Kapitel 59 - Die drei magischen Worte



Ute erklärte ihm den Weg und dank den Schildern fand Philipp schnell dorthin. Er ging durch das kleine Tor. Weit geradeaus und nach dem großen Familiengrab der Müllers nach rechts… so schwer konnte das ja nicht sein.
Und er ging tatsächlich richtig. Schon von weitem erkannte er die schlanke Silhouette Holgers. Traurig hoben sich Philipps Mundwinkel und er wurde automatisch langsamer und leiser, je näher er ihm kam. Etwa zehn Meter entfernt blieb er stehen. „Holger…“, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und er wusste nicht mal, ob dieser ihn überhaupt hörte. Philipp wiederum hörte Holger, aber er verstand nicht, was er da sagte, dafür pfiff der Wind zu sehr in seinen Ohren. Er wusste aber nicht, ob es so nicht besser war. Die Worte waren an seinen Vater gerichtet und gingen ihn nichts an. Womöglich passte es ihm eh nicht, dass er hier war. An diesem besonderen Ort.
Der Kapitän ging weiter und sorgte dafür, dass seine Schuhe deutlich auf dem Kies zu hören waren, damit Holger ihn wahrnahm.

Holger nahm zwar Schritte wahr, aber reagierte nicht darauf. Er war damit beschäftigt sich an diesem Versprechen zu versuchen und den Kämpfer in sich wieder zu aktivieren, der sich so lieblos in die Ecke drängen hat lassen.

Stumm stellte Philipp sich neben ihn und schaute auf den Grabstein.

Lediglich aus dem Augenwinkel bemerkte er schließlich, dass diese Person, von der vermutlich die Schritte kamen, zu ihm wollte. Für Philipp war nicht das Grab das Ziel, sondern er. Ob Ute geahnt hatte, an welchem Ort er sich Hilfe versprach?

Irgendwie wusste der Kapitän nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich an die Situation im Park erinnert. Dort hatte er über das Wetter gesprochen, aber jetzt? Es erschien ihm falsch.

„Hey“, hauchte der Kapitän bloß, sah ihn aber immer noch nicht an.

„Du hattest Recht... du hattest die ganze Zeit über Recht“, sagte Holger leise und drehte sich nach diesen Worten leicht in Philipps Richtung. Es war jetzt egal, ob er seine geröteten Augen sah und wieder einmal mitansehen musste, wie er weinte.
„Ich werde meine Reha weitermachen und nicht eher nachgeben, bevor ich wieder mit euch auf dem Platz stehe.“

Überrascht sah Philipp ihn an und erschrak leicht über die geröteten Augen. Aber das war egal als eine gewisse Erleichterung ihn durchströmte. Es tat so unglaublich gut das zu hören.
Er konnte auch nicht anders als zu lächeln. „Ich bin froh“, gab er zu. „Endlich hast du den Kämpfer in dir wieder gefunden.“

„Hat auch lang genug gedauert“, flüsterte Holger und lächelte leicht. War er nicht deshalb auch immer so schlecht gelaunt? Die Tatsache, dass er unbedingt aufgeben wollte, aber im Unterbewusstsein längst entschieden hatte, dass er das niemals tun würde. Und auch nicht tun konnte, dafür liebte er den Fußball zu sehr. Sein Unterbewusstsein hatte sich schon mal zu Wort gemeldet und drängten die Gefühle für den Kapitän in sein Bewusstsein und auch jetzt abermals in seine Gedanken.

Philipp wandte sich jetzt ganz zu ihm und zog ihn in eine Umarmung. Für einen Moment waren der Streit, die Worte, die Ohrfeige vergessen. Es erschien unwichtig neben der Tatsache, dass Holger kämpfen würde. Da würden sie das andere auch noch hinbekommen. Hoffte Philipp zumindest.

Wieder waren seine Krücken im Weg den Kapitän auch zu umarmen, aber es ging Holger mehr darum endlich in seinen Armen zu liegen. Es war ihm klar, dass es schwer werden würde, aber wenn jetzt nichts mehr schief gehen würde, dann brachte er die Zeit schon irgendwie hinter sich.

„Warum bist du gekommen?“, fragte der Jüngere und löste sich nicht. Zumindest deutete er die Bewegung nicht an. Bestimmen, wann die Umarmung beendet sein würde, konnte immer noch Philipp, der seine beiden Arme zur Verfügung hatte.

Das war eine gute Frage. Sollte er die Wahrheit sagen? Aber das würde ihn sicher nur aufregen.
Er löste sich von ihm und lächelte etwas. „Ich hab mir Sorgen gemacht.“ Und das war nicht mal gelogen. „Ich habe eine Woche nichts von dir gehört und wollte nach dir sehen. Du weißt doch, du wirst mich nicht los oder hast du das schon vergessen?“ Ein leichtes Schmunzeln umspielte seine Lippen, ehe er ernst wurde.

„Willst du noch hier bleiben oder sollen wir zurück?“

Da Holger verneinte, machten sie sich gemeinsam auf den Rückweg. Sie schwiegen und Philipp wusste nicht, ob es eine angenehme Stille war oder nicht. Einerseits schon, aber andererseits stand immer noch so viel zwischen ihnen. So viel war unausgesprochen. Die Ohrfeige, die Sache mit Jupp, der Psychologe… wobei eigentlich alles zusammenhing, oder nicht?

Irgendwie war klar, dass sie direkt ins Gästezimmer gingen. Ute war wohl in der Küche, denn die Tür war zu und öffnete sich nicht. Sie wusste, wann sie sich zurück ziehen sollte. Stumm dankte Philipp ihr dafür, dass sie ihm geschrieben hatte. Er wusste nicht, wie er sich sonst bei Holger gemeldet hätte. Ob er es überhaupt getan hätte.

Im Gästezimmer ließ Holger sich auf dem Bett nieder. Philipp blieb erst noch stehen. Er musste da noch was loswerden. „Ich… die Ohrfeige tut mir leid“, er senkte den Blick. „Aber ich konnte in dem Moment nicht anders.“
Das war kein Thema, was er gerne ansprach, aber was sollte er sonst sagen? Außerdem musste es raus, sonst würden sie nicht gescheit miteinander reden können, das war ihm klar.

Skeptisch beäugte er Philipp, der anstatt sich zu setzen es anscheinend bevorzugte stehen zu bleiben. Holger dachte schon, er wollte vielleicht gleich wieder gehen, schließlich war er ja erst aus dem Urlaub zurückgekehrt. Aber als dann eine zögerliche Entschuldigung im Raum stand, schaute der Jüngere ihn fragend an. War es wirklich notwendig das alles nochmal neu aufzurollen?
Er seufzte leise und versuchte sich an einem leichten Lächeln. „Nach meinen Worten war die Ohrfeige berechtigt“, gab er zu. Solche Absichten, dass es sich gut in seinem Lebenslauf machte, wenn er einen kranken Krüppel pflegte, hätte er Philipp nicht unterstellen dürfen.
Auch wenn Holger das Thema gerne ändern würde, fiel ihm auf Anhieb nur die Frage ein, wie es im Urlaub war. Aber über das wollte er erst recht nicht reden.

Holger schien wirklich gewandelt zu sein. Er gab zu, dass die Worte nicht in Ordnung waren? Okay, nicht direkt, aber diese Definition ließ sich nach den Worten nun mal erschließen.

Die eben ausgezogene Jacke legte der Innenverteidiger über den Stuhl neben dem Bett und rutschte etwas weiter auf die Matratze.
„Willst du dich nicht setzen?“

Lächelnd kam Philipp aber der Aufforderung nach und setzte sich neben ihn. Es war wirklich seltsam, wie froh er plötzlich war, dass er wieder bei ihm sein konnte. Es war doch komisch gewesen auf Hawaii mit den Sorgen und ohne etwas von ihm zu hören.
Philipp lehnte sich leicht gegen ihn. Ihm fehlten gerade einfach die Worte.

Holger beschlich schon das Gefühl, dass Philipp verneinen und wieder gehen würde, aber dem war zum Glück nicht so. Vorsichtig hatte er sich gegen ihn gelehnt und der Jüngere war in Versuchung seinen Kopf einfach gegen Philipps zu lehnen. Zwar kam er diesem Verlangen nicht nach, aber doch spürte er die Präsenz dieses sonderbaren Gefühls, das sich danach sehnte in seinen Armen zu liegen.
„Nimmst du mich heute mit nach München? Ute hat bestimmt eh genug von mir und ich will morgen meine Reha anfangen", fragte er. Oder hieß es eher weitermachen? Am ersten Dezember fing er sie an, jetzt machte er also weiter.

„Klar“, Philipp nickte sofort. Da gab es keinerlei Zweifel. „Warst du die ganze Zeit hier? Sollen wir vorher noch einkaufen fahren?“ Der Kühlschrank war sicher leer. „Wir könnten die Woche mal zusammen kochen“, fiel ihm in dem Zusammenhang ein. Das war doch eine gute Idee oder nicht? „Was meinst du?“

Holger nickte etwas beschämt. Ja, er hätte die Reha weitermachen und sich nicht hierher verziehen sollen. Auch wenn Dr. Engbert ihm das aufgetragen hatte, fühlte es sich jetzt fast schon falsch an, so lange hier gewesen zu sein.

Noch bevor Holger antworten konnte, musste Philipp gähnen. Er hatte die Nacht alles andere als gut geschlafen. Die Zeitverschiebung war doch immer wieder etwas kräftezehrend die ersten Tage. Er gähnte auch direkt ein zweites Mal und wischte sich eine Träne von der Wange, die dabei aus seinem Auge gekullert war.

„Wenn's dir keine Umstände macht“, antwortete Holger und diese Aussage schien vollkommen berechtigt zu sein, da Philipp gähnte. Allerdings dachte er kurz über seinen Vorschlag nach. Zusammen kochen? Klang ganz verlockend, aber ... ja, wieso eigentlich nicht. Es brauchte doch nicht alles ein Aber.
„Zeitverschiebung, hm?“, vermutete er und lächelte Philipp gutmütig an, als dieser noch einmal gähnte und einen ausgesprochen müden und fertigen Eindruck machte. So sollte er vielleicht nicht unbedingt in ein Auto steigen.
"Du solltest dich noch ausruhen, bevor wir fahren,."

Gähnend nickte Philipp und ließ sich das nicht zweimal sagen. Er öffnete die Schnürsenkel, streifte sich die Schuhe ab und legte sich einfach hinter Holger aufs Bett.

Holger staunte nicht schlecht als Philipp sich sofort überreden ließ. Dann musste die Müdigkeit wirklich ziemlich heftig sein.

„Willst du dich auch noch ausruhen, oder was hast du vor?“, fragte er dann und war bemüht seine Augen auszuhalten. Die Müdigkeit kam wirklich plötzlich, aber es war nicht verkehrt, wenn er sich eine Stunde ausruhen würde. Nur ein bisschen, dann würden sie zurückfahren.

Seine Frage irritierte Holger dann aber doch. Vor allem, da er selbst keine Antwort darauf hatte.
„Ausruhen.“ Unsicher schaute er auf das Bett, auf dem sie sich wohl etwas zusammen kuscheln mussten, wenn sie beide Platz haben wollten.

Als Holger sich auch ausruhen wollte, lächelte Philipp leicht und schloss die Augen nun ganz. Dann lagen sie halt gemeinsam hier. Irgendwie erinnerte ihn das an Vail.

Zögerlich rutschte der Blonde auch noch ein Stück zurück, ehe er seinen Kopf eigentlich auf dem Kopfkissen niederlassen wollte, aber verfehlte und stattdessen zwischen Philipps Oberarm und Brust zum Liegen kam. Er redete sich ein jetzt nicht nervös zu werden, aber... es brachte nichts. Die Gefühle für den Kapitän waren dazu schon viel zu präsent, als dass er sie in solchen Momenten verdrängen konnte.

Überrascht zuckte Philipp zusammen und öffnete die Augen als er Holger auf sich spürte. Das Lächeln kehrte unwillkürlich zurück und er strich einmal durch seine Haare, ehe er die Augen wieder schloss. Ihm wurde immer deutlicher, dass Holger ihn brauchte. Erst das T-Shirt, dann die körperliche Nähe… aber war es nicht in Vail schon so gewesen? Und wenn er nur die Hand gegriffen hatte. Es war eine Bestätigung, dass jemand bei ihm war und Philipp war das nur zu gerne.

Der Innenverteidiger wollte nachfragen, ob die Position für Philipp so in Ordnung war, aber dieser streichelte über seinen Kopf und erteilte Holger so die Bestätigung, die er brauchte, um einigermaßen zur Ruhe zu kommen.

Zufrieden schlief Philipp dann aber auch schon ein. Die Müdigkeit hatte ihn einfach übermannt.

„Ich muss dir übrigens noch was zeigen“, fing er leicht lächelnd an, als er an das Bild, das der kleine Junge für ihn zeichnete, dachte. Philipp sollte es auch sehen. Geduldig wartete Holger auf irgendeine Reaktion, aber die kam nicht. Stirnrunzelnd sah er auf und erhaschte einen kurzen Blick auf die geschlossenen Augen. War er etwa schon eingeschlafen?
Vorsichtig stützte er seinen Ellenbogen aufs Bett und neigte seinen Körper, um sich leicht über Philipp zu beugen. Wieder konnte er den Blick nicht abwenden und merkte, wie sehr er sich doch danach gesehnt hatte ihm wieder nahe zu sein. Die schmalen Lippen waren so unglaublich nah, aber erschienen Holger doch so fern, wenn er sich daran erinnerte, dass Philipp Frau und Kind zu Hause hatte. Und auch sonst wäre der Innenverteidiger wohl die letzte Wahl des Kapitäns. Warum begriff das sein Herz nicht endlich und hörte in diesem Moment einfach mal auf wie verrückt zu schlagen?
„I-ich liebe dich“, hauchte er fast tonlos. Nicht mal, wenn Philipp wach gewesen wäre, hätte er es hören können. Sollte er auch nicht. Von diesem Geständnis durfte er niemals erfahren!
Er widersetzte sich nicht länger dem Verlangen und küsste seine Wange. Kein Hauchen, keine deutliche Scheu. Einfach nur dieser liebevolle Kuss, von dem es ihm für einen Augenblick egal gewesen war, ob er Philipp damit aufweckte.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0