Kapitel 8 - (Un)erträgliche Nähe



Langsam sah Holger auf, löste seinen starren Blick, der auf seinen Beinen lag, als es an der Tür klopfte. Ohne dass er darauf reagieren konnte, öffnete sich die Tür und Philipp trat ein. Schweigend und mit einer Miene, die Holger nicht deuten konnte, rutschte er den Stuhl ans Bett und setzte sich. Wie sollte er das jetzt interpretieren? Wollte Philipp nur die verbleibende Zeit hier absitzen?
Holger seufzte, zupfte nachdenklich an der Bettdecke und schaute Philipp nicht weiter an. Er wollte seinen undefinierbaren Gesichtsausdruck nicht sehen. Er wusste, dass er ihn verletzt hatte und jetzt noch in seine traurigen Augen blicken zu müssen, hielt der Innenverteidiger nicht aus. Das alles war schon schlimm genug.
Plötzlich spürte er zwei warme Hände, wodurch Holgers Kopf nach rechts schnellte. Philipp lächelte ihn leicht an, suchte Blickkontakt und hielt seine Hand in der seinen.
Holgers Gedanken rasten. Warum war er immer noch da und hielt immer noch seine Hand?
Sein Gesichtsausdruck war im ersten Moment ziemlich fragend, bevor seine Mimik weicher wurde. Dankbarer und freundlicher.
„Warum...“ Holger schluckte und schüttelte leicht den Kopf. Er wollte die Frage nicht stellen, sie sollte nicht über seine Lippen kommen, da er die Antwort nicht hören wollte. Wenn er Philipp jetzt fragen würde, warum er nach seinen Händen gegriffen hatte und trotz allem da war, würde er womöglich nur sagen, dass er es eben musste und sowieso bald wieder fliegen würde. Da konnte er die verbleibende Zeit eben noch hier herum sitzen.
Soviel wollte er Philipp sagen, sich entschuldigen für die erboste Zurückweisung, für das Ausschließen am Gespräch mit Dr. Steadman. Aber wie so oft schwieg Holger.
„Danke“, hauchte er nur, lächelte traurig und schaute wieder auf die triste weiße Bettdecke, die er wohl länger als geplant ertragen musste.

„Nicht dafür“, gab Philipp leise zurück. Er wünschte, er könnte mehr tun.

Eine Zeit lang saßen sie schweigend da.

Holger hatte nicht oft zu Philipp aufgesehen, dennoch genoss er es seine Hand in der des Kapitäns zu wissen. So albern das auch für Außenstehende sein mochte. Das Händchenhalten tat in diesem Fall unglaublich gut und beruhigte ihn.

Philipp wusste nicht, ob er diese Stille genießen konnte oder nicht. Sie war gleichsam angenehm wie erdrückend. Das Beste an dieser Situation war, dass Holger seine Hand nicht wegzog. Es zeigte ihm, dass er ihn brauchte und da haben wollte, egal was er auch sagte.

Irgendwie dachte der Innenverteidiger aber immer noch, dass Philipp eben hier blieb, weil es ein Auftrag war und sich deshalb nicht entzog.
„Du“, er räusperte sich leicht, „brauchst nicht hier bleiben. Morgen geht dein Flug und du hast bestimmt noch nichts von Vail gesehen, oder?“ Holger schaute müde lächelnd zu ihm. „Mit mir ist hier sowieso nichts mehr anzufangen. Also kauf ein paar schöne Souvenirs für Julian und Claudia.“ Es schmerzte. Und noch mehr tat es weh, dabei ein Lächeln im Gesicht tragen zu müssen. „Ich komm schon klar.“

Philipp wusste nicht, wie er das verstehen sollte. Wollte er ihn entlasten? Oder wollte er ihn loswerden? Er konnte sich keinen Reim auf das ganze machen.

Holger war in gewisser Weise gespannt, ob Philipp gehen würde. Wenn ja, hieß es dann, dass er froh war abhauen zu dürfen? Nein, da dachte der Innenverteidiger wieder zu schlecht. Obwohl er es dem Kapitän nicht mal verübeln konnte. Mit ihm war eben wirklich nichts anzufangen.

„Okay.“

Als Philipp nickte, versetzte er damit einen Stich in Holgers Herz. Was sollte das überhaupt? Holger wollte nicht, dass ihn das so mitnahm, er hatte es Philipp doch nahe gelegt zu gehen, was beschwerten sich dann seine Gefühle? Warum fühlte es sich denn jetzt so komisch an, weil er eingewilligt hatte?

„Ich… wenn ich wiederkommen soll, meld dich. Ich hab das Handy dabei. Sonst komme ich morgen früh vorbei. Ich werde um zehn Uhr abgeholt.“ Jetzt war es an Philipp zu lächeln. Er drückte Holgers Hand, ehe er aufstand und zur Tür ging.

Holger sah ihm traurig hinterher. Unweigerlich presste er die Lippen zusammen und formte schnell ein Lächeln, als sich der Ältere wieder zu ihm umdrehte. Hatte er etwas vergessen?

„Mach dir keinen Kopf wegen eben.“

Überrascht sah Holger ihn an, hatte aber keine Möglichkeit zu reagieren, da Philipp die Tür öffnete und sie hinter sich wieder schloss. Zwar hätte der Innenverteidiger auch nicht gewusst, was er darauf erwidern sollte, aber Philipp ließ ihm ja nicht mal die Möglichkeit. Brauchte es zu dieser Aussage überhaupt eine Antwort? Nein. Und doch machte sich Holger einen Kopf. Er fragte ja nicht mal, ob mit Philipp alles okay war, nachdem er ihn zu Boden gestoßen hatte. Deshalb war es bestimmt ganz gut so, dass Philipp bald weg war. Dann konnte Holger ihm nicht mehr weh tun.
Kraftlos ließ er seinen Kopf tiefer ins Kissen sinken und schaute umher. Egal, ob nach links oder nach rechts irgendwie tauchte doch immer wieder sein dick eingepacktes Bein in seinem Blickfeld auf. Wie sollte er da denn mal abschalten?
Apropos abschalten. Er sollte sein Handy wieder einschalten, das ihn die ganze Zeit über gar nicht interessiert hatte. Es gab bestimmt schon einige Berichte im Internet über ihn, aber merkwürdigerweise war er gar nicht neugierig, was die Presse schrieb. Vielleicht war es auch die Angst irgendwo schon lesen zu dürfen, dass es vorbei war mit der Profikarriere. Seufzend durchstöberte er seine Mails, seine Nachrichten und beantwortete ein paar davon, damit die Zeit verstrich.


Philipp ging einfach raus aus dem Hotel und die Straße entlang. War es richtig zu gehen? Er wusste es nicht. Eigentlich hatte er das Gefühl, dass Holger nicht alleine sein wollte. Aber dieser Abstand würde ihnen beiden gut tun… der Kapitän stutzte. Suchte er gerade nach Ausreden? Rechtfertigungen? Abstand hatten sie später genug. Wie lange musste Holger eigentlich hier bleiben? Sicher eine ganze Weile. Er sollte noch mal herkommen. Nach dem DFB-Pokalfinale und dem Urlaub mit Claudia.
Claudia, er sollte ihr etwas mitbringen. Holger hatte schon recht. Sie war eh schon sauer und so konnte er sie vielleicht etwas beruhigen und ihr die Wut nehmen. Wobei sie doch auch Verständnis gezeigt hatte… ach, man! Er fuhr sich durch die Haare. Wieso kam ihm gerade alles so kompliziert vor? Alles, wirklich alles!
Der Kapitän ließ seinen Blick schweifen. Auf der anderen Straßenseite war ein Souvenirladen, das sah doch schon mal gut aus.
Als Philipp ihn betrat, sah er sich um. Es gab T-Shirts, Tassen, Teddybären und noch viel anderen Krempel. Er fand eine schöne Tasse für Claudia, nahm einen von den Bären für Julian und stellte sich damit an die Kasse. Während er wartete, fiel sein Blick auf die Kleidungsstücke, die es hier gab. Genauer gesagt auf einen grauen Pullover. In großen roten Buchstaben stand „Vail“ darauf und er hatte eine Kapuze… kurzerhand suchte Philipp die passende Größe und kaufte ihn auch noch.


Wie gerne würde Holger mit nach London fliegen und wenigstens das Finale (mal wieder) von der Tribüne verfolgen. Sollte Bayern wirklich gewinnen, konnten alle mitfeiern. Nur er hockte hier in Vail und durfte um seine Karriere bangen. Völlig in seinen Gedanken versunken, glitt ihm das Handy aus den Händen, während sein Blick zum Fenster ging. Der Himmel über Colorado hatte sich bereits dunkel gefärbt und eine schwarze Decke über den hübschen Ort Vail gezogen. Morgen würde Philipp dann endgültig weg sein. Für eine ziemlich lange Zeit. Holger redete sich ein, dass es gut war, aber tief in seinem Inneren verfluchte er die Zeit, die da vor ihm lag, jetzt schon.
Warum er jetzt damit anfing sich Gedanken um Morgen zu machen, wusste er nicht. Sich den Kopf darüber zerbrach, was er Philipp noch mit auf den Weg geben konnte. Wie er sich irgendwie entschuldigen könnte für diese beschissene Zeit, die er ihm hier bescherte. Und wie er ihm schonend seine Hand abhacken konnte, damit sie ihn weiter fest halten konnte, während Philipp nach London flog. Er brauchte ja nur seine Füße... nicht seine beiden Hände, die am Ende noch zu einem Handspiel führen könnten. Was für ein irrsinniger Gedanke. Holger schmunzelte leicht und schloss tief durchatmend die Augen. Wenn er ehrlich zu sich selber war, würde er liebend gern Philipp schreiben, er sollte in die Klinik kommen, um bei ihm die Nacht zu verbringen. Woher kam nur dieses Verlangen nach dessen Gegenwart? Aber er traute sich sowieso nicht, er wollte sich wenigstens noch ein kleines bisschen seines Stolzes bewahren und nicht wie ein Kind um Beistand flehen. Er war alt genug. Er packte das schon irgendwie. Allein.


Nach dem kleinen Einkaufsbummel ging Philipp schon wieder zurück zum Hotel. Er suchte sich Details zu seinem Flug. Er würde spätabends in London landen und dann direkt zum Hotel fahren. Na ja, das würde schon schief gehen. Es war ja nur das Champions League-Finale, was Samstag anstand. Und er konnte im Flugzeug schlafen und sich ausruhen.
Philipp packte den Teddy und die Tasse in den Koffer. Mit dem Pullover setzte er sich aufs Bett. Nachdenklich besah er ihn sich. Was sollte Holger damit? Er wusste ja wo er war und brauchte keine Erinnerung an diesen bescheidenen Ort, der ihm sein Kreuzband genommen hatte. Aber so hatte er auch eine Erinnerung an Philipp, weil er ihm den Pulli schenken würde.
Der Kapitän lachte leicht auf und hing den Pullover über einen Stuhl. Danach verließ er das Hotelzimmer doch noch mal und ging spazieren. Immer darauf bedacht, sich nicht zu weit vom Hotel zu entfernen. Holger könnte sich ja melden. Aber eigentlich wusste er, dass er es nicht tun würde.
Abends ließ er sich ins Bett fallen und stellte sich seinen Handywecker für den nächsten Morgen auf sieben Uhr. Er wollte auf jeden Fall noch etwas Zeit bei Holger verbringen, bevor er fliegen musste und ihn eine ganze Weile nicht sehen würde.


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