Kapitel 20 - Dunkle Wolken



Philipp, der gerade einen Löffel Eis im Mund hatte, nickte.

„Hey Holger! Na, ist Pippo gut angekommen?“, fragte Mario gut gelaunt.

„Ja, ist er. Wir ...“

Mario schien etwas zu sagen, denn Holger schwieg erst mal. Gerade als der Innenverteidiger angefangen hatte zu reden, stupste Philipp ihn an. „Mach laut, dann können wir beide mit ihm quatschen.“

Holger tat wie ihm geheißen und legte das Handy auf den Tisch. Sofort erklang die Stimme des Stürmers deutlich lauter.

„Holger? Hey, bist du noch dran?“

„Ja ja, ich bin noch dran. Rufst du aus einem bestimmten Grund an?“

„Nein, ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht. Und... ich wollte nachhaken, ob du mir das von letztens übel nimmst. Seitdem hast du dich nur noch per SMS gemeldet. Holger, ich wollte dich wirklich nicht verletzen, als ich dir die Leviten gelesen hab.“

Holger zuckte zusammen. Was fing Mario jetzt damit an?

„Phil ... er -“ Noch bevor er weiter sprechen konnte, griff Holger nach seinem Handy und deaktivierte den Lautsprecher.

„Wir reden später, okay?“

„Warum? … Hat Pippo das jetzt etwa mitgehört?“, vermutete er schon richtig.

Holger bejahte und beendete das Gespräch mit Mario. Super. Jetzt konnte sich Philipp doch zusammen reimen, um was es ging. Etwas entnervt, weil Mario ausgerechnet jetzt angerufen hatte, widmete er sich lieber wieder den letzten Resten seines Eisbechers.

Philipp konnte gar nicht so schnell reagieren, da hatte Holger das Handy schon wieder in der Hand und Mario verstummte. Zumindest für seine Ohren.
Irgendwie zog er es vor seine Aufmerksamkeit dem Eisbecher zu widmen. Was war das denn gewesen? Er wusste nicht, wie er das einordnen sollte. Ihm fehlte der Zusammenhang. Warum sollte Mario Holger die Leviten lesen und was hatte er damit zu tun? Mario wusste doch nicht… Basti! Klar. Er hatte Basti die SMS gezeigt, der hatte Mario davon erzählt und Mario hatte Holger angerufen. Damit schloss sich der Kreis. Hatte Holger ihm deswegen die SMS geschrieben? Oder kam sie sogar direkt von Mario? Irgendwie würde ihn das nicht wundern. Basti hatte ihn so besorgt angesehen… es war ja süß, dass er ihn wieder lächeln sehen wollte, aber so? Er hatte diesen Worten Glauben geschenkt. Er hatte gedacht, Holger würde wirklich so denken! Irgendwie… tat das weh.
Er war in Versuchung höhnisch aufzulachen. Wie konnte er nur so gutgläubig sein? Aber… gab es nicht auch Gründe, die dafür sprachen, dass die SMS von Holger gekommen war? Gerne dachte Philipp an den Moment zurück, als Holger ihn das erste Mal gesehen hatte. Dieses Lächeln auf den Lippen…
„Wollen wir zahlen und zurück?“ Er wollte nicht mehr drüber nachdenken. Er wusste auch nicht, was er dazu sagen sollte, da er auch nicht wusste, was er darüber denken sollte.

Der Anruf von Mario trug dazu bei, dass plötzlich eine betretene Stille herrschte. Es schien beinahe schon frostig zu werden... oder lag das am Eis, das Holger so schnell hinunter schlang? Oder auch an dem Wetterumschwung, der über sie hereinzubrechen schien? Mittlerweile war es deutlich dunkler geworden, aber noch regnete es nicht. Irgendwie passten diese dunkle Wolke aber perfekt zu der Stimmung.
Und alles was Philipp dazu sagte, war „Wollen wir zahlen und zurück“? Wahrscheinlich war er verletzt durch Marios Worte. Wundern würde es Holger nicht. Schließlich sprachen sie gerade noch über die SMS und dann kamen solche Sätze von Mario, die doch beinahe nahe legten, als ob die ehrlichen Worte, über die sich Philipp so freute, nicht von ihm gekommen waren. In dem Moment wünschte er sich, Mario hätte sich nie eingemischt oder ihn angerufen. Das war irgendwie so demütigend, dass Philipp nun von ihm denken könnte, dass er selbst zu unsensibel war um so eine SMS zu verfassen und erst einen Tritt in den Hintern brauchte, um zu begreifen, dass er Philipp damit die Feier versaute. Was in gewisser Weise auch stimmte, aber trotzdem war das doch alles Mist! Und zu allem Überfluss schmerzte sein Knie jetzt wieder.
„Ach, kann es dir jetzt doch plötzlich nicht mehr schnell genug gehen mich in die Klinik zurückzubringen?“, zischte er garstig. Holger war sichtlich genervt von der Gesamtsituation.

„Was?“

„Damit du mich nicht länger ertragen musst, hm? Kann ich sogar nachvollziehen. Ich würde auch gerne vor mir und meinem dämlichen Knie abhauen.“
Es war schrecklich. Holger hörte sich selber reden, aber sein Mund war wieder mal viel schneller als sein Kopf. Alles schien ihm in diesem Augenblick zu viel zu werden. Philipps undeutbarer Blick, von dem er nicht wusste, was er halten sollte. Das Telefonat mit Mario und sein beschissenes Knie, das ihn wieder mal quälte. Eigentlich wollte er selber wieder in die Klinik und sich ausruhen, aber … das sollte wenn schon er selbst sagen und nicht Philipp, der offensichtlich genug von ihm hatte.

Entgeistert sah Philipp Holger an. Ihm fehlten gerade die Worte. Was sollte denn der Mist jetzt? Hatte er schon wieder was Falsches gesagt? Nur weil er vorgeschlagen hatte, dass sie zurückgingen? Konnte er es dem Jüngeren überhaupt irgendwie recht machen?

„Ich will dir ja nicht weiter zur Last fallen, deshalb gehe ich jetzt auch mit den Krücken zur Klinik. Der Rollstuhl war sowieso eine bescheuerte Idee, ich brauche sowas nicht.“ Schnaubend legte Holger das nötige Geld auf den Tisch. Philipp sollte zahlen. Holger brauchte sowieso länger beim Zurückgehen und wollte jetzt nicht mehr auf die Bedienung warten. Mühselig rappelte er sich auf, entfernte die Krücken aus der Halterung und hopste eilig davon. Sein rechtes Knie pochte unangenehm, aber Hauptsache er war weg. Weg von dieser bühnenreifen Szene.

„Tschüss!“, rief Philipp dem Jüngeren angesäuert hinterher und winkte die Bedienung heran. Bis die aber endlich abgerechnet hatte, verging etwas Zeit und Holger hatte schon eine beachtliche Strecke hinter sich gebracht. Dieses Tempo konnte er aber nicht die ganze Zeit durchhalten.
Seufzend schnappte Philipp sich den Rollstuhl und hatte Holger bald eingeholt.

Irgendwie kam sich Holger schon dämlich vor. Philipp hatte ihn einfach so eingeholt, obwohl er sich so beeilt hatte. Wahrscheinlich wollte der Kapitän ihm nur beweisen, dass er erst morgen früh in der Klinik ankommen würde und er seine zwei funktionstüchtigen Beine hatte, mit denen er auch super Fußball spielen konnte.

„Jetzt setz dich hier rein, du Sturkopf.“
Philipp ging gar nicht auf Holgers Worte ein. Obwohl er schon Lust hätte. Philipp wusste nicht, was er eigentlich denken sollte. Einerseits so liebe Worte, aber dann wieder das komplette Gegenteil! Schleimte er nur rum, damit er nicht alleine war? Holte sich dafür sogar Hilfe von Mario… er seufzte stumm. Was war passiert, dass er nicht mal mehr einschätzen konnte, ob er Holger Unrecht tat oder nicht?

Holger hielt kurz den Blick Philipps stand, schnaubte nur und ging weiter. Sofern man es als 'gehen' bezeichnen konnte. Er war bereits ein bisschen außer Atem, die Schmerzen im rechten Bein verschlimmerten sich, während sein Linkes mittlerweile etwas geschwächt war. Aber deswegen einlenken? Niemals.

„Bleibst du jetzt mal stehen und pflanzt deinen Hintern in diesen Stuhl?“ Kurzerhand stellte sich Philipp Holger in den Weg. „Ich hau nicht vor dir und deinem Bein ab. Du bist der einzige, der andauernd abhaut. Tu es doch jetzt einfach mal nicht. Bitte, Holger… sei vernünftig und setz dich hier rein.“

Holger wollte ihn weiterhin ignorieren, aber als der Kapitän den Rollstuhl direkt vor seine Füße schob, konnte er nicht anders als zu reagieren.
Er sollte vernünftig sein? Warum dachte Philipp eigentlich immer aus Prinzip, dass er sich vernünftig verhielt und Holger der sture Bock war? Nur weil er eine andere Meinung hatte, hieß es noch lange nicht, dass das unvernünftig war.
„Wie kommst du eigentlich drauf, dass alles was du tust, sagst und willst vernünftig ist und mir ständig Unvernunft vorwirfst?“, wehrte er sich. „Ich hab keinen Bock mehr mir sagen zu lassen ich solle mich bei Laune halten oder mich ablenken! Wie soll ich mich denn bitteschön ablenken, wenn alles den Bach runter geht? Keiner weiß, was diese scheiß Re-Ruptur eigentlich für mich bedeutet!“ Er wartete darauf, dass Philipp den Rollstuhl wegzog, aber den hatte er stur vor seinen Beinen abgestellt. „Setz du dich doch in das Ding, wenn du so scharf drauf bist!“
Holger drehte sich zur Straße, sah, dass kein Auto kam und humpelte vom Gehsteig, um Philipp zu umgehen. Die vereinzelten Regentropfen, die vom Himmel fielen, ignorierte er.

Philipp blieb stehen, hatte den Blick gesenkt. Sah auch nicht auf, als Holger um ihn herum humpelte.
So war das also? Machte er jetzt auf Mitleid? Stellte auf stur, dass niemand ihn verstehen würde? Wie denn auch? Wie sollte er Holger denn verstehen, wenn der nicht mit ihm sprach?
Die Worte trafen ihn. Wieder stieß Holger ihn zurück. Immer und immer wieder! Warum wollte er sich denn nicht helfen lassen? Oder bessere Frage: warum war er hier, wenn er eh nicht helfen konnte, weil es niemand wollte?
Der Außenverteidiger schnaubte. Gut, wenn Holger nicht wollte, schob er den Rollstuhl eben leer zurück ins Krankenhaus.
Demonstrativ ohne ihn eines Blickes zu würdigen, stapfte Philipp an Holger vorbei. Schnellen Schrittes immer weiter Richtung Krankenhaus. Eigentlich eine gute Entscheidung, denn langsam aber stetig kam dann doch der Regen, von dem Philipp noch gesprochen hatte.

Es nieselte leicht, als Philipp unter dem Vordach des Krankenhauses ankam. Holger würde noch eine ganze Weile brauchen bis er endlich da war, aber er wollte es ja nicht anders. Und dann noch den Berg hoch… wieder schnaubte Philipp. Selbst schuld!
Aber er beschloss nicht rein zu gehen, immerhin war es noch angenehm warm draußen. Lieber setzte er sich auf eine der Bänke, stellte den Rollstuhl neben sich und kramte sein Handy hervor. Er spielte mit dem Gedanken Mario anzurufen und ihn zu fragen, was das sollte. Aber er scheute sich. Er wollte nicht hören, dass die SMS von dem Stürmer alleine gekommen war…
Ohne weiter drüber nachzudenken, wählte er Marios Nummer.

„Hey Pippo“, er klang verhalten.

„Mario, hey… ist die SMS von dir gewesen?“, fiel er gleich mit der Tür ins Haus.

„Was für eine SMS?“ Irritation in Deutschland.

„Na, du hast ihn ja anscheinend auf seine SMS angesprochen, die ich Basti gezeigt habe.“ Philipp machte kein Geheimnis daraus, dass er den Zusammenhang inzwischen kannte. Warum auch? „Bei meinem Zwischenstopp nach Vail habe ich eine SMS von Holger gekommen. Du hast nichts damit zu tun?“

„Nein“, sagte Mario direkt. „Ich habe nur mit ihm wegen seiner Nachricht gesprochen, das stimmt schon… man, Pippo, was ist denn los bei euch?“

„Ich weiß es nicht.“ Seufzend lehnte Philipp sich zurück und fuhr sich durch die Haare. „Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass Holger gerade durch den Regen zur Klinik zurückhumpelt und es schüttet von Minute zu Minute stärker.“

„Was? Warum? Philipp!“

Philipp holte Luft, wollte etwas sagen, als sich eine weitere Stimme zu Wort meldete.

„Herr Lahm, Sie sollten hier nicht sitzen.“

Sein Kopf schnellte zur Seite. „Schwester Anna?“, entfuhr es ihm. „Mario, ich melde mich“, dann legte er einfach auf.

„Sollten Sie nicht auch drinnen sein?“ Er grinste schief. Oder versuchte es zumindest.

Anna schüttelte den Kopf. „Nehmen Sie den Rollstuhl und holen Sie ihn. Das ist zu anstrengend für ihn. Außerdem muss er nur einmal ausrutschen und unglücklich fallen…“ Sie ließ den Satz offen. „Jetzt machen Sie schon.“ Aufmunternd lächelte sie ihn an und lehnte einen Regenschirm an die Bank, auf der er saß.

Philipps Blick ging von eben jenem Schirm zum Rollstuhl und weiter in den Regen und wieder zurück zum Regenschirm.

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