Kapitel 18 - Vertrauensangelegenheit



„Es gibt hier in der Nähe auch einen Park, da war ich heute Morgen joggen“, erzählte Philipp. „Da können wir auch mal zusammen hin. In der Mitte ist ein kleiner See, echt schön da.“

„Okay, warum nicht“, nickte Holger und grinste etwas, „Wie lange warst du denn joggen? Ich muss ja schließlich wissen, was ich Jupp antworte, wenn er mich fragen sollte.“ Der Trainer würde sicherlich unterschwellig eine Frage nach Philipp einfließen lassen, da war sich Holger sicher.
Er seufzte leicht, als er sich umsah. Die Gegend war wirklich schön, es war angenehm warm und die Atmosphäre rund herum perfekt. Also zumindest wäre sie das, wenn der Rollstuhl nicht wäre. Er müsste lügen, wenn er behauptete, dass es ihn nicht mehr störte herum geschoben zu werden.

„Knapp eine Stunde“, erzählte Philipp. „Meinst du denn ernsthaft er fragt dich? Ich hoffe doch, dass er genug Vertrauen in mich hat, dass er weiß, dass ich es mache.“ Er wusste nicht, ob er etwas empört sein sollte. Jupp würde doch nie im Leben nachforschen, ob er wirklich tat, was ihm aufgetragen wurde, oder?

„Vielleicht.“ Holger zuckte mit den Schultern: „Er ruft alle drei Tage an und nachdem wir die üblichen Floskeln heruntergerattert haben, müssen wir ja noch über irgendetwas anderes sprechen.“ Da bot sich Philipp als Gesprächsthema eben optimal an. Über was sollten sie auch sonst reden?
„Aber solange du brav joggen gehst, passt doch alles.“ Er grinste schelmisch zu dem Kapitän hoch. Philipp würde aber bestimmt auch wissen, dass Holger ihn nicht verraten würden, selbst wenn er mal an einem Tag nicht an seine Fitness dachte.

„Willst du eigentlich in ein Geschäft rein oder einfach erst mal nur die Stadt angucken?“

„Beides. Stadt ansehen und in ein paar Läden“, antwortete Holger dann und blinzelte in die Sonne, „Dann suchen wir zuerst ein Geschäft, das Sonnenbrillen verkauft.“ Allerdings schien es zur Stadt noch etwas weiter zu sein.

Der Kleinere lächelte als Holger den Kopf hob und zur Sonne sah. Gut, da waren sie dann ja ausnahmsweise mal einer Meinung und würden also zuerst Sonnenbrillen suchen. Ob es in Amerika wohl andere Modelle gab als in Deutschland?
Philipp schob Holger die Straße entlang. Er wusste noch genau, wo er entlang gehen musste. Am Ende über die große Straße und dann begann dahinter auch schon die Fußgängerzone.

Etwas unwohl betrachtete Holger den Berg, den sie gerade begannen abwärts zu gehen. Er versuchte sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen, als er einen Blick ganz nach unten erhaschte. Eine ziemlich befahrene Straße ganz unten, ehe man wohl in die Stadt einbiegen konnte, rundherum Bäume, Wiesen und dazwischen ein paar Häuser... ja, ein Aufprall würde vermutlich weh tun. So schön auch die Landschaft war, Angst hatte er trotzdem, dass er Philipp wegen seines Gewichtes aus den Händen gleiten könnte.
„Soll ich bergab vielleicht doch die Krücken nehmen?“ Der Berg hatte es schließlich richtig in sich.

„Hm?“ Philipp musste zugeben, dass er etwas verwirrt war. „Warum? Meinst du, es ist zu steil?“ Der Kapitän beäugte skeptisch die Straße.
Er sah da eigentlich kein Problem. Dennoch blieb er stehen. Aber nur um sich vorzubeugen.

Philipps anfängliche Verwirrung wunderte Holger. Er musste doch auch den steilen Berg bemerkt haben. Ein Gefühl von Sicherheit breitete sich jedenfalls nicht in ihm aus, eher Angst und das Szenario, wie er zusammen mit dem Rollstuhl an einer Betonmauer zerschellte.
Als Philipp stehen blieb, war dem Innenverteidiger schon fast klar, dass er selber humpeln sollte, da es doch zu anstrengend werden würde ihn da runter zu bugsieren. Seine Arme stützte er an die Lehne, wollte gerade aufstehen, als Philipps Atem sein Ohr streifte.

„Vertrau mir“, flüsterte Philipp in sein rechtes Ohr. „Ich pass schon auf dich auf.“ Er stupste mit seinem Kopf leicht gegen Holgers. Eine freie Hand hatte er ja nun mal nicht.

Dann schob Philipp Holger weiter, fragte sich aber dennoch, ob das richtig war. Philipp wusste nicht, ob Holger ihm da vertrauen würde oder ob die Angst stärker war. Natürlich musste er sich etwas anstrengen, damit Holger ihm nicht einfach aus der Hand glitt, aber er war sich sicher, dass er es schaffen würde. Wieder hoch würde vermutlich anstrengender werden. Aber das schaffte Holger erst recht nicht alleine. Das war für ihn noch mühsamer.

Seltsamerweise dachte Holger jetzt auch gar nicht ans Aufstehen. War das seine Antwort? Er blieb sitzen, hieß also er vertraute Philipp. So einfach war das.

Alles andere als einfach war allerdings die Bewältigung des Bergs. Der Kapitän schob ihn tapfer weiter, wobei man es eher als festhalten bezeichnen konnte, schließlich rollte der Rollstuhl bergab von allein.

„Wenn du aber unbedingt willst, kannst du auch die Krücken nehmen.“

Skeptisch drehte der Blonde den Kopf, sodass er einen Blick auf den Kapitän erhaschen konnte. Die Sonne blendete stark, weswegen er die Augen zusammen kneifen musste, um überhaupt Umrisse erkennen zu können. Wenn er zu seinen Krücken griff, würde das doch bedeuten er vertraute Philipp nicht genug, oder? Oder wollte er so die Verantwortung abschieben, da ihm der steile Berg doch nicht so geheuer war?
„Wenns dir nicht zu heikel ist, bleib ich auch sitzen“, murmelte er und blickte wieder nach vorne. Oder eher nach unten.

„Ich hätte schon was gesagt, keine Sorge.“ Immerhin ging es um seine Gesundheit, aber das würde Philipp nicht sagen. Er musste nicht über so was sprechen. Nicht jetzt wo doch gerade alles gut zu sein schien.

„Ich will dir nicht zur Last fallen.“ Aber war der Zug nicht sowieso schon abgefahren?
Zwar würde Holger weiß Gott gern aufstehen und selbst neben Philipp her humpeln, aber die Angst diesen dann in irgendeiner Weise enttäuschen oder noch mehr nerven zu können, war größer als die Tatsache im Rollstuhl geschoben zu werden.

„Hör auf so was zu denken, bitte. Du bist keine Last.“ Eher ein Stück was fehlte, wenn er nicht da war… der Gedanke ließ Philipp lächeln. Er wüsste nicht, was er jetzt in Deutschland machen würde. Würde er viel an Vail denken müssen? Wie es wäre hier zu sein? Was er mit Holger unternehmen könnte? Er wusste es nicht und war irgendwie mehr als froh, dass er hier sein konnte.

„Doch“, gab sich Holger stur, aber in einem leisen, zaghaften Ton. Er wollte jetzt nicht wieder diskutieren, aber eine Last war er trotzdem. Die war er ja sogar manchmal auf dem Spielfeld für den Kapitän. Eine Frage drängte sich ihm langsam aber sicher auf. Lief es mit Claudia nicht besonders gut oder warum wollte Philipp nach Vail? Oder hatte Jupp ihn wirklich dazu genötigt, dass er flog? Das konnte sich der Verteidiger auch nicht so richtig vorstellen.

Stur wie eh und je. Philipp sagte nichts mehr darauf. Die Diskussion konnten sie sich getrost sparen. Außerdem würde er sich ja vermutlich auch als Last fühlen an Holgers Stelle.
„Übrigens hab ich das Foto gesehen“, meinte Philipp plötzlich. Wie er darauf kam, wusste er selber nicht. „Ich hab mich gefreut, als ich gesehen habe, dass du den Pulli anhast“, gab er zu.

Dieser Satz ließ Holger aus seinen Gedanken aufschrecken. Ach ja... das Foto, zu dem Schwester Anna ihn gezwungen hatte. Nun erhielt er die Antwort auf die Frage, die er sich eine Zeit lang immer gestellt hatte. Philipp hatte das Bild gesehen. „Dann hat es ja seinen Zweck erfüllt“, lächelte Holger. Irgendwie war das schon doof so im Rollstuhl. Wenn er denn Philipp mal anlächeln wollte, musste er seinen Kopf verrenken und gegen die Sonne blinzeln. Dafür konnte er aber die Landschaft recht gut betrachten, aber das war auch nicht das Wahre.

Wie? Hatte er das Foto nur hochgeladen, damit Philipp es sehen konnte? Irgendwie freute ihn das. Obwohl er so doof abgerauscht war damals. Ein seliges Lächeln legte sich wie von selbst auf seine Lippen.

Unten angekommen, drückte Philipp auf die Ampel und ging bei grün – wie es sich gehörte – über die Straße.
„Guck mal, die haben da vorne direkt einen Ständer mit Sonnenbrillen stehen. Wollen wir da zuerst gucken?“ Philipp wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern schob Holger direkt dorthin. Eigentlich ganz praktisch so das Kommando zu haben.


Bei den Sonnenbrillen begann Philipp direkt sich einige näher anzuschauen. Es musste ja jetzt nicht die allerbeste sein, aber sie sollte trotzdem gut aussehen. Er setzte sich eine Brille auf die Nase und schaute in den Spiegel. Hm… zufrieden war er noch nicht.

„Einen Unterschied zu den Brillen in Deutschland gibt’s aber nicht wirklich“, fiel Holger auf und besah sich zwei Stück genauer. Aber die sagten ihm dann bei genauerem Betrachten nicht ganz zu, also hängte er sie zurück. Philipp inspizierte derweil das Gestell mit Sonnenbrillen daneben, setzte sich eine recht coole auf und besah sich im Spiegel.
Holger blickte sich weiter um, visierte dann eine ganz oben an und seufzte leise. Wehe Philipp würde sie ihm jetzt runterholen wollen. Das konnte er genauso gut allein. Er brauchte sich im Grunde nur abzustützen und sich aufzurichten. Was er schließlich auch tat. Gekonnt stellte Holger sich auf ein Bein, schnappte sich die Sonnenbrille, ehe er seine Hände an den Armlehnen des Rollstuhls aufstützte. Zumindest hatte er das vor, wäre das nervige Gefährt durch die Feststellbremse gesichert worden. Der Rollstuhl verselbständigte sich und rutschte nach hinten weg, wodurch Holger den Halt verlor und rückwärts auf den harten Beton knallte. Das tat jetzt nicht unbedingt gut, aber wenigstens blieb er unversehrt. Und die Sonnenbrille war auch noch heil. Allerdings trugen die mitleidvollen Blicke einiger Passanten dazu bei den Rollstuhl noch weiter abzulehnen.
„Was schauen die denn alle so?“, maulte Holger leise, damit es nur Philipp hören konnte, und versuchte sich mühselig wieder aufzurappeln.

Philipp war gerade so auf sein Spiegelbild fixiert und bekam nur ein komisches Geräusch, ein Poltern und eine Art Aufschrei von Holger mit.
Sofort wandte er sich um. Der Rollstuhl stand etwas weiter auf dem Gehweg und Holger saß auf dem Asphalt.
Holger klang genervt, als er versuchte sich aufzurappeln. Sofort griff Philipp unter seine Arme und zog ihn hoch. Dann holte er den Rollstuhl wieder zu ihnen und machte die Krücken ab, die er Holger dann in die Hand drückte.
„Die haben hier noch nie so einen kleinen Menschen gesehen wie mich“, sagte er todernst.

Holger lächelte Philipp dankbar an, als er ihm hoch half. Aber noch mehr gefiel ihm der Versuch ihn aufzumuntern. Das war so süß von Philipp, dass Holger gar nicht anders konnte als darüber zu schmunzeln. Natürlich war ihm klar, dass sie nicht Philipp tröstend wegen seiner Körpergröße ansahen, sondern ihn, aber das war in diesem Moment doch eigentlich egal.

„Hast du dich verletzt?“ Fürsorglich sah Philipp den Innenverteidiger an.

Holger schüttelte sofort den Kopf. Er wollte nicht, dass Philipp sich unnötig sorgte. Dazu gab es keinen Grund.

„Ich hätte die Bremse anziehen müssen.“ Reumütig setzte er die Sonnenbrille ab und lächelte unsicher. „Tut mir leid. Das wollte ich nicht.“
Super. Erst drängte er Holger dazu, dass sie den Rollstuhl mitnahmen und dann das. Ganz toll, Philipp! Brich ihm gleich das andere Bein auch noch.

Schweigend hatte Holger die Krücken an sich genommen und sich auf sie gestützt, während er Philipp kopfschüttelnd ansah. Auf seinem Gesicht ein gutmütiges Lächeln. „Na hör mal, ich bin doch nicht Arjen, der Glasmann. Ein bisschen was halt ich schon noch aus“, grinste er, „War doch nicht deine Schuld, ich hätte auch selber mal dran denken können.“ Er musste sich doch deswegen keinen Kopf machen, es war nichts passiert. Alles halb so wild.

Es tat gut Holger trotzdem lächeln zu sehen. Das stand ihm so viel besser als diese brummige, traurige Miene. Jetzt war es an Philipp zu grinsen. „Ja, da hast du vermutlich recht. Ich bin auch lieber mit dir hier als mit ihm.“ Wobei es natürlich das schönste wäre, er stünde mit Holger in München auf dem Trainingsplatz… Wunschdenken.

Holger nickte, sein Lächeln allerdings wieder etwas trauriger. Natürlich freuten ihn diese Worte. Aber anderseits wünschte sich der Innenverteidiger gar nicht hier sein zu müssen. Mit Philipp, Basti, Mario und den anderen München unsicher zu machen, zu trainieren und zu quatschen wäre viel schöner. Dennoch versuchte Holger das Positive zu sehen. Er konnte so Zeit allein mit Philipp
verbringen. Warum gefiel ihm das bloß so? Wieso tat ihm seine Anwesenheit überhaupt so gut? Eigentlich waren ihre Charakter ziemlich unterschiedlich, hatten auch etwas Altersunterschied und waren auch in München noch nie die besten Freunde gewesen.
„Aber sei bloß froh, dass ich nicht rumgeheult hab, sonst hättest du mir die ganze Eisdiele kaufen müssen, damit ich aufhöre.“

Der Satz mit der Eisdiele ließ Philipp aber wieder skeptisch auf den Innenverteidiger gucken. „Seit wann bist du so scharf auf Eis? Außerdem hättest du die nicht bekommen. Dann darf ich mir hinterher anhören, ich hätte dich gemästet…nee, nee.“ Er stieß Holger mit dem Ellenbogen an, wie er es zuvor bei ihm gemacht hatte. Irgendwie wollte er den Körperkontakt gerade, auch, wenn es nur kurz war.

„Bin ich eigentlich gar nicht, aber wenn es sich anbietet. Und da Schwester Anna und du euch sowieso über mich, das bockige Kleinkind, lustig macht, kann ich auch auf mein Eis bestehen, oder?“ Holger grinste leicht, während er sich weiter Sonnenbrillen ansah. Irgendwie gefiel ihm die, für die er hingefallen war.

„Hey, ihr macht euch auch über mich lustig“, warf Philipp ein. „Jetzt müssen wir uns nur noch über sie lustig machen, dann sind wir alle Quitt.“ Er lachte leicht. Irgendwie hatte er die gute Frau in sein Herz geschlossen, aber so richtig erklären warum, konnte er sich auch nicht. Nur, weil sie Holger zum Lachen brachte und sich so reizend um ihn kümmerte? So wusste er ihn immerhin in guten Händen, wenn er wieder fliegen musste.

Umso mehr sich Holger andere Sonnenbrillen näher begutachtete, desto klarer wurde ihm, dass ihm nur die, die er schon in den Händen hielt, zusagte.
„Hast du schon eine Passende gefunden?“

„Hm…“ Philipp hatte ja immer noch eine auf und nahm die erst mal wieder ab. „Ich weiß nicht. Irgendwie… oder was sagst du zu der hier?“ Er nahm eine andere von dem Ständer und setzte sie sich auf. Wie ein Model hob Philipp den Kopf und präsentierte Holger die Brille von allen Seiten. Dann fasste er an den Bügel und zog sie etwas über die Nase. Er warf einen Blick über den Rand der Brille und zwinkerte keck. „Und?“

„Ne, die ist zu groß für dein Gesicht“, bemängelte Holger und widmete sich ein paar anderen, von denen er eine aussuchte und sie Philipp aufsetzen wollte.

Grummelnd nahm Philipp sie ab. Er fand sie eigentlich echt gar nicht so schlecht. Aber suchte er eben weiter. Der Innenverteidiger stupste ihn an und setzte ihm eine Brille auf, nachdem Philipp sich zu ihm gedreht hatte.

„Die ist perfekt.“
Vielleicht lächelte Holger den Älteren eine Spur zu lang und zu intensiv an, bevor er den Blick, irritiert von sich selbst, abwandte. Fing er jetzt sogar schon an ihn so offensichtlich anzuschmachten? Bestimmt lag es nur an der Sonnenbrille, die Philipp so gut stand. Ganz sicher, das musste der Grund sein.

„Ja? Dann nehme ich die.“ Philipp lächelte zurück. Für einen Moment sahen sie sich an. Er konnte den Blick von Holgers Lippen nicht abwenden. Es tat so unglaublich gut ihn lächeln zu sehen, das konnte er nicht in Worte fassen.
Erst als der Jüngere den Blick abwandte, senkte auch Philipp den Kopf.
„Komm, gib her, ich kaufe sie eben.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Philipp in den Laden zur Kasse. Während die Kassiererin abrechnete, drehte er sich noch mal um. Er sah Holgers Profil und musste wieder lächeln. Irgendwie war er gerne bei ihm. Das wurde ihm gerade so richtig bewusst, aber erklären konnte er es sich nicht.
Nachdem er bezahlt hatte, fummelte er die dämlichen Schilder von den Sonnenbrillen und trat wieder raus auf die Straße.
„Guck mich mal an“, forderte er von Holger und setzte ihm die Brille auf, strich fast zufällig über seine Wange, ehe er sich seine auch aufsetzte.

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