Damals...




Philipp blätterte unnütz in der Zeitung, starrte aus dem Fenster und beobachtete den Verkehr und am frühen Abend stand er in der Küche und bereitete Holgers Lieblingsessen zu. Er hatte heute außer einem Morgengruß kein einziges Wort gesagt, aber Philipp hatte verstanden, dass er seine Ruhe haben wollte. Dennoch schaute er immer mal wieder zu ihm ins Wohnzimmer. Er hatte ja immer noch die stille Hoffnung, dass er sich ihm mitteilen würde, denn nur schweigen und das mit sich selbst ausmachen, erschien Philipp als der falsche Weg.
Doch es geschah nichts. Mal hatte er Holger schlafend auf der Couch erblickt, dann schweigend einen Film ansehend und schließlich sogar lesend. Sein Lieblingsgetränk hatte er nebenher aber anscheinend doch genossen, was das leere Glas bewies.
„Ich hab Pasta gemacht mit Milchreis als Nachtisch“, köderte er ihn schließlich mit seinen Lieblingsspeisen.
Holger sah von seinem Buch hoch. „Ich will das Kapitel vorher noch fertig lesen.“
Philipp nickte, schloss die Durchgangstür hinter sich und seufzte. Es war schrecklich ihn so zu sehen, aber er selbst wüsste nicht, ob es ihm anders gehen würde, wäre er in seiner Position. Holger war schließlich hoffnungsvoll nach Colorado geflogen und hatte sich dann von Dr. Steadman die bittere Diagnose anhören müssen. Philipp hatte nicht von ihm davon erfahren, sondern von Rummenigge, der sich mit Müller-Wohlfahrt in Verbindung gesetzt hatte.
Als Holger zurück kam, war sein Muskelriss zwar operativ versorgt worden, aber sein Rehaprogramm sah nun ganz anders aus. Lebensqualität wurde angepeilt, nicht mehr die Rückkehr zum Fußball.
Holger hatte zwar weiterhin betont, dass er es nochmal versuchen wollte, hatte auch ernste Gespräche mit dem zurückgetretenen Vereinsarzt geführt, doch letztlich war es Philipp gewesen, der es ihm klar gemacht hatte, dass es nicht mehr weiterging. Gerade er musste es ihm klarmachen, der ihm immer die meiste Hoffnung gemacht hatte. Aber der Kapitän hatte es nicht mehr mitansehen können, wie Holger sich quälte und kämpfen wollte, obwohl es vergebens sein würde. Er musste vor sich selbst geschützt werden, sonst würde sein Körper mit 30 kaum noch belastbar sein.
Seit Holger alles eingesehen hatte, hat er nicht mehr viel gesprochen. Vor allem nicht mit Philipp, aber das war für den Kapitän kein Grund sich von ihm zu entfernen und sich ein schönes Leben mit seiner Frau und seinem Kind zu machen. Es geschah sogar das Gegenteil...
Philipp hatte Claudia alles gestanden. Dass er Holger liebte und jetzt bei ihm sein musste und auch wollte. Über die Konsequenzen wollte er nun nicht nachdenken, seine Gedanken galten einzig und allein dem einstigen Innenverteidiger Bayerns. Sogar vom FC Bayern hatte Philipp für ein paar Tage Abstand genommen. Natürlich würde er bei den wichtigen Spielen dabei sein, das stand für den ehrgeizigen Kapitän außer Frage, doch er hatte auch mit Müller-Wohlfahrt geredet und ihm erklärt, dass er ein paar Tage Zeit brauchte. Offiziell – und sogar vor Pep Guardiola – hatte Philipp eine leichte Grippe. So etwas hatte er noch nie gemacht, aber Philipp war jemand, der das Private über das Berufliche stellte und deshalb war ihm Holger wichtiger als das Training des FC Bayern. Außerdem konnte er es ihm nicht zumuten immer für die Trainingszeiten weg zu sein und danach nach Hause zu kommen. Das war das Leben, was Holger verloren hatte und er wollte es ihm nicht vorleben. Zumindest jetzt noch nicht.
Plötzlich hörte er Schritte und horchte auf. Philipp hatte derweil einen Teller mit Nudeln gegessen und war seinen Gedanken nachgehangen, während er auf Holger gewartet hatte. Und doch hatte er Zweifel gehabt, ob er sich überhaupt blicken lassen würde.
Er begrüßte den Jüngeren lediglich mit einem Lächeln und wollte ihm etwas von der Pasta auf den Teller laden. Dieser aber lehnte ab und griff stattdessen zur Nachspeise. Für Philipp war es okay, das Lächeln schwand nicht, es wurde nur warmherziger.
„Willst du nachher zocken? Oder einen Film ansehen?“, versuchte Philipp ein Gespräch anzufangen, aber er erhielt kaum Antworten. Holger wirkte gezwungen, genauso wie er sich sichtlich dazu zwingen musste, sich nicht noch mehr hängen zu lassen. Er wollte ja auch jetzt noch dieser unerbittliche Kämpfer sein.
„Wann fährst du?“
Überrascht sah Philipp den Blonden an. „Heute gar nicht. Morgen auch nicht und übermorgen auch nicht.“
Begeisterung konnte man nicht in Holgers Gesicht erkennen, aber auch keine Ablehnung. „Okay“, kam es automatisch von ihm und aß langsam den Milchreis. Oft hatte er ihm deshalb Komplimente gemacht, dass er den immer besonders lecker zubereitete. Selbstverständlich durfte bei Philipp auch der Zimt nicht fehlen, so als wäre es das Sahnehäubchen.
„Schmeckt er dir?“
„Hm“, murmelte Holger bejahend.
                                                                                                                                                                                                                                                 
Es ging so weiter. Den ganzen Abend. Irgendwann hatte Philipp sich zwar zu Holger gesetzt, denn er wollte mit ihm reden, aber dieser war irgendwann auf der Couch eingeschlafen. Mit einem matten Lächeln deckte Philipp ihn zu und nahm Holgers Handy an sich. Es war Neugier, dass er das Display entsperrte und den Browser startete. Was er zu sehen bekam, stimmte den Älteren traurig. Holger hatte seinen eigenen Namen gegoogelt und offenbar gelesen, was über ihn geschrieben wurde. Er hatte auch seine Wikipedia Seite aufgerufen und die Homepage des FC Bayern. Lautlos sperrte er das Handy wieder und legte es auf den Tisch, damit Holger es am Morgen gleich finden konnte. Leise setzte er sich dann neben das Sofa und lehnte sich seitlich dagegen, den Blick dabei immer auf Holger gerichtet. Philipp wurde immer bewusster, dass er genau richtig gehandelt hatte. Dass er das Versteckspiel aufgelöst und endlich zugegeben hatte, dass er sich in Holger verliebt hatte und bei ihm sein wollte. Er verfolgte jede Regung des schlafenden Innenverteidigers, solange bis er selbst eingenickt war und sein Kopf dadurch an Holgers lehnte.


Am zweiten und somit nächsten Tag hatte er dann nicht mehr nur geschwiegen, sondern ihn angeschrien und beschimpft. Er hatte ihm Vorwürfe gemacht, von denen sie beide wussten, dass sie irrational und ungerecht waren. Auch Xabi gegenüber, der immer wieder in seinen Aussagen vorgekommen war.
Trotzdem war Philipp bei ihm geblieben, weil er gewusst hatte, dass Holger nur einen Wimpernschlag von einem Nervenzusammenbruch entfernt war. Und wenn das passierte, wollte er da sein. Er musste da sein.
Philipp war sich auch sicher, dass Holger sich für die Gemeinheiten, die er ihm an den Kopf geworfen hatte, entschuldigen würde. Es würde auch alles wieder gut werden, ganz sicher. Nur half ihm das jetzt nichts, denn er hatte viel runterschlucken und sich auf das Wichtigste besinnen müssen, um nicht zu explodieren.


Es war genau 04:10 Uhr, als Philipp den Blick nur kurz von Holger abwandte, um auf dem Funkwecker die Uhrzeit zu erspähen. Philipp seufzte. Nachdem er ihn den ganzen Tag über angeschrien und seinen Ärger Luft gemacht hatte, war er in der Nacht tatsächlich ruhiger geworden und hatte so lange geredet, bis er kurz vor vier Uhr eingeschlafen war. Die Tränen waren längst nicht getrocknet. Weder die Innerlichen noch die Äußerlichen, aber es war immerhin ein Anfang.
„Wir schaffen auch das zusammen, Hoppelhase“, flüsterte er in die Dunkelheit und küsste seine glitzernden Wangen vorsichtig. Fast so als wäre er ein zerbrechlicher Hase aus Porzellan.
Irgendwie war er das mittlerweile wirklich geworden. Ein Häschen aus Glas, das sehr verletzungsanfällig war und man es deshalb in einen Schrank stellen musste, damit keine Gefahr mehr bestand vor einer kompletten Zersplitterung. Einen wunderschönen Hasen hinter einer Holztür verbergen, pure Verschwendung!
Es war komisch sich das Training für immer ohne Holger vorstellen zu müssen. Früher hatte es auch oft ohne den talentierten Innenverteidiger stattgefunden, aber immer in dem Wissen, dass er sich in der Reha befand und wieder zurückkehrte. Es würde nicht mehr so sein...
Dabei wusste Philipp noch, wie als wäre es erst gestern gewesen, als Thomas und Holger den Sprung zu den Profis geschafft hatten. Er dachte an dieses schüchterne aber dennoch unglaublich stolze Grinsen in diesem bübchenhaften Gesicht. Er hatte es genau vor Augen, was der Grund für Philipps leichtes Lächeln war. Aber so schnell wie es gekommen war, so rasch verschwand es auch wieder, als er auf den geschwächten Körper neben ihn blickte. Die hübschen Augen geschlossen, die Tränenspur auf seinem markanten Gesicht und die Mundwinkel nach unten gezogen. Das war Holger sechs Jahre nach seinem Traum, für den er immer wieder gekämpft hatte. Fairness? Das gab es nicht. Vor allem nicht in Holgers Leben.
Philipp wünschte sich, er könnte etwas tun. Er hätte ihm Millionen für eine teure Behandlung gegeben, er hätte für ihn seine letzten Jahre als Profi geopfert, nur damit Holger wieder lächeln konnte.
Und jetzt war alles was er tun konnte bei ihm sein. Dass hieß auch, dass er Vorwürfe ertragen musste. Zu oft hatte Philipp an den Kämpfer in ihm appelliert und ihm noch im selben Atemzug versichert, er würde wieder zurückkommen. In dem Fall waren Holgers Vorwürfe und Anfeindungen sogar berechtigt.
Nachdenklich strich er ihm durch die Haare und ein wehmütiges Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Versteckt von der Dunkelheit, die Holger zu verschlingen versuchte. Philipp erinnerte sich noch daran, als Holger sich die Haare wahnsinnig kurz schneiden ließ. Er war damals frisch von seiner Re-Ruptur nach der Winterpause zurückgekehrt, während er mit den anderen Weltmeister wurde. Holger hatte damals für ihn zurückgesteckt, obwohl Philipp genau gewusst hatte, dass der Titel ihn verletzte.
Aber um das ging es Philipp nicht einmal. Es ging darum, dass er unglaublich stolz auf Holger gewesen ist. Er hatte die Mannschaft sogar als Kapitän aufs Feld geführt und hatte seine Binde getragen. Jetzt war er nicht weniger stolz, ganz im Gegenteil, aber jetzt war der Grund ein trauriger.
Es war einfach nicht fair, dass er von Schicksalsschlägen gebeutelt wurde. Sogar schon vor seiner Profikarriere gab es einen gravierenden Rückschlag, dem er getrotzt hatte. Philipp hatte schon früher den Kämpfer in ihm bewundert, den er eigentlich nur ein einziges Mal vor der Presse in Schutz hat nehmen müssen. Die Weltmeisterschaft in Südafrika. Für ihn war alles neu gewesen und es war schwierig auf diesem Kontinent als Neuling kontinuierlich gute Leistungen zu zeigen. Fehler passierten und im Nachhinein hatte Holger auch eingesehen, dass er sich davon nicht so sehr hätte runterziehen dürfen. Dadurch hatte er sich aber ein dickeres Fell zugelegt. Auch das war Philipp aufgefallen. Er als Kapitän hatte ein Auge auf die Entwicklungen mancher Spieler und auf Holger ganz besonders. Er hatte ihn immer gemocht, nur war es unerwartet zu Liebe geworden, was auch gut zu so war. Nie würde er das, was alles zwischen ihnen geschehen war, rückgängig machen wollen. Und doch würde er es sofort tun, wenn er damit Holgers Karriere retten könnte. Ein Wunschtraum eben, der sich sowieso niemals realisieren ließ, da diese beiden Dinge nicht im direkten Zusammenhang standen. Aber hieß es nicht auch „Pech im Spiel, Glück in der Liebe“? Würde sich Holger von dieser dämlichen Weisheit aufheitern lassen?
Unaufhörlich strich Philipp durch Holgers Haare und stellte sich dessen Lächeln vor. Dieses breite, stolze Lächeln, das er aber wegen seiner Bescheidenheit immer etwas zurückhielt. Aber jeder, der Holger kannte, wusste, dass er vor Stolz platzte. Genau wie im Champions-League Spiel gegen Donezk, gegen die er endlich wieder ein Tor erzielen konnte. Er hatte gejubelt, bis Thomas ihn in den Vordergrund gestoßen hat. Alle hatten noch mehr applaudiert, wollten sich mit Holger freuen. Für Philipp war es überwältigend mitanzusehen, wie sie den zurückhaltenden Innenverteidiger feierten und aus der Reserve locken wollten. Und das war jetzt ein für alle mal zu Ende.
Philipp spürte, wie Tränen bei ihn aufkommen wollten. Hier hatten sie am Abend nach dem Spiel gegen Donezk gelegen und das Tor und den Sieg gefeiert. Sie hatten wundervollen Sex gehabt und gewitzelt, wann das nächste Badstuber-Tor fallen würde. Holger war sich so sicher gewesen, dass er das unter fünf Jahren schaffen konnte.
Das Tor hatte er vorhin auch nochmal erwähnt. Genauer gesagt seine ganzen Toren, die sowieso nicht sehr zahlreich vorhanden waren. Bei seinem ersten und leider auch letzten Tor in der Champions-League hatte er mit einem traurigen Lächeln angemerkt, dass er nicht gewusst hatte, wie er jubeln sollte. Philipp hatte ihm darauf einen Kuss gegeben und fest seine Arme um ihn geschlungen, als zu den Worten auch eine Träne aus Holgers Augen gekullert war. Gerade solche Dinge, dass er nicht gewusst hatte, wie er jubeln sollte, Dinge, die nicht von Perfektion sprachen, fand er unglaublich liebenswert an Holger.
Er hatte es nicht verdient so leiden zu müssen. Holger war so ein friedfertiger und ruhiger Zeitgenosse und war da, wenn man ihn brauchte. Sowohl im Privaten als auch auf dem Platz zeigte er sich verlässlich, auch wenn er sich dort ziemlich impulsiv benommen hatte. Unzählige Male hatte Philipp ihn bändigen müssen, damit er keine Gelb-Rote Karte kassierte, sondern eben nur eine Gelbe. Die hatte er schon sehr oft bekommen, aber auch das gehörte zu ihm, genau wie das süße Lächeln bei seiner ersten Meisterfeier auf dem Marienplatz. Die Fahrt im Autokorso hatte es ihm besonders angetan. Philipp hatte in dem Moment, als Holger es ihm vor etwa einer Stunde erzählt hatte, geschwankt, ob er lächeln oder weinen sollte. Im Endeffekt hatte er sich für das Erste entschieden. Er hatte gelächelt, denn es gab am Anfang seiner Karriere wirklich schöne Erinnerungen. Holger hatte ausgelassen mit Bastian und Mario gefeiert, hatte es vielleicht nicht immer genossen Interviews geben zu müssen, aber er war an allen Herausforderungen gewachsen.
Bitter war damals natürlich, als er für das Finale Dahoam auf der Tribüne hat Platz nehmen müssen, weil er wegen wiederholtem Foulspiel gesperrt wurde. Dass es im darauf folgenden Jahr noch bitterer für ihn werden würde und das Unheil seinen Lauf nahm, hatte er zu dem Zeitpunkt nicht ahnen können. Niemand hatte das gedacht.
Kreuzbandriss. Schlimme Diagnose, aber so etwas konnte nunmal passieren. Kein Grund aufzugeben. Beim zweiten Riss hat für ihn immer noch das selbe gegolten. Und die Muskelverletzung hatte er auch noch mitgenommen. Holger hatte alles akzeptiert und gemeistert. Hatte sich zurück in die Nationalmannschaft gekämpft und sein erstes Spiel seit langem im weißen Trikot bestritten. Philipp hatte ihm das alles gegönnt und sich mit ihm gefreut, denn endlich konnte er seine Medaille ansehen, ohne ein schlechtes Gewissen gegenüber Holger haben zu müssen. Mit jedem neuen Rückschlag war Philipps Betroffenheit gewachsen und ihm war klar geworden, dass jede Verletzung auch seine Liebe zu dem Innenverteidiger verdeutlichte. Sein Karriereende hatte ihm nun den letzten Schub gegeben ganz zu ihm zu stehen. Philipp hätte keine ruhige Minute mehr gehabt, wenn er Holger in seiner schwersten Zeit hätte allein lassen müssen. Dabei hat er es sogar in Kauf genommen ausgeschlossen zu werden. Passenderweise hatte Philipp ihm vor dem zu Bett gehen eine Tasse mit heißem Kakao zubereitet und angeboten ein Märchen zu erzählen. Er wollte ihm erst Schneewittchen erzählen, aber hatte sich kurzfristig umentschieden und ihm eine abgewandelte Form von Rapunzel wiedergegeben.
In Rapunzel à la Philipp schloss sich die junge Frau mit dem tollen blonden Haar selbst in den Turm ein, um ihren Kummer vor anderen zu verbergen und andere nicht von ihren Gefühlen teilhaben zu lassen. Das Schmunzeln, nachdem Philipp ihm durch die Haare gewuschelt hatte, hatte den Kapitän darin bestärkt, das Märchen fortzuführen. Mit einem kleingewachsenen Prinz, der die schöne Rapunzel mit seiner Hartnäckigkeit doch noch befreien und überzeugen konnte aus dem Turm zu kommen, endete die Erzählung. Er hätte das selbe auch mit Dornröschen spinnen können, die sich verletzt hatte und deshalb in einen langen Schlaf gefallen war.
Philipp seufzte lautlos und beobachtete seine Finger dabei, wie sie an Holgers Haaren zupften. Er fragte sich, ob man dieses Karriereende irgendwie hätte verhindern können. Aber war es nicht vorherbestimmt? Fraglich war dann aber auch, was das Schicksal gegen Holger hatte.
Von dessen Problemen mit der Statik hatte Philipp schon mit Bedenken zur Kenntnis genommen und war überrascht gewesen, dass Holger über 90 Minuten spielen durfte. Aber das was er da gesehen hatte, hatte ihm ausgesprochen gut gefallen. Er war unglaublich stark in der Spieleröffnung gewesen und er fand, dass sie auch wegen ihm so gut gespielt hatten. Es schockte ihn aber noch immer, dass er offenbar so viel Schmerzmittel intus gehabt hatte, dass er den Muskelriss nicht einmal den Tag danach bemerkt hatte.
Langsam aber sich fielen dem Kapitän die Augen zu, versuchte aber noch wach zu bleiben für den Fall, dass Holger doch noch wach werden könnte. Er wollte auch noch über den Tag nach dem Spiel nachdenken, der ihn zu denken gab. Holger hatte lediglich in seinem Beisein erwähnt, dass sein Oberschenkel etwas zwickte, aber er das einfach am nächsten Tag mit den Physiotherapeuten klären würde. Die würden schon Rat wissen, hatte Holger gesagt. Eben jene hatten ihn dann schließlich zum ehemaligen Vereinsarzt geschickt. Unwissend, dass eine unfassbare Diagnose gestellt werden würde.
Philipp ärgerte sich, dass er nicht früher auf ihn eingeredet hatte, dass es mit den Schmerzmittel keinen Sinn machte. Vor allem bei Holger nicht, dessen Körper sowieso durch die viele Reha anfälliger geworden war. Aber jetzt darauf rumreiten? Obwohl es wahrscheinlich sowieso vorherbestimmt war, dass Holgers Karriere ein bitteres Ende nehmen würde? Philipp würde sich seine Weisheiten sparen, denn die waren jetzt nicht mehr wichtig. So vieles war dem Kapitän nicht mehr wichtig. Die Niederlage im DFB Pokal Halbfinale gegen Dortmund störte ihn überhaupt nicht mehr, genauso wenig wie Holgers Streit wegen Xabi und dem Ausrutschen beim Elfmeterschießen. Dass was Holger zu bewältigen hatte, war viel schwerwiegender, weswegen Philipp seine ganze Kraft darauf konzentrieren wollte. Er wollte den Jüngeren wieder aufrichten, mit ihm einen neuen Weg gehen und ihm sein Lächeln zurückbringen.


Am Morgen, als Philipp wach wurde, war es gerade mal kurz vor sieben. Erst dadurch stellte er fest, dass er gestern also doch noch in den Schlaf gefunden hatte. Mit einer Hand wischte er sich müde übers Gesicht, ehe er langsam zu sich kam und sich zu orientieren wusste. Er hatte aber auch vor nochmal zu schlafen, wenn Holger auch noch Ruhe hatte. Die hatte er aber leider nicht mehr, wie ihm die zwei blauen Augen bewiesen, die ihn traurig ansahen.
„Guten Morgen“, hauchte er lächelnd und erwiderte diesen Blickkontakt. „Bist du schon lange wach?“
Die Worte gaben Holger offenbar Anlass den Blick abzuwenden. Das Lächeln auf Philipps Gesicht schwand allmählich, denn Holger wandte nicht nur den Blick ab, sondern drehte sich auch selbst auf die andere Seite. Seine Körpersprache deutete an, als wollte er aufstehen und flüchten, doch geistesgegenwärtig legte Philipp von hinten die Arme um ihn und hinderte ihn daran. Langsam rutschte der Ältere näher.
„Ich lass dich nicht los.“ Nie mehr würde er ihn loslassen. Er hauchte ihm einen Kuss in den Nacken und kuschelte sich an ihn, zeigte, dass er da war, egal wie oft Holger ihn noch abblocken würde.
Stumm liefen Tränen über Holgers Wangen als Zeichen seiner Hilflosigkeit und Verzweiflung. Er zog leicht seine Beine an und spannte sich merklich an. Philipps Griff um ihn wurde dadurch nur fester. Auch, wenn der Spiegel ihm nicht Holgers Tränen offenbart hätten, hatte er geahnt, dass er seine Tränen nicht länger unterdrücken konnte.
„Ich bleibe bei dir. Für immer“, redete er ganz leise auf ihn ein, wünschte sich so sehr, dass er Holger so das rettende Ufer bieten konnte, dass er jetzt so dringend brauchte. Er musste ihn erreichen, zu ihm durchdringen.
„Für immer?“, formte Holger mit seinen Lippen, sprach es aber nicht hörbar aus.
„Für immer“, bestätigte Philipp ihm trotzdem, da er die Mundbewegungen seiner Lippen durch den Spiegel an seinem Kleiderschrank gesehen hatte. „Ich liebe dich“, hörte er nicht auf zu flüstern und ihm zu zureden. „So sehr. Ich lasse dich nicht im Stich. Nie.“
Einen Moment lang herrschte absolute Stille im Schlafzimmer der beiden, bis ein Schluchzen sie unterbrach. Philipp schloss abwartend seine Augen, fühlte wie Holgers Körper bebte und sich sein Brustkorb um Regelmäßigkeit bemüht hob und wieder senkte. Es war ruhig bis auf das Schluchzen. Philipp wünschte sich eine Reaktion, doch er verstand auch, wenn Holger jetzt nicht reagieren konnte, weil er gelähmt von seinem Schmerz war seinen Traum vorzeitig beenden zu müssen. Langsam öffnete der Kapitän seine Augen, als er plötzlich spürte, wie Holger seine Hände an seine Arme legte und sie fest an sich drückte. Ein gütiges Lächeln erhellte auf Philipps Lippen. Er verstand die Geste als stummen Schrei nach Hilfe und nach dem unausgesprochenen Verlangen nach Halt und Geborgenheit. Die gab er ihm nur zu gerne und freute sich, dass er es nun auch zuließ.
„Ich liebe dich.“
Philipp schloss – diesesmal mit einem zufriedenen Lächeln – die Augen. Auch, wenn die Worte kaum hörbar waren, hatte er sie ganz genau verstanden und war sich der Besonderheit dieser Worte in gerade dieser Situation mehr als bewusst.



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