Kapitel 1 - Der Albtraum beginnt von Neuem


Die leichte Trainingseinheit vom Morgen des 18. Mai 2013 war beendet und die Mannschaft saß im Besprechungsraum des Hotels. Wie immer sollte die Taktik noch einmal kurz besprochen werden, ehe es später Richtung Stadion ging. Eigentlich war alles wie immer. Aber Philipp sah schon, dass irgendwas nicht stimmen konnte, als Jupp Heynckes den Raum betrat.
„Jungs… ich habe gerade einen Anruf aus München bekommen“, fing er an. „Holger hat sich heute Morgen erneut sein Kreuzband gerissen.“

„WAS?!“, entfuhr es Philipp und das Gemurmel in dem Raum begann.

Jupp sagte noch mehr dazu, aber Philipp nahm es gar nicht wahr. Er dachte an Holger. Er fehlte doch schon seit Dezember. Er war doch wieder im Training. Es lief nach der kleinen Operation zwischendurch doch gut. Warum? Warum dann jetzt? Er zückte sein Handy, wollte eine SMS schreiben, wusste aber nicht was. Lange starrte er auf das Handy. Es ging inzwischen nicht mehr um Holger, sondern um das Spiel. Er hörte trotzdem nicht zu. Er wusste genau, wie es Holger damals mitgenommen hatte und jetzt schon wieder. Warum? Das war unfair. Das hatte er nicht verdient!
Schließlich fand er doch einige Worte, die er Holger schickte.


//Scheiße! Gib dich nicht auf! Das wird wieder! Du bist einmal wieder aufgestanden, nachdem du gefallen bist, du wirst es wieder schaffen! Ich denke an dich//

~*~


Wieder das gleiche. Derselbe Zirkus ging von vorne los. Die OP, die Reha, die ganzen Behandlungen, während er den anderen dabei zusehen durfte, wie sie trainierten, herum alberten und die Spiele gewannen. Und wo war er? Auf der Tribüne. Klar, fühlte er sich immer noch wie ein Teil des Teams, daran würde sich nie etwas ändern, aber es war eben anders. Jetzt hieß es wieder ein halbes Jahr kämpfen und gerade jetzt verließ Jupp den FC Bayern.
Holger saß in seinem Wohnzimmer und starrte auf den Fernseher. Er wusste gar nicht, was er sich da ansah, ihn interessierte es auch nicht, aber er wollte diese Stille im Raum nicht. Plötzlich registrierte er das Piepsen seines Handys. Müde ließ er seinen Blick darauf schweifen und seufzte. Das war süß von Philipp. Er und die anderen hatten wohl gerade davon erfahren.


//Danke Phil, ist nett von dir. Wird sich zeigen, wie es weiter geht. Euch viel Glück für das Spiel.//


Die SMS war distanziert, aber er hatte keine Ahnung, was er schreiben sollte. Irgendwie fühlte er sich richtig leer. Fußball war sein Leben. Er hatte sich gefreut, bald wieder spielen zu können, auch wenn er immer wieder Schmerzen im Knie seit einiger Zeit verspürte.


~*~


Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Aber sie war alles andere als erfreut und irgendwie… Philipp seufzte stumm. Er würde Holger gerade gerne in den Arm nehmen und ihm sagen, dass alles gut werden würde. Wobei das sicherlich ziemlich seltsam aussehen würde, da er nun mal ein ganzes Stück kleiner war.
Er tippte eine Antwort und steckte das Handy danach wieder weg.


//Komm nicht auf die Idee wegzulaufen. Sobald wir wieder da sind, komme ich zu dir. Fühl dich gedrückt!//


Er sollte wenigstens etwas zuhören. Sein Blick fiel auf Bastian, der ihn musterte. Philipp schüttelte den Kopf. Es war alles gut. Dachte er zumindest.

~*~


Holger lachte bitter auf, als er Philipps SMS las und blickte abfällig auf die Krücken, die neben ihm standen.


//Sehr witzig. Wie soll ich denn mit diesem scheiß Knie weg laufen?//


Gut, er wusste, dass der Kapitän es vermutlich nur sinnbildlich gemeint hatte, aber trotzdem schmerzte so etwas. Wie gerne würde er normal laufen. Nicht humpeln. Holger beugte seinen Oberkörper nach vorne und vergrub das Gesicht in den Händen. Das war alles so unfair. Den ersten Kreuzbandriss steckte er ja gerade noch so weg, blickte schon richtig euphorisch nach vorne. Die nächste Saison sollte sein großes Comeback werden! Und jetzt? War all die harte Arbeit dahin. Ihm lief es jetzt schon eiskalt den Rücken runter, dass er nächste Woche nach Colorado fliegen musste, um sich operieren zu lassen. Konnte der Arzt nicht nach Deutschland kommen? Dann musste er wenigstens nicht herum reisen, wo es ihm doch sowieso schon mental nicht so gut ging?
Seine Gedanken switchten wie automatisch zurück zur Meisterfeier vor einer Woche. Es war so toll auf dem Rathausbalkon zu stehen und mit der Mannschaft zu feiern. Wissend, dass er bald wieder zurück im Training sein würde.


~*~


Die ersten Minuten verschliefen die Bayern total. Lagen schon nach fünf Minuten 0:2 hinten. Aber sie drehten das Spiel und gewannen noch 4:3. Das waren sie Jupp schuldig gewesen. Immerhin war es das letzte Meisterschaftsspiel für ihn. Jetzt standen nur noch die beiden Finals im Pokal und in der Champions League an. Aber daran dachte Philipp nicht. Er wollte nur noch nach Hause. Zurück nach München. Und vom Stadion aus dann direkt zu Holger.
Der Kapitän widmete sich nur den nötigsten Gesprächen. Manuel fragte ihn zwar, was wäre, aber Philipp blockte ab.
Es kam ihm vor als würde der Flug viel zu schnell vergehen. Ehe er sich versah, waren sie schon beim Stadion. Er lehnte es ab noch mit zu Bastian zu kommen.
„Sorry, ich hab noch was zu erledigen.“ Ich muss einem Freund helfen, fügte er in Gedanken hinzu und stieg in seinen Audi.


Während er im Auto saß, musste er an die Meisterfeier denken. Vor einer Woche war alles so gut. Sie haben ausgelassen gefeiert. Alle. Zwar hatte Holger eine Bandage, aber das war ja mehr zur Sicherheit und nicht zwingend notwendig. Das Bein kannte eben die Belastung noch nicht wieder so, aber die Meisterfeier hielt es aus. Lange. Sehr lange sogar. Philipp und er waren mit unter den letzten. Zwar feierten einige noch bei Franck weiter, aber für die beiden war Schluss.
Der FC Bayern hatte extra Fahrdienste organisiert. Gemeinsam mit Tom Starke und dem ziemlich fertigem David Alaba hatten sie sich ein Auto geteilt. Zuvor hatten sie dem Fahrer ihre Adressen genannt. Der Wagen war eine Art kleine Limousine. Der Fahrer war durch eine Trennwand von den Sitzen abgetrennt.
Erst wurde Tom und anschließend David nach Hause gebracht. Dann hielt das Auto vor Holgers Haus.
„Isch muss hia rausch“, stellte dieser breit grinsend fest.

„Schaffsu alleine nach ob’n?“, fragte Philipp sicherheitshalber. Beide waren doch ziemlich angetrunken und zusammen mit der Müdigkeit war die deutsche Sprache erst recht eine schwere Sprache.

„Klar“, Holger nickte eifrig und wollte über Philipp zur Tür krabbeln, als er mit seinem Fuß irgendwo hängen blieb und halb auf den Kapitän fiel. „Ups.“

„Alles okee?“, fragte dieser besorgt und half Holger wieder hoch. Also so hoch, wie es in dem Auto nun mal ging.

„Ja, ja“, Holger nickte eifrig und sah Philipp an. Wollte sich bedanken für die Hilfe, aber kein Wort verließ seine Lippen. Er blieb an seinen Augen hängen.

Philipp versank in den blauen Meeren und ohne groß nachzudenken, legte er eine Hand in Holgers Nacken, beugte sich vor und küsste ihn kurz, aber mit Nachdruck. „Gute Nacht.“

Holger blinzelte kurz mit den Augen. „Gute Nacht.“ Dann verschwand er aus dem Auto.

Sie hatten noch nicht über den Vorfall geredet und Philipp wusste nicht mehr alles von dem Abend, aber das wusste er noch. Allerdings war er sich nicht sicher, ob er sich da nicht nur etwas eingebildet hatte oder ob es Wirklichkeit gewesen war.
Nur warum musste er ausgerechnet jetzt daran denken?
Er seufzte, als er das Auto parkte und ausstieg. Eigentlich war er hier, weil er doch wusste, wie froh Holger war, dass er endlich wieder trainierte und ihm beistehen wollte. Irgendwie.
Mit einem komischen Gefühl in der Magengegend klingelte er schließlich und hoffte, dass ihm geöffnet werden würde.

Als es klingelte, fiel Holgers Blick auf die Uhr. Die Mannschaft war also schon zurück? Oder war es etwa seine Mutter, die ihm eine Stütze sein wollte? Nein, das konnte er sich im Moment nicht vorstellen. Umständlich griff er zu den Krücken, aber nicht ohne ihnen einen bösen Blick zu schenken, als wären diese Schuld an dieser ganzen Misere. Holger begab sich humpelnd zur Tür, würde sich aber gar nicht wundern, wenn derjenige der vor der Tür stand, schon wieder abgehauen war, weil es so lange dauerte. Außer es handelte sich um Philipp... er hatte sich ja indirekt angekündigt. Aber ob er das gut heißen sollte? Philipp war Familienvater. Nicht sein persönlicher Betreuer. Obwohl das zugegebenermaßen schon lieb von ihm war. Holger öffnete mühselig die Tür und stützte sich dann wieder auf die Krücken. „Hey“, begrüßte er ihn zurückhaltend. „War ja ein spannendes Spiel gegen Gladbach“, murmelte er. Wenn er ehrlich war, hatte er im Internet nur nach dem Ergebnis geschaut und den Ticker ein wenig überflogen. Aber ansehen wollte er es nicht. Auch wenn er Fußball über alles liebte. Egal, ob auf der Play Station oder im realen Leben, so schmerzte es, jetzt mit so etwas in Berührung zu kommen.
„Komm doch rein.“ Holger drehte sich weg und begab sich wieder langsam zurück ins Wohnzimmer, in der Hoffnung Philipp würde ihm folgen.

Es schmerzte Holger so zu sehen, als dieser ihm endlich die Tür öffnete. Am liebsten hätte Philipp ihn sofort in seine Arme gezogen, aber es ging nicht.
„Danke“, nuschelte er, nachdem Holger ihn rein gebeten hatte. Er humpelte direkt wieder ins Wohnzimmer. Langsam folgte Philipp ihm.
„Kann ich dir helfen?“, fragte er als Holger sich auf das Sofa setzen wollte, aber dieser wehrte ab.

„Geht schon.“

Unsicher setzte sich Philipp neben ihn. Was machte er eigentlich hier? Vielleicht hätte er sich das vorher mal überlegen sollen. Mit einem Mal kam er sich ziemlich blöd vor.
„Holger, ich…“ , er wollte etwas sagen, aber wusste nicht was. Er sah ihn einfach nur an und er wusste genau, dass sein Gesicht von Mitleid nur so geprägt war.

Holger drehte seinen Kopf zu Philipp und runzelte die Stirn. Fehlten ihm jetzt schon die Worte? Man konnte dem Älteren keinen Vorwurf machen, denn was sollte man zu dieser erneuten Verletzung schon groß sagen, außer dass es scheiße war?

Vorsichtig legte Philipp eine Hand auf Holgers Oberschenkel. „Es tut mir so leid“, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sein Gesichtsausdruck zeigte so viel Mitleid, aber das half Holger leider nicht.

Die Mundwinkel des Innenverteidigers zuckten leicht nach oben. Allerdings mochte er die Blicke nicht, die ihm zuteil wurden. Er bemitleidete sich ja selbst schon genug. Der Blonde seufzte und betrachtete weiter die Hand auf seinem Bein.
„Ich hab mich so auf die kommende Saison gefreut“, flüsterte er ebenso so leise wie Philipp, während seine Unterlippe leicht zuckte. Holger wollte nicht anfangen zu weinen. Er war doch kein Kind mehr.

Philipp konnte in diesem Moment nicht anders, legte ihm seine Arme um und zog Holger an sich. Er strich sanft über seinen Rücken.

Etwas überrascht ließ Holger sich in die Umarmung gleiten und schloss einen Moment genießerisch die Augen.

„Ich weiß“, immer noch war Philipps Stimme sehr leise. „Ich weiß das doch…“ Und wie er das wusste. Die letzten Wochen musste man gar nicht mit Holger reden, um das zu wissen, denn man konnte ihm diese Freude ansehen. Endlich wieder Fußballspielen nach einem halben Jahr. Und der Zeitpunkt wäre perfekt gewesen. Er hätte in der Vorbereitung wieder einsteigen können und sich dem neuen Trainer beweisen können. Hätte…
„Aber du wirst wieder. Dein Bein wird wieder. Du wirst wieder so gut spielen können wie vor deiner Verletzung, wenn nicht noch besser.“ Eigentlich wusste Philipp, dass es gerade wohl egal war, was er sagte, aber es war ihm ein Bedürfnis das zu sagen. Genau wie es ihm ein Bedürfnis war die ganze Zeit beruhigend über Holgers Rücken zu streichen.

Das beruhigende Streichen tat unwahrscheinlich gut, auch wenn er zu Philipps Worten nichts sagte und nur leicht nickte. Er konnte dem nicht ganz so euphorisch entgegen blicken wie der Kapitän. Aber der wollte ihn vermutlich sowieso nur aufmuntern und damit bezwecken, dass er nicht aufgab. Das hatte Holger auch nicht vor. Fußball war sein Leben, dafür kämpfte er. Aber trotzdem war es schwierig... es würde nach dieser Ruptur noch schwieriger werden sich zurück in die Stammelf zu kämpfen. Er dachte kurz zurück an das Versprechen, dass ihm Jupp dieses Jahr gab. Er durfte noch diese Saison einen Einsatz bekommen, wenn er fit war. Jetzt war Jupp weg und Holger wieder außer Gefecht.
Holger musste sich zusammenreißen, dass keine Träne sein Auge verließ, weswegen er sich aus dem Griff befreite und seine Krücken in die Hand nahm. Wie er die hasste. Aber sie waren nunmal notwendig. Und das hasste Holger wohl noch weitaus mehr. Die Tatsache, dass er diese „Hilfe“ brauchte.
„Was bin ich nur für ein Gastgeber“, meinte er gespielt lächelnd, „Ich bring dir mal was zu trinken.“
Holger beeilte sich, so gut es eben mit Krücken klappte, aus dem Wohnzimmer zu fliehen.

Philipp sah Holger nach, als der in die Küche humpelte. Er wollte ihm erst sagen, dass es nicht schlimm war, er könnte auch selber gehen und sich was holen. Aber irgendwas sagte ihm, das Holger das selber machen wollte. Er war nun mal niemand, der sich gerne bemuttern ließ. Das akzeptierte Philipp auch. Er wollte auch nicht lange bleiben eigentlich… vielleicht sollte er Claudia eine SMS schreiben, dass er später kam.

In der Küche angekommen, lehnte der Innenverteidiger eine der Krücken an das Küchenbord und streckte sich dann, um an die oberen Schränke zu kommen, damit er an ein Glas gelangen konnte. Er bekam eines zu fassen, stellte es an den Rand der Küchentheke und holte ein zweites heraus, das er auch hinstellen wollte, stieß mit den Ellenbogen aber gegen seine Krücke, die zu Boden fiel. Augenrollend und sichtlich genervt wollte er sich runter beugen, räumte aber, da er sich zusätzlich abstützen musste, auch noch eines der Gläser mit runter, das sich in einige Scherben spaltete.

Die SMS war gerade raus, als Philipp Geräusche aus der Küche hörte. Es klang, als wäre die Krücke zu Boden gefallen. Als kurz darauf aber ein Glas auf den Fliesen zersprang, stand Philipp auf und schaute, was da los war. „Verdammt“, hörte er Holger fluchen, bevor er um die Ecke bog. Der Innenverteidiger hatte den Blick auf die Scherben gerichtet.
„Wo ist denn der Handfeger?“, fragte er lediglich und ging nicht weiter auf das ein, was sich ihm da bot.

Holger zuckte zusammen und sah zu Philipp auf. „In de-“ Eigentlich hatte er sagen wollen, dass er im rechten Schrank war, doch er schüttelte den Kopf und rappelte sich hoch. „Ich kann das allein. Du musst mir nicht helfen.“ Der Blonde humpelte zum Schrank und holte das Teil heraus, doch auf Krücken und mit der Schiene, die er trug, stellte sich das etwas komplizierter heraus als erwartet.

Philipp seufzte leise. „Komm, lass mich das machen.“ Er ging auf Holger zu und wollte ihm den Handfeger aus der Hand nehmen. Er fasste ihn auch an und suchte Holgers Augen. Er wollte ihm zeigen, dass es okay war. Das war doch nichts Schlimmes. Mit Krücken ging das nun mal nicht gut.

„Nein“, widersprach er leise. Als er Philipp dicht neben sich wahrnahm und auch die Hand an seiner bemerkte, riss dem Innenverteidiger der Geduldsfaden. Er wollte das selbst machen. Sich selbst zeigen, dass alles normal war. Dass nicht schon wieder eine verdammte Verletzung ihm alle Pläne durcheinander warf und ihn ein halbes Jahr lang schuften ließ, nur damit dann vielleicht gleich wieder was passierte. Oder auf der Ersatzbank zu versauern, wenn er sich nicht schnell in die Mannschaft eingliederte. Das war nicht einfach bei einem neuen Trainer, den man noch nicht einschätzen konnte. Zu dem noch jedes Vertrauen fehlte.
„Hör auf, ich kann das allein!“, zischte er bissiger als gewollt und stieß den Außenverteidiger von sich. Geschockt machte Holger sich bewusst, was er da gerade anstellte. Philipp konnte doch nichts dafür, er war sogar so lieb und kam vorbei, um ihm beizustehen.

Überrascht stolperte Philipp zurück und knallte mit dem Rücken an den Griff der Kühlschranktür. Ein keuchender Laut entfuhr ihm und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Das war wirklich unschön.
Er atmete kurz durch, während er Holger ansah. Dieser zeigte ganz deutlich Reue.
Philipp stieß sich vom Kühlschrank ab und nahm dem Innenverteidiger das Kehrblech einfach aus der Hand. Er kehrte die Scherben weg und schmiss sie in den Müll, den er unter der Spüle auch richtig vermutete. Da er gesehen hatte, wo Holger das Kehrblech geholt hatte, konnte er es auch wieder wegstellen.

Holger beobachtete Philipp beim Wegräumen der Scherben. Der Innenverteidiger wagte nichts mehr zu sagen, obwohl er ihn fragen wollte, ob er sich sehr wehgetan hatte. Den keuchenden Laut und den dumpfen Zusammenstoß hörte der Jüngere nämlich sehr wohl. Aber er brachte das nicht über seine Lippen. Nicht mal ein „Entschuldigung, das wollt ich nicht“ kam ihm über die Lippen, obwohl es ihm richtig leid tat. Und diese Stille jetzt war unerträglich.

Danach ging Philipp zurück ins Wohnzimmer. Das alles verlief schweigend ab.

Mühselig rappelte sich auch der Blonde wieder auf und hopste ins Wohnzimmer zurück. Zum Stehen kam er direkt vor dem Fenster. Die Sonne schien, das Wetter war perfekt für Ausflüge ins Grüne. Aber nicht mal aus der Stadt rausfahren konnte er, weil er nicht Autofahren durfte. Seufzend senkte er seinen Blick. Hoffentlich hatte sich Philipp nicht zu sehr weh getan und das schmerzverzerrte Gesicht war nur auf den Schockmoment zurückzuführen.

Nachdem er sich aufs Sofa fallen ließ, rieb Philipp über die Stelle am Rücken. Wieder verzog er das Gesicht etwas. Es tat schon etwas weh, aber das war wohl mehr der akute Schmerz aus der Situation raus gewesen.
Ein trauriges Lächeln bildete sich auf Philipps Lippen, als Holger schweigend zum Fenster humpelte, seufzte und den Blick senkte. Er stand auf und stellte sich einfach zu Holger ans Fenster. Der Kapitän musste einen Moment überlegen. Er wusste nicht wirklich, was er sagen sollte. Es gab so schon oft Momente, da wusste er es nicht, aber jetzt? Er wollte vorschlagen, dass sie ja was unternehmen konnten. Aber was? Spazieren gehen im Englischen Garten?
„Ich hab überlegt bald eine Grillparty zu schmeißen, wenn nicht schon alle im Urlaub sind. Abschluss der Saison und so was. Meinst du, das wäre eine gute Idee?“ Das war nicht ganz gelogen, aber die Planung lief bereits, deswegen musste er Holger nicht zwangsläufig nach seiner Meinung fragen.

Holger lächelte erst leicht, als Philipp sich zu ihm stellte, dann aber gefror sein Gesichtsausdruck. Abschluss der Saison? Grillparty? Der Innenverteidiger schüttelte schnaubend den Kopf. Es war nicht böse gegenüber Philipp gemeint, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie er da dort stand mit seinen Krücken und den anderen dabei zuhörte wie sie über diese erfolgreiche Saison plauderten und was sie alles erreicht hatten. Ohne ihn. Das ging jetzt noch nicht. Nicht, wenn er noch nicht mal den Rehaplan für die kommenden Monate erhalten hatte.
„Keine Ahnung“, zuckte er mit den Schultern.

Eigentlich war Holgers Schnauben Antwort genug. Man, was sollte er denn machen? Er wollte nur helfen, aber Holger wollte das ja anscheinend nicht.
„Na ja, ich fahr dann auch mal wieder“, Philipp ging zum Tisch, auf den er seine Schlüssel gelegt hatte und drehte sich noch mal zu Holger um. „Du hast meine Nummer.“ Damit verschwand er aus der Wohnung, stieg in sein Auto und fuhr nach Hause.

Es wunderte Holger nicht, dass Philipp gegangen war. Wäre er an seiner Stelle auch. Aber das gerissene Kreuzband konnte man eben nicht so einfach mit Gesellschaft und nettem Zureden wieder flicken. Holger stützte seine Ellenbogen auf das Fensterbrett und betrachtete einen Baum, auf dessen Äste einige Vögel sich zwitschernd unterhielten. Die hatten so dürre Beinchen, die wohl nur aus einem einzigen Knochen bestanden. Kein Kreuzband, welches reißen konnte.
An was dachte Holger da nur? Er ermahnte sich aufzuhören. Sich nicht selbst zu bemitleiden, sondern zu kämpfen. Und vor allem erst mal die Operation abwarten.


Philipp parkte das Auto, legte seine Arme auf das Lenkrad und bettete seinen Kopf darauf. Er wusste nicht, wie lange er da saß, aber irgendwann klopfte es an die Scheibe. Erschrocken drehte er sich um. Claudia sah ihn besorgt an. Philipp lächelte leicht, ehe er ausstieg.


„Was ist denn los?“


„Holger hat sich das Kreuzband gerissen…“


„Wie? Schon wieder?“


Philipp nickte bloß. „Ich war grad kurz bei ihm.“ Das war Erklärung genug. Claudia fragte nicht weiter nach und für den Kapitän war das Thema gegessen. Er rechnete nicht damit, dass Holger sich melden würde. Er wusste nicht mal, ob er es ihm verübeln konnte. Er wollte doch nur helfen und es schmerzte irgendwie, dass er es nicht tun konnte. Aber damit musste er wohl leben. Er sollte auch nicht jammern. Holger hatte schließlich noch größere Schmerzen mit denen er fertig werden musste.

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