Kapitel 6 - Frust vs. Mitleid



 

Am nächsten Morgen erwachte Philipp durch seine Nackenschmerzen. Das erste, was er sah, war eine Hand. Er blinzelte verwirrt und spürte auch erst dann, dass jemand anscheinend sein Handgelenk umklammert hatte. Vorsichtig richtete Philipp sich etwas auf und folgte der Hand. Sie gehörte Holger. War er etwa eingeschlafen und hatte die ganze Zeit an Holgers Bett gesessen diese Nacht? Das würde zumindest die Nackenschmerzen erklären. Er spürte, wie etwas seine Schultern herunterrutschte. Eine Decke? Hatte eine Schwester ihm die übergehangen? Warum hatten sie ihn nicht rausgeschmissen oder war das erlaubt über Nacht zubleiben? Er dachte eigentlich nicht.
Philipp schloss für einen Moment die Augen. Das war gerade so viel auf einmal. Zu viel am frühen Morgen und ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es wirklich früh war.
Aber erst mal schenkte er der Hand, die seine hielt, die Aufmerksamkeit. Die Geste brachte ihn zum Lächeln. Wann hatte Holger sie wohl umklammert? War er wach geworden in der Nacht? Musste er ja, sonst hätte er sie wohl kaum so gezielt umfassen können.
Der Kapitän fragte sich, ob das ein Zeichen dafür war, dass Holger froh war, dass er hier war. Wie sollte er das sonst deuten? Er hatte ja im Flugzeug schon gesagt, dass er froh war nicht alleine zu sein. Aber er hätte es auch verstehen können, wenn er jetzt sauer gewesen wäre auf Philipp. Immerhin hatte er nichts gesagt. Er hatte Holger verschwiegen, dass er um seinen Krankheitszustand Bescheid wusste.
Der Außenverteidiger konnte nicht anders als zu lächeln. Er sah jetzt einfach mal das Positive in dieser Geste. Trotzdem senkte er traurig seinen Kopf und stellte fest, dass er etwas müffelte. Es war ja noch ziemlich früh, vielleicht sollte er mal eben ins Hotel flitzen, sich duschen, umziehen und so was.
Vorsichtig löste er Holgers Hand von seiner und legte sie auf die Bettdecke. Dann hob er seine Decke auf und hing sie über das Bettende.
Philipp wollte gerade gehen, als er zögerte. Sein Blick fiel auf das schlafende Gesicht des Innenverteidigers, er beugte sich über ihn und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn, in der Hoffnung ihn nicht zu wecken. „Es tut mir so leid“, wisperte er. „Ich wünschte, ich könnte etwas tun.“

Dann verließ er den Raum. Auf dem Flur grinste eine Krankenschwester ihn an, aber Philipp ging nicht näher darauf ein. Es war ihm gerade egal. Er beeilte sich ins Hotel zu kommen und duschte da schnell. Dann las er noch seine E-Mails. Claudia hatte ihm geschrieben und Jupp. Dr. Steadman hatte wohl schon mit ihm telefoniert. Und seine Frau war eben alles andere als begeistert, zeigte sich aber in gewisser Weise verständnisvoll. Zwar verstand sie nicht, ob das jetzt vor dem Spiel sein musste und ob nicht Toni fliegen konnte, der konnte ja eh nicht spielen, aber sie verstand auch, dass Philipp geflogen war. Irgendwie konfus, aber er wollte die E-Mail jetzt nicht nochmal lesen.
Philipp schlüpfte in frische Klamotten, verließ dann das Zimmer und nahm sich noch etwas vom Hotelfrühstück mit. Draußen auf der Straße holte er sich in dem Coffeeshop neben dem Krankenhaus noch schnell einen Kaffee auf die Hand. Dann ging er wieder zu Holger ins Zimmer.

Er schlief immer noch.
Stumm seufzend setzte sich Philipp wieder auf den Stuhl und fing an zu frühstücken. Sein Blick lag dabei die ganze Zeit auf Holger. Seine Gedanken drehten sich auch einzig und allein um den blonden Verteidiger. Philipp merkte erst gar nicht, wie eine Schwester hereinkam.


„Guten Morgen, Herr Lahm.“

„Guten Morgen.“

„Dürfte ich Sie bitten etwas vom Bett wegzurutschen? Ich muss eben einige Untersuchungen an Herrn Badstuber vornehmen. Und danach bekommt er auch sein Frühstück.“ Sie ging zu dem Fenster und zog den Vorhang auf.

Der war zu gewesen? War Philipp wohl entgangen. Wie gebeten, rutschte er mit seinem Stuhl ein ganzes Stück zurück.

„Herr Badstuber? Hören Sie mich? Aufwachen.“ Die Schwester rüttelte leicht an Holger.

Holger verstand erst langsam, dass jemand an ihm rüttelte, auf ihn einredete und zum Aufwachen bewegen wollte. Müde schlug der Blonde die Augen auf, blickte direkt in das Gesicht der Krankenschwester, die ihm entgegen lächelte. Philipp sah er gar nicht, die Angestellte war etwas breiter gebaut und verdeckte den schmächtigen Kapitän vollständig.

„Wie fühlen Sie sich? Irgendwelche Schmerzen?“, erkundigte sie sich, während sie kontrollierte ob genug Schmerzmittel durch den dünnen Schlauch tropfte.

Holger schüttelte nur den Kopf und rieb sich mit der anderen Hand über die Augen. Er war noch gar nicht richtig wach und musste da schon solche Fragen beantworten. Obwohl sich die Krankenschwester die Frage, wie er sich fühlte, hätte sparen können.

„Die Infusion werden wir in etwa drei Tagen entfernen können. Genaueres entscheidet Dr. Steadman“, erklärte sie.

Holger war gerade dabei zu nicken, da hörte er ein leises Schmatzen. Hier aß doch jemand...

Die Krankenschwester verfolgte den skeptischen Blick des Innenverteidigers und trat lachend zur Seite, wodurch Philipp sichtbar wurde.

Der Kapitän grinste ertappt und biss wieder in sein Baguette.


„Herr Lahm hat den gestrigen Tag und die ganze Nacht an Ihrem Bett gewacht. Es ist doch immer schön, wenn ein guter Freund da ist und einem in der schweren Zeit beisteht.“

Der Kapitän kam nicht umher, dass er leicht rot wurde. Das klang jetzt, als wäre es etwas ganz besonderes, dabei war er doch eigentlich nur eingeschlafen. Allerdings war das auch gut. So konnte er hier bleiben.

Holger hatte das Gefühl irgendetwas sagen zu müssen, wusste nur nicht was. Danke, dass du mir die ganze Zeit über Händchen hältst, fühlte sich jetzt mit Anwesenheit der Krankenschwester falsch an.
„'Morgen. Und guten Appetit“, sagte er nur und zwang sich zu einem leichten Lächeln, ehe er seinen Blick wieder abwandte. Er wollte dieses unangenehme Schweigen unterbrechen.

„Guten Morgen… danke“, Philipp kam sich reichlich dämlich vor, wie er so verlegen am Rand des Zimmers hockte. Er hätte den Blick von Holger gerne länger erwidert, um in ihm lesen zu können, aber dieser schaute lieber wieder weg. Ob er noch sauer war? War er überhaupt sauer? Er wusste es nicht.

Die redselige, freundliche Krankenschwester wuselte weiter um Holger herum und übernahm auch das Sprechen für die beiden. Doch kein nettes Wort der Welt würde etwas an Holgers beschissener Situation ändern. So ließ er auch das Blutdruckmessen teilnahmslos über sich ergehen und stellte sich dem besorgten Mustern der Krankenschwester.

„Ein bisschen blass sind Sie schon noch.“ Als sie merkte, dass es dem Blonden unangenehm war, schaute sie nachdenklich auf sein Bein. „Darum kümmert sich Dr. Steadman gleich nach dem Frühstück.“

Es dauerte nicht lange, da verschwand sie auch schon und kam mit einem Tablett voll Essen wieder. Daneben stand ein kleines Glas Wasser und eine Tablette im Schälchen. Lächelnd schaute die medizinische Fachkraft auch zu Philipp. „Lassen Sie sich das Essen schmecken.“

Irgendwie war es besser gewesen, als sie noch da war. Jetzt war es so ruhig. Eine unangenehme Stille lag auf dem Zimmer, die Holger aber zu durchbrechen wusste.

„War ziemlich unbequem heute Nacht, hm? Da hat‘s vermutlich die Decke auch nicht wirklich gebracht“, fing Holger an, schob dabei das Tablett wieder zur Seite, nachdem er lustlos an einer Scheibe Brot geknabbert hatte, und ließ sich zurück in die Kissen fallen. Sein Blick wanderte zur Zimmerdecke. „Oder gefällt‘s dir im Hotel nicht? Hat von außen doch recht edel gewirkt.“

„Holger, du solltest was essen“, merkte Philipp an.

„Keinen Hunger“, erwiderte Holger, ohne ihn anzusehen. War ja schön, wenn es dem Kapitän so schmeckte, aber wäre er wohl an seiner Stelle, würde er auch nichts runterkriegen. Er würde da auch nicht diskutieren, er war alt genug selbst zu entscheiden.

„Hast du mir die Decke umgehangen? Danke.“ Philipp lächelte leicht, aber auch unsicher. „Das Hotel ist gut, aber… da bist du nicht“, die letzten Worte flüsterte er nur. Irgendwie klang das kitschig, aber so war es doch nun mal. Er war hier, weil er Holger beistehen wollte und sollte dann in seinem Hotel hocken? Irgendwie verfehlte das das Ziel etwas.

Holger wollte noch sagen, dass er sich wahnsinnig freute, dass Philipp bei ihm blieb, aber so wie er es schon von sich gewohnt war, verließen andere Worte seinen Mund. „Warum hast du mich nicht gleich unterbrochen, als ich das erste Mal aufgewacht bin und von meinem albernen Traum erzählt hab? Da wusstest du es doch schon, oder?“ Er klang weder vorwurfsvoll noch sauer, er wollte den Grund einfach nur erfahren. Brachte es Philipp nicht übers Herz? War er so zimperlich, dass er ihm nicht die Wahrheit sagen konnte? Sollte sich Holger nicht eher die Frage stellen, warum Philipp die ganze Zeit über ihn wachte? Selbstverständlich war das ja nicht.

Philipp biss sich bei diesen Worten leicht auf die Unterlippe. Er wusste nicht, wie er die Frage einschätzen sollte. Er suchte den Vorwurf und die Wut, die von Holger ausgehen sollten, aber er suchte vergeblich. War der Innenverteidiger etwa nicht wütend?
„Ich…“, er brach ab, senkte den Kopf. „Ja, klar wusste ich es da schon. Genau deswegen konnte ich dich nicht unterbrechen. Du warst so hoffnungsvoll und du hast mir so süß von dem Traum erzählt, da konnte ich dir die Wahrheit einfach nicht sagen.“ Das war vollkommen ehrlich. Er fühlte sich mit einem Mal richtig schlecht. War es falsch? Hätte er Holger direkt abwürgen sollen?

Als Philipp richtig unsicher auf seine Frage antwortete, schaute Holger kurz zu ihm. Er hatte den Kopf gesenkt und suchte nach einer Erklärung. Hatte er etwa Angst, dass er deswegen sauer war? „Schon okay. Ich... hätte es wahrscheinlich an deiner Stelle auch nicht gekonnt.“
Plötzlich aber veränderte sich Holgers Gesichtsausdruck, er verzog beinahe angewidert das Gesicht. Auch richtete er die folgenden Worte gar nicht an den Kapitän, sondern an sich selbst. „Wie komme ich auch nur auf die wahnwitzige Idee, dass zwölf verdammte Monate Zwangspause genug wären? Nein, da müssen noch vier oder bei meinem Glück mehr dazu“, schnaubte er verbittert und schüttelte abfällig den Kopf dabei. Wieder merkte er, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten, die er aber geschickt zurückhielt und so seinen Schmerz, seine Schwäche, vor Philipp verbarg. Dabei war doch bei der Meisterfeier alles so schön. Er war ins Lauftraining eingestiegen, freute sich unglaublich, feierte auf dem Rathausbalkon ausgelassen mit den anderen und dann das...

Philipps Kopf schnellte augenblicklich nach oben. „Nein“, hauchte er. Schnell stellte er den Kaffee zur Seite und stand auf. Der Stuhl stand immer noch abseits, so musste er ein paar Schritte auf Holger zu machen.
Ohne darüber nachzudenken, was er tat, setzte er sich ungefragt auf die Bettkante, legte seine Hände an Holgers Wangen und zwang ihn dazu ihn anzusehen. „Sag so etwas nicht“, bat er flüsternd. Es kam ihm vor, als wären Holgers Augen etwas glasig.

Kaum hatte er seinen Frust zu Ende geschnaubt, spürte Holger, wie sich die Matratze etwas senkte und Philipps Hände sich an seine Wange legten. Ihn so zwangen ihn anzusehen, weswegen Holger versuchte andauernd den Blick nach unten zur Bettdecke zu verlagern. Der Kapitän sollte seine wässrigen Augen nicht sehen. Aber... wieso kam er ihm plötzlich so nahe?

„Holger…“, Philipp brach ab, ließ seine Hände aber da wo sie waren. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich so hilflos. Vorsichtig beugte er sich vor, küsste Holgers Stirn nun schon zum dritten Mal seit sie hier waren und lehnte seine dann dagegen. Er unterdrückte den irrsinnigen Wunsch seine Lippen zu kosten. Im nüchternen Zustand. Das wäre doch falsch, oder? Und es war so absurd und bescheuert. Er sollte nicht an so etwas denken. Nicht jetzt.

Holger beobachtete jede Regung von Philipp, schloss aber aus Reflex die Augen und fühlte den liebevollen Kuss auf seiner Stirn. Unweigerlich erinnerte er sich an die Meisterfeier... und so auch an den Tag, an dem noch alles in Ordnung war, bevor dieser Mist passieren musste. Philipps Stirn lehnte an seiner und er konnte den Atem des Älteren sogar auf der Haut wahrnehmen. Für einen kurzen Augenblick überkam ihm ein warmes Gefühl, eine leichte Anziehung, die dessen Lippen auf ihn ausübten, doch als Philipp anfing zu sprechen, veränderte sich dieses warme Gefühl schlagartig. Aber es hätte sich sowieso verändert, denn diese grenzenlose Enttäuschung ließ es nicht anders zu.

„Du wirst die Pause überstehen und du wirst stärker zurückkommen als du jemals warst. Da bin ich mir ganz sicher.“ Philipp versuchte optimistisch zu klingen. Er glaubte wirklich daran, aber er wusste nicht, ob diese Worte Holger gerade halfen.

Verständnislos fixierte er Philipp nun, dessen Stirn immer noch an seiner lehnte. Ihre Blicke trafen aufeinander, so als würden sie miteinander sprechen und ohne Worte Verbindung aufnehmen. Doch es traf Verständnis und Mitleid auf Frust und Enttäuschung, was für einen der beiden eine explosive Mischung ergab. „Willst du mich eigentlich verarschen? Dasselbe hast du auch im Dezember gesagt und wie gut das geklappt hat, sehen wir ja jetzt. Du verstehst das doch gar nicht, dein Kreuzbandriss hat dir nicht solche Probleme bereitet.“ Holger nutzte seine Hände, die in derselben Nacht nach Philipp gegriffen hatten, um ihn jetzt von sich zu stoßen. „Es würde einem wahren Wunder gleichen, wenn ich nach so langer Auszeit wieder zurück kommen würde, das weißt du verdammt nochmal genauso gut wie ich! Und selbst, wenn die geringe Chance bestünde, dass ich wieder fit werde, kann ich meinen Arsch gleich auf die Ersatzbank nageln.“ Holger starrte den Kapitän immer noch erzürnt an. „Spar dir bitte deine nett gemeinten Worte, sie helfen mir kein Stück! Oder zaubern sie auf wundersame Weise ein gesundes Kreuzband rein, das nicht reißt, wenn ich kurz davor bin wieder ins Training einzusteigen?“ Holger entlud mit diesen Worten seinen gesamten Frust. Tief in seinem Inneren wusste er, dass es unfair war Philipp das an den Kopf zu werfen, aber das konnte er jetzt nicht realisieren. Er war nun mal gerade da. Wenn Holger ehrlich war, galt diese Wut und der grenzenlose Frust nur seiner eigenen Hilflosigkeit nichts unternehmen zu können. Er war nun auf den Heilungsprozess seines Knies angewiesen und dass dieser stark zu wünschen übrig ließ, hatte er leider schon am eigenen Leib erfahren dürfen. „Du weißt nicht wie es ist, wenn einem das Schicksal wieder und wieder in die Fresse schlägt. Kaum rappelt man sich auf, kommt der nächste Schlag. Also erzähl mir hier nichts von ‚alles wird wieder gut‘ oder ‚du wirst stärker zurück kommen‘ oder was für schlaue Ratschläge du noch parat gehabt hättest.“ Holger blinzelte, merkte gar nicht, dass eine einzige Träne sich ihren Weg über seine Wange suchte und rasch von seinem Kinn tropfte.

 

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