Kapitel 84 – Millionen Lichter



„Und wie muss die aussehen?“, wurde hartnäckig weiter gefragt.


Natürlich hatte jeder seine Wunschvorstellung wie seine Traumfrau aussehen musste. Auch Holger, das konnte er nicht leugnen, aber das Aussehen war nicht das Wichtigste. Das wollte er auch den Kindern vermitteln. „Das Aussehen ist nicht das entscheidende. Wenn man einen Menschen wirklich liebt, dann ist es ganz egal, ob die Haare blond oder braun sind, die Körpergröße zu klein oder die Augenfarbe nicht strahlend blau ist. Das Innere eines Menschen ist das, was ihn liebenswert macht.“


Natürlich war das nicht wichtig für Holger. Immerhin war er ja nun mal klein und seine Augenfarbe auch nicht wirklich definierbar. Richtig braun waren seine Haare auch nicht, einige nannten es Straßenköterblond, wobei Philipp auch eher für braun war. Aber wenn man ihn nicht richtig definieren konnte, wie sollte Holger dann seinen Traumpartner beschreiben können?


Kurz suchte Holger den Blick zu Philipp, hoffte, dass er die Fragerunde irgendwie auf ein anderes Thema lenken würde, doch er starrte ihn nur perplex an. So als hätte er gerade eine Überraschung erlebt. Moment mal...
Holger öffnete panisch die Augen, wandte rasch den Blick ab und überlegte, wie er das noch retten konnte. Jetzt wo er die Worte nochmal in Erinnerung rief, spürte er ein beklemmendes Gefühl um seine Brust. Das war zu offensichtlich, dass er damit nicht Sarah meinte. Gar nicht meinen konnte. Wann war sie denn bitteschön für ihn da?


Dieser sah ihn kurz an und Philipp erschien er so als würde er kurz stocken, schaute sogar fast schon panisch. Konnte er etwa in seinem Blick lesen, dass er Bescheid wusste? Oder es zumindest ahnte? Bevor Holger es nicht explizit sagte, konnte er es einfach nicht genau wissen. Oder er traute sich einfach nicht den Gedanken in ein Wissen zu ändern, was er hatte.


„Aber ich habe eine Vorliebe für blonde Frauen“, fügte er schmunzelnd hinzu. Ein Schmunzeln, was nicht echt war. Und Worte, die eine glatte Lüge waren. Zumindest teilweise. Im Moment hatte er nur eine Vorliebe für Philipp. Einen braunhaarigen, kleinen, erfolgreichen Mann.


Philipp horchte auf. Hatte er das? Ja, klar, Sarah. Sein Alibi. Wollte er sich jetzt vor ihm rechtfertigen? Oder eher schützen? Die Lüge – wenn sie denn wirklich eine war – weiter leben?


Unbeholfen richtete Holger seinen Blick wieder auf den Kapitän, in der Hoffnung, er hatte sich doch nicht verraten und er aus einem Grund so durch den Wind schien. Gar nicht auszudenken, wenn Philipp es jetzt wusste! Zumal er dann auch um die Erkenntnis reicher war, dass Holger ihm eiskalt ins Gesicht log. Holger fühlte sich sichtlich unwohl. Nicht wegen den immer noch erwartungsvollen Gesichtern der Kinder, sondern weil er mit nur ein paar unüberlegten Sätzen, die er aber wirklich ernst meinte und aus voller Wahrheit aussprach einen bisher tollen Nachmittag zerstören konnte.


Verständnislos sah Philipp ihm entgegen, als Holger es wieder wagte ihn anzusehen. Er verstand gerade wirklich gar nichts mehr. Kurz trafen sich ihre Blicke, aber es war Philipp, der seine Augen wieder abwandte.


„Was wollt ihr denn noch wissen?“, fragte er gut gelaunt in die Runde und rief somit ein komplett anderes Thema hervor. Vielleicht war es besser so. Vor allem konnte er selber so erst mal abschalten. Zumindest wollte er das, aber immer wieder blieb sein Blick an dem Jüngeren hängen. Er musste wissen, was genau da los war. Ob Mario da mehr wusste? Bastian ja offensichtlich nicht…


Überrascht über die gut gelaunt klingende Frage drehte er seinen Kopf wieder zu Philipp. Der seltsame Ausdruck im Gesicht des Kapitäns schien wie weggefegt. Vielleicht sah auch Holger nur wieder Gespenster und er hatte sich damit gar nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt. Bestimmt machte er sich wieder zu viele Gedanken darüber, hoffte der Blonde zumindest, dass dem so war.


Die Kinder stellten noch einige Fragen zum Thema Fußball. Philipp und er antwortete abwechselnd auf die Fragen, ehe die Kinder von ihren Betreuern zum Abendessen gerufen wurden.


„Geschafft“, lächelte er Philipp froh an. „Es hat echt Spaß gemacht mit den Kindern“, fand er und wollte ihm klarmachen, dass er es gut fand mitgekommen zu sein. Er missachtete die Ausdruckslosigkeit des Kapitäns, mahnte sich selber dazu, nicht immer den Teufel gleich an die Wand zu malen.


Philipp nickte, lächelte nur leicht, fast nicht sichtbar. „Ja, das stimmt wohl. Es war ein schöner Nachmittag.“ Vor allem aber auch ein aufschlussreicher. Zumindest für ihn. Wie Holger das sah, wusste er nicht.


Die beiden marschierten wieder zum Hof, weswegen Holger ohne lange zu überlegen Philipps Blick suchte. „Gehen wir nochmal kurz zu den Hasen, oder willst du schon fahren?“, erkundigte er sich sicherheitshalber, obwohl er damit rechnete, dass er auch nochmal zu den Tieren wollte. Er sagte ja auch, dass er sich danach noch Zeit nehmen wollte, um das Gelände zu besichtigen, oder? Holger war schon einen Schritt Richtung Häschen gegangen, bevor er den Kapitän erwartungsvoll ansah. Oder war es doch besser wieder zu zweifeln? Dass er zu viel verraten hatte und Philipp ihm auf die Schliche kam?


Der Kapitän sah auf, stellte fest, dass Holger schon dabei war zu den Hasen zu gehen. Konnte er das? Jetzt mit ihm Zeit verbringen und so tun als wäre nichts? Das ging nicht. Holger würde auch nichts sagen, egal ob Philipp fragte oder nicht. Am Ende würde das alles eh im Streit enden, er sah es schon kommen. Deswegen entschloss er sich hier für heute einen Schlussstrich zu ziehen.
„Ich möchte fahren“, offenbarte er ihm also. „Ich bin müde. Der Tag war anstrengend.“ Ganz die Wahrheit war es nicht, aber das war in diesem Moment egal.


Holgers Lächeln erstarb, als die Worte ihn wie eine Ohrfeige trafen. Er hätte nicht geglaubt, dass Philipp ablehnen würde, da er es doch immer ausnutzen wollte, wenn der Blonde schon mal gut gelaunt und unternehmungslustig war. Aber es war nicht nur die Aussage, dass er fahren wollte, die Erklärung erschien ihm sehr suspekt und die Art, wie er das sagte, behagte Holger noch weniger. Für ihn klang das so distanziert. Ganz und gar nicht typisch für den warmherzigen Kapitän.


Philipp wandte sich in Richtung der Autos und schritt langsam voran. Es kam ihm selbst so vor als würde er keine Widerrede dulden, dabei war er normaler weise jemand, mit dem man reden und Kompromisse schließen konnte. Aber heute nicht. Nicht jetzt. Nicht, wenn er nicht wusste, was da los war, was mit Holger los war. Oder vielleicht auch mit ihm. Er musste nachdenken. Über so vieles. Aber vor allem brauchte er Antworten. Es festigte sich der Gedanke, dass er sich doch einfach mal mit Mario treffen könnte. Es war nicht so, dass er das nicht ohnehin vorgehabt hatte, aber der Zeitpunkt erschien ihm einfach perfekt. Vorausgesetzt er wusste was. Wenn es denn was zu wissen gab, aber da war Philipp sich fast sicher. Es würde so vieles erklären. In erster Linie wohl auch sein Kaffeeshirt. Sollte er es ansprechen? Nicht jetzt. Aber er nahm sich vor, dass er es tun würde. Wobei er dann auch erklären musste, warum Holgers Jacke noch bei ihm im Schrank hing, oder? Warum war das eigentlich so? Eine gute Frage. Er sollte sich später eine Begründung dafür ausdenken, bevor er Holger wegen dem Shirt ansprach.


Ohne auf eine Erwiderung zu warten, schritt dieser Richtung Auto und ließ Holger perplex stehen. So fühlte es sich also an, wenn man vor den Kopf gestoßen wurde... ob Philipp sich in Vail wohl so gefühlt haben musste?
Nein, das konnte man nicht vergleichen. Er wusste doch, dass man seine Ausraster nicht persönlich nehmen durfte. Außerdem war es nicht der Kapitän, der sich in ihn verliebt hatte. Sondern Holger, wodurch ihm diese Ablehnung mehr traf. Was in diesem Fall wohl auch der springende Punkt war. Er hatte doch zu viel erzählt über seinen Traumpartner... wie sollte er seinen Kopf denn jetzt noch aus der Schlinge ziehen?

Für einen Moment war Philipp in Versuchung sich umzudrehen und auf Holger zu warten als er nicht hörte, dass er ihm folgte, aber dann schloss er doch irgendwann auf. Es war auch besser so. Sonst hätte er vermutlich nicht gewusst, was er hätte machen sollen, was er hätte sagen sollen. Er wusste ja nicht mal, was er denken sollte.


Nachdenklich folgte er Philipp, bis er zu ihm aufgeholt hatte. „Es ist doch alles in Ordnung...“ Mit uns, fügte er stumm hinzu. „Oder?“ Hilflos sah er ihn an, wollte ein Lächeln sehen. Wollte, dass er ihn jetzt einfach angrinste, sein Handgelenk packte und ihn zu den Häschen zog. Oder zurück aufs Gelände, welches sie eigentlich noch gemeinsam besichtigen wollten.


Philipp schielte zu ihm, bemerkte den Blick, der auf ihm lag und richtete die Augen wieder nach vorne. „Ja, alles gut“, bestätigte er nicht ganz wahrheitsgemäß. Ihm war irgendwie nicht wohl dabei. Er wollte Holger nicht anlügen, aber er wollte und konnte auch nicht darüber reden. Aber er wollte Gewissheit haben. Was für eine verstrickte Situation.


Holger kaufte Philipp diese Worte nicht ab. Sie vermittelten ihm deutlich genug, dass nicht alles gut war. Die monotone Stimmlage riefen bei Holger genug Skepsis hervor. Er überlegte, ob er in die Offensive gehen sollte. Ob er fordern sollte, dass er ihm doch noch das Gelände zeigte, nur damit er sicher sein konnte, dass wirklich alles in Ordnung war... oder eben nicht und er die schreckliche Gewissheit erhielt, dass Philipp wirklich über alles Bescheid wusste. Nein, dann konnte er garantiert nicht mehr so einfach mit ihm ins Auto steigen. Die Situation schüchterte ihn ja jetzt schon enorm ein.


Holger hatte keinen Moment daran gedacht den Autoschlüssel zu zücken. Auch nicht, als sie vor seinem Audi zum Stehen kamen. Er wusste es doch. Er hatte es immer gewusst, dass diese Wahrheit nur Ablehnung und Enttäuschung barg.

Auch wenn Holger hoffte und inständig betete, dass es doch einen anderen Grund für Philipps Verhalten gab, glaubte er dennoch, dass er der Wahrheit dicht auf den Fersen war. Der Blick des Innenverteidigers ging zu Boden, suchte das schwarze Loch, das sich unter seinen Füßen augenblicklich auftun sollte.


Und es blieb eine verstrickte Situation bis sie vor dem Auto standen. Holger rührte sich nicht, zückte nicht mal den Schlüssel. Philipp sah ihn erst jetzt wieder richtig an und musterte ihn. Beinahe wie ein kleiner Junge stand er dort und schaute zu Boden. Er tat ihm sogar leid. In ihm kam der Impuls hoch ihn einfach zu umarmen, aber er ließ es bleiben. „Schließt du auf?“


„Was?“ Ertappt sah er zu ihm auf und merkte erst jetzt, dass sie wie bestellt und nicht abgeholt vor den verschlossenen Türen des Autos standen. „Ja klar“, nickte er hastig und zog den Schlüssel hervor. Die Lichter des Audis blinkten, als Zeichen, dass die Türen nun entriegelt waren. Stumm stieg Holger ein und hatte sogar kurz darüber nachgedacht, ob er Philipp nach Tipps für sein Date fragen konnte. Sein Date mit einer Frau... einer imaginären Frau. Nur um ihn wieder weiter weg von der Wahrheit zu locken, allerdings konnte das auch ziemlich nach hinten losgehen, wenn der Kapitän sich längst zu sicher war. Mit jeder weiteren Lüge würde es Holger dann nur noch schlimmer machen.


Seufzend startete den Wagen, als Philipp die Autotür geschlossen hatte.
Während der Fahrt herrschte auf beiden Seiten eisernes Schweigen. Holger nahm sich jede Minute aufs Neue vor etwas zu sagen, aber wusste einfach nicht was und ließ es deshalb bleiben. Dennoch konzentrierte er sich nur noch auf den Verkehr und die möglichen Worte, die er aussprechen könnte, dass er sein Auto gezielt in seine eigene Einfahrt lenkte.


Gedankenverloren starrte Philipp aus dem Fenster. Er wusste gar nicht mehr, was das alles sollte. Egal, wie er es drehte und wendete, immer kam etwas anderes heraus. Es war zum Verrückt werden. Irgendwie hatte er aber auch Angst sich auf etwas zu versteifen. Als er das erste Mal dachte, dass Holger mehr von ihm wollte, war er immerhin ziemlich erschüttert gewesen, dass dem doch nicht so war. Und auch da, war er sich sicher gewesen. Was, wenn es jetzt eine ähnliche Situation geben würde?


„So... gut, dass wir da sind, mein Knie macht sich langsam bemerkbar.“ Gerade, als der Satz zu Ende gesprochen war, schaute er entsetzt zu Philipp... den sollte er doch zu Hause abliefern und nicht mit zu sich nehmen.


Philipp sah auf und stellte fest, dass sie bei Holger angekommen waren. Er nickte. „Du hättest vielleicht doch die Krücken mit-… warum guckst du so?“ Während des Satzes hatte er sich dem Jüngeren zugewandt, der ihn entgeistert anstarrte. „Stimmt irgendwas nicht mit deinem Knie? Du bist doch jetzt Zuhause.“


Holgers entsetzter Blick wurde von Sekunde zu Sekunde entgeisterter. Er blinzelte den Kapitän sogar ein paar Mal völlig irritiert über dessen Reaktion an. Dieser schien gar nicht zu begreifen, was nun eigentlich falsch gelaufen war. Er hatte doch sicher auch nicht damit gerechnet, dass Holger ihn nicht nach Hause bringen würde. Oder etwa doch? Weil er ja wusste, dass der Blonde seine Nähe suchte...


„Soll ich noch mit hochkommen und dir was zum Kühlen geben bevor ich fahre?“ Es wäre für ihn selbstverständlich, dass er da half, immerhin war Holgers Knie wegen ihm so lädiert.

Allerdings hatte Philipp die Frage gerade ausgesprochen, da verstand er, was los war. „Oh“, entfuhr es ihm nur und er richtete den Blick wieder durch die Scheibe. Ihm war auch gar nicht aufgefallen, dass Holger ihn ja eigentlich zu sich hätte bringen müssen.


So langsam schlossen sich die Kreise, doch gerade als er anfangen wollte sich zu verteidigen, unterbrach der Blickkontakt und Philipp begriff, warum er so seltsam reagierte.


„Na ja, komm, wir kümmern uns erst um dein Knie, damit du es nicht mehr belasten musst und dann sehen wir weiter.“
Das schien doch ein guter Plan zu sein, oder? Philipp redete es sich zumindest ein. Allerdings ging es inzwischen auch schon auf die sieben Uhr am Abend zu und er spürte leichten Hunger in sich aufsteigen. Er sollte nicht zu lange bei Holger bleiben, wenn er noch irgendwie nach Hause musste und nicht ganz verhungert da ankommen wollte. Am besten er nahm sich später einfach ein Taxi.


Philipp stieg aus dem Wagen und ging um das Auto herum zur Haustür, wo er auf den Innenverteidiger wartete.


Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg der Kapitän deutlicher schneller aus dem Auto, als Holger es im Moment möglich war. Er trat mit dem linken Bein auf und zog sein rechtes hinterher, bevor er es auf dem harten Beton aufkommen ließ. Danach versperrte er sein Auto und ging auf den wartenden Philipp zu.


Ihm fiel auf, dass er gar nichts mehr erwidert hatte, bis auf die Blicke, die er ihm zuwarf. Aber was sollte er schon sagen? Dass er sich total darüber freute, dass der Kapitän ihm wegen den Knie behilflich sein wollte? Dass sich ein angenehmes Gefühl in ihm ausbreitete, dass Philipp Zeit mit ihm verbrachte? Da schwieg er lieber, formte aber ein weiches Lächeln auf seinen Lippen, während er die Haustür aufschloss und zusammen mit Philipp in den Aufzug marschierte, der sie sicher zu seiner Wohnung brachte.


Holger schwieg, was auch okay war. Philipp blieb das Lächeln aber nicht verborgen. Er wusste es allerdings nicht richtig zu deuten. Nicht mit diesem Wissen, was er hatte… also, wenn er denn Recht hatte. Oder um es anders auszudrücken: er wusste es vor diesem Hintergrund nicht richtig zu deuten. Vielleicht war es aber auch besser, wenn er es ignorierte.


Der Wohnungsschlüssel gab dann auch den Weg in das Apartment frei. Der Hausherr war der erste, der in den Flur trat, ehe er sich lächelnd zu Philipp umdrehte.

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