mutter in sein altes Zimmer zu schlafen, auch nicht verkehrt, aber die Variante bei Ute erschien ihm besser.

„Ich hab ihr gesagt, dass Brüderchen und Schwesterchen auch mal wieder unter sich sein wollen“, grinste sie und knuffte ihren kleinen Bruder neckend in die Wange, weil sie wusste, dass er es nicht mochte, aber immer deshalb lächeln musste. Sie hasste es nun mal Holger traurig zu sehen. Er sollte doch glücklich sein.


Am Abend bei Ute passierte nicht mehr viel. Sie musste relativ früh ins Bett, da sie am nächsten Tag arbeiten musste. Deshalb entschied Holger, dass er den Tag über seiner Mutter Gesellschaft leistete. Gemütlich humpelte er die Straße entlang, wurde von einigen Leuten auch angesprochen und begrüßt. Ja, hier war er der große Holger Badstuber, der den Sprung in die Profimannschaft vom FC Bayern und in die Nationalmannschaft schaffte. Davon war nur nichts mehr übrig, was eben das Problem an der Sache darstellte.
Auch an der Kirche der Stadt musste er vorbei und konnte ein leichtes Lächeln nicht verbergen, was auf seinem Gesicht erschien. Auf dem Fußballplatz gleich davor verbrachte er unzählige Stunden und Nachmittage nach der Schule. Sein Vater hatte ihn oft förmlich nach Hause schleifen müssen.

Nachmittags schien sogar ein bisschen die Sonne, weswegen Holger sich mit seiner Mutter auf die Terrasse zum angrenzenden Garten setzte.
Ein plötzlicher Ruf unterbrach die Idylle im heimischen Garten kurz.

„Helga!? Helga?“ Ein Kopf ragte über die großen Hecken.

„Ach, ist nur der Nachbar“, winkte Helga auf Holgers fragenden Blick ab und ging zu den Hecken.

„Ich hab mir sagen lassen, dass dein Sohn zu Besuch ist. Und du weißt ja wie meine Jungs den FC Bayern lieben... wäre es daher möglich euch kurz zu stören? Tobias und Sebastian würden sich total freuen.“

Holgers Mutter drehte sich wieder zu ihrem Sohn und wartete seine Zustimmung ab. Konnte ja auch sein, dass er seine Ruhe haben wollte.

„Geht schon in Ordnung“, rief er ihnen schmunzelnd zu, als er hinter den Hecken schon ganz aufgeregtes Gestammel hörte. Als sie zu dritt durch das Gartentürchen zu den Badstubers kamen, sah man den beiden schon an, dass sie nicht nur zufällig außer Haus gegangen waren. In kompletter Bayernmontur liefen sie vor Holger auf, der nicht anders als grinsen konnte. Tobias war ein ganz schnuckeliger, kleiner Junge, der noch in den Kindergarten ging, während sein älterer Bruder wohl schon um die 15 Jahre alt sein dürfte. Trotzdem war er fast schon so groß wie Philipp, stellte Holger schmunzelnd fest.

„Holger, wann spielst du wieder?“, fragte Tobias und sah ihn hoffnungsvoll an, „Die Größeren ärgern mich immer, weil ich dein Trikot trage und du gar nicht spielst.“

Sebastian verdrehte die Augen. „Man, das interessiert ihn doch nicht, ob du geärgert wirst oder nicht.“

„Sebastian“, ermahnte der zweifache Vater seinen ältesten Sohn.

Holger ignorierte ihn, sondern widmete sich dem kleinen Tobias. Er freute sich richtig darüber, dass sein rotes Trikot hinten mit der 28 beflockt war und versprach ihm deshalb was. „Ich bemühe mich, damit ich bald wieder spielen kann und die dich nicht mehr ärgern können.“ Aber es war falsch. Das wusste Holger, da er nicht mehr spielen würde und sie Tobias wohl weiter ärgerten.

Tobias nickte eifrig, hielt aber die ganze Zeit über verkrampft ein Blatt Papier in der Hand. Eigentlich dachte der Innenverteidiger, dass er ein Autogramm haben wollte und bat seine Mutter schnell einen Edding zu holen, doch auf das war Tobias gar nicht aus. Also schon, aber eben auf das Trikot. Das Papier wollte er gar nicht signiert haben.

„Na komm, zeig dem Holger doch, was du für ihn gemalt hast“, forderte sein Vater.

Sebastian schien das alles sichtlich peinlich zu sein, als sein kleiner Bruder einen Schritt auf Holger zuging und ihm das Papier reichte.

Neugierig drehte es Holger um und war im ersten Moment überrascht. Auch weil er nicht wirklich wusste, was die Zeichnung eigentlich darstellen sollte.

„Das da bist du“, erklärte Tobias und deutete auf den gezeichneten Strichkörper mit blonden Haaren. „Und das da ist Philipp Lahm.“

Natürlich deutlich kleiner gezeichnet, was Holger erneut zum Schmunzeln brachte. „Und wer ist das?“, erkundigte er sich und zeigte auf das dritte Männchen.

„Der Schiedsrichter. Du kriegst da eine gelbe Karte.“

Gut, wenn man wusste, was es sein sollte, erkannte man es, wie das Männchen die gelbe Karte zückte und Philipp offenbar zu schlichten versuchte.
„Das ist echt schön geworden. Danke.“ Auf Holgers Gesicht erhellte ein glückseliges Lächeln. Wie süß von Tobias so eine Szene zu malen.

„Hängst du das in deinem Zimmer auf?“, ließ Tobias nicht locker. Helga, Holger und der Vater der beiden Söhne lachten leicht.

Aufhängen würde es Holger vielleicht nicht, aber ganz bestimmt gut aufbewahren. Der Kontakt zu so einem treuen kleinen Fan tat ihm sichtlich gut. Das entging auch seiner Mutter nicht. Noch ein paar solche Erlebnisse, und Holger konnte bestimmt wieder positiver der Zukunft entgegen blicken. Doch Holgers Mutter wusste nicht, dass das Bild nicht nur Freude in Holger auslöste. Allein der Aspekt, dass Philipp wieder eine zentrale Rolle einnahm, veränderte etwas.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0