Kapitel 5 - Böses Erwachen


Abwesend registrierte Holger, dass jemand über seine Hand gestrichen hatte. Philipp vermutlich. Zaghaft öffnete er seine Augen, erkannte dass der Kapitän gerade bei Dr. Steadman stand. Mit dem Rücken zu ihm. Erst nach und nach drangen die Sätze, die gesprochen wurden zu ihm durch.

„Und wie groß sind die Chancen, dass es weniger als zehn Monate werden?“ - „Darüber sollten wir nicht reden.“

Holgers Augen wurden größer und größer. Was die beiden da beredeten... es ging um ihn und er wusste nicht, was er sagen sollte. Er brachte nur ein gehauchtes „Was?“ hervor. Noch länger pausieren? Zehn Monate? Holger fühlte sich so kraftlos, so hilflos und seiner Verletzung ausgeliefert. Was war denn bloß los mit seinem verdammten Knie? Am liebsten hätte er laut geschrien. Seinen ganzen Frust einfach rausgebrüllt. So wie er es auf dem Spielfeld auch tat. Und auf das musste er jetzt noch länger oder vielleicht sogar für immer verzichten. Anstatt seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, blieb er ruhig. Äußerlich zumindest. Innerlich bebte er. Er war heillos überfordert.
„Nein“, wimmerte er, während er seine Hand zwischen Schläfe und Auge platzierte und angestrengt darüber fuhr.

Philipp fuhr herum. Holger war wach? Seit wann? Oh nein… ein Wimmern drang an sein Ohr und
er presste die Lippen aufeinander. Damit hatte sich die Frage erübrigt, wer ihm das sagen würde.

Die Aufmerksamkeit, die jetzt auf ihm lag, gefiel Holger nicht. Dr. Steadman, der auf ihn zu kam, Philipps mitleidiger Gesichtsausdruck, der sich sichtlich geschockt zu ihm gedreht hatte... das wurde ihm alles zu viel.
Ohne es selber zu bemerken, hatte der Blonde seinen Oberkörper leicht aufgerichtet. Merkte es aber erst, als Dr. Steadman ihn zurück in die Kissen drückte und ihm sagte, er solle ruhig liegen bleiben. Dem Arzt schien es auch unangenehm zu sein, dass er jetzt so davon erfahren hatte.
Holgers Unterlippe zuckte verdächtig. Aus seiner Kehle kam allerdings nur ein Laut zwischen einem leisen Wimmern und einen ebenso stillen keuchen. Das war doch alles nur ein böser Albtraum. So viel Pech konnte man nicht haben. Es musste doch ein einziges Mal auch alles gut gehen. Was kam denn jetzt noch alles?
Holger ballte seine rechte Hand locker zu Faust. War Philipp nicht zum Händchen halten dabei? Und wo war die Hand jetzt, die ihn halten sollte? Er sehnte sich so sehr nach Halt. Aber so wie er das sah, regte dieser sich nicht und starrte ihn nur geschockt und besorgt an. Statt diesem Halt spritzte ihm Dr. Steadman irgendein schwaches Beruhigungsmittel, wie er erklärte. Oder war es ein Medikament zum Schlafen? Holger bekam es gar nicht mehr richtig mit. Nur stellte er fest, dass er innerlich ruhiger und wieder müder wurde. Die Schläfrigkeit von der Narkose war durch diese neue Erkenntnis zu sehr in den Hintergrund gerückt, auch wenn er sie jetzt durch das Beruhigungsmedikament wieder spüren konnte.

„Sie brauchen nach dieser Operation noch Schlaf und Erholung. Das ist wichtig“, hörte er Dr. Steadman noch sagen.

Holger musterte ihn, während er krampfhaft versuchte seine Augen aufzuhalten.

„Morgen werde ich Ihnen alles genau erklären und dann besprechen wir auch, wie wir weiter vorgehen werden. Aber jetzt brauchen Sie vor allem erst einmal Ruhe.“

Der Kniespezialist redete betont ruhig auf ihn ein und Holger nickte nur schweigsam. Vielleicht war es wirklich besser so. Er war jetzt nicht in der Lage das Ganze zu verarbeiten.

Philipp konnte sich nicht rühren. Er fühlte sich schlecht und er war geschockt. So sollte Holger es doch nie erfahren… warum hatte er auch damit angefangen? Er hätte sich ja denken können, dass er aufwachen würde!
Die Nachricht war so oder so schon beschissen, aber man hätte sie ihm ja wenigstens schonend beibringen können. Oder gab es das hierbei nicht? Irgendwie war es ja so oder so scheiße.

„Herr Lahm? Alles okay?“

„Was?“ Verwirrt blinzelte Philipp. Dr. Steadman sah ihn besorgt an. Der Kapitän sah an ihm vorbei. Er schien Holger Schlafmittel gegeben zu haben. „Ja, alles okay. Tut mir leid.“

Halbherzig beobachtete Holger, wie Dr. Steadman wieder zu Philipp ging. Holger fixierte den Kapitän kurz aus müden Augen. Wie lange wusste er denn schon Bescheid?
Kraftlos fielen seine Augen dann aber doch wieder zu. Mit dem Unterschied, dass er froh war, jetzt wieder schlafen zu können. Nicht daran erinnert werden, wie viel Mist ihm passierte. Nichts sehen und hören müssen. Einfach nur abschalten.

„Das ist gerade ziemlich blöd gelaufen“, war der Kniespezialist ehrlich. „Herr Badstuber braucht jetzt unbedingt Ruhe. Er wird bis morgen früh durchschlafen, danach bespreche ich alles weitere mit ihm und am besten sind Sie dann auch dabei.“

„Okay.“ Philipp nickte bloß.

„Ich lasse Sie dann wieder alleine. Bis morgen früh.“

„Tschüss.“ Philipp sah den Arzt gar nicht mehr an und nahm noch nicht mal wahr, als dieser den Raum verließ. Seufzend ging er wieder zu Holger ans Bett und setzte sich auf den Stuhl. Er nahm seine Hand zwischen seine. „Es tut mir leid, dass du es so erfahren musstest“, murmelte er. „Ich würde auch gerne mit dir wetten, dass du eine Karte bei der WM bekommst, aber… mehr als eine Eintrittskarte wird es wohl kaum sein.“ Philipp biss sich auf die Unterlippe. Was für ein dämlicher Witz. „Ich möchte nichts mehr, als dass du eine gelbe Karte bei der WM bekommst, glaub mir das.“
Eigentlich fragte er sich, warum ihn das alles so mitnahm. Das war doch schon nicht mehr normal, dass er sich so um ihn sorgte. Es war ja jetzt nicht so, dass sie die besten Freunde waren. Schade eigentlich.

Philipp wich den ganzen restlichen Tag nicht von Holgers Seite. Nur einmal holte er sich etwas zu essen, was zu trinken und ging auf Toilette. Zwischendurch schaute auch die Schwester herein und fragte, ob alles gut wäre. Er bejahte zwar, aber wenn man es genau nahm war gar nichts gut.
Als sich der Tag langsam dem Ende neigte, nahm Philipp sich vor die Besuchszeit, die er hatte vollkommen auszunutzen und dann zu gehen. Irgendwann überkam ihn die Müdigkeit. Er hatte aber noch Zeit und wollte einfach nur etwas dösen, ehe er gehen musste. Philipp bettete also seine Arme auf der Matratze, seinen Kopf wiederum darauf und schloss die Augen. Aus Dösen wurde nur nichts. Es dauerte nicht lange, da war er tief und fest eingeschlafen.

Holger vernahm ein leises Klicken, was wohl vom Schließen oder Öffnen der Tür kommen musste. Ein kleines Stückchen öffnete er die Augen, wartete bis sich seine Sicht an die Dunkelheit gewöhnte und musste sich erst mal orientieren. Er war hier in Vail, musste sich einer OP von Kniespezialisten Dr. Steadman unterziehen und... die war wohl schief gegangen, wenn er sich richtig erinnerte. Obwohl schief gegangen falsch war. Es lief nicht so, wie es geplant war. Zehn Monate Zwangspause... sofern alles gut ging. Und da er sowieso der Pechvogel der Nation war, würde sowieso etwas schief gehen. Darauf konnte sich Holger einstellen. Und das schmerzte richtig... nicht zu vergleichen mit den Schmerzen im Knie. Nein, das war viel schlimmer.
Träge drehte er seinen Kopf etwas und zog verwundert die Augenbrauen hoch, als er jemand an seinem Bett sitzen sah. Oder eher schlafen sah. Philipp. Warum war er noch hier? Wenn er die Uhr, die an der Wand hing, richtig erkennen konnte, war es schon halb zwei nachts. Warum jetzt ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht huschte, konnte Holger nicht sagen.
Sollte er den Kapitän wecken, damit dieser ins Hotel konnte und sich richtig ausruhen konnte? Nicht hier am Bett rumlungern und am Ende mit Nackenschmerzen aufwachen? Nein. Holger wollte ihn nicht wecken und erstaunlicherweise wusste er auch warum. Ohne es sich eingestehen zu wollen, genoss er die Gegenwart des Kapitäns. Er war da und zeigte ihm, dass er nicht allein war.
Holger neigte seinen Kopf in die andere Richtung und entdeckte, dass über der Stuhllehne eine Wolldecke hing. Da er sich schlecht bewegen konnte, richtete er lediglich seinen Oberkörper auf und streckte seinen Arm aus. Er zog sich so sehr in die Länge, bis seine Hand die Decke zum Greifen bekam und legte sie vorsichtig, um Philipp nicht zu wecken, um dessen Schultern. Die ganze Zeit über ein zartes Lächeln im Gesicht, das aber plötzlich mehr und mehr schwand, als Holger bewusst wurde, dass er lange nicht mehr mit Philipp auf dem Platz stehen konnte. Mit keinem seiner Kollegen. Wenn überhaupt...
Unbewusst hatte Holger seinen Kopf in die andere Richtung gedreht, während ihm stumm Tränen aus den Augen kullerten. Seine Hand zog er aber nicht zurück, er wollte Philipp berühren und spüren, dass er da war. Jetzt konnte ihm nur noch der Halt seiner Familie und Freunde helfen... und ein neues Knie oder auch Kreuzband, das schon perfekt angewachsen war und nie mehr reißen würde. Konnte man sich das zu Weihnachten wünschen? Holger sah sich schon vor einem Kamin sitzen, Milch und Plätzchen bereit stellen und den Wunschzettel ans Fensterbrett legen. An Heilig Abend wach werden und sein altes Leben unterm Tannenbaum finden. Holger lächelte traurig, schluchzte und schloss die Augen. Er wollte aufhören zu denken. Nicht darüber, wie scheiße das alles war und dass es nun mal keine Traumwelt mit Weihnachtsmann, Christkind oder Osterhase gab, die sämtliche Wünsche erfüllten und alles möglich machten. Vielleicht hatte er ja früher mal irgendetwas Böses getan, für das Gott ihn jetzt strafte. Und das war dem Mann da oben richtig gut gelungen.
Holgers Gedanken drehten sich im Kreis, die Tränen rollten seinen Wangen runter und tropften auf das Kissen. Solange, bis er wieder einschlief.


 

 

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