Kapitel 4 - Wenn ein Traum nichts weiter als ein Traum bleibt


Irgendwie bekam er die Zeit auch rum und war Punkt halb Drei wieder im Krankenhaus. Jetzt hieß es, dass doch schon um kurz nach Elf operiert worden war und Holger bereits wieder auf seinem Zimmer lag. Toll. Hätte man ihm nicht Bescheid geben können? Philipp erkundigte sich nach der Zimmernummer und machte sich auf den Weg dorthin. Ein Arzt verließ gerade den Raum, in den er eigentlich wollte.

„Herr Lahm, richtig?“

Philipp nickte.

„Ich bin Dr. Steadman, der behandelnde Arzt von Herrn Badstuber.“

Wieder nickte Philipp und fragte sich, wieso eigentlich alle Deutsch konnten, aber den Gedanken verbannte er schnell wieder in den Hintergrund.

„Er schläft noch, aber kommen Sie doch noch mal rein.“

Dr. Steadman öffnete die Zimmertür erneut und Philipp folgte ihm skeptisch. Er würde ihm nur sagen, dass alles abgelaufen war, wie geplant. Konnte er das nicht auch auf dem Flur machen?

Als Philipp eintrat, musste er unwillkürlich lächeln. Ruhig und friedlich lag Holger in seinem Bett und schlief. Das Bein war dick verpackt und er hing noch an einem Tropf.
„Wie ist die OP verlaufen?“

„Die OP gut, aber wir haben nicht getan, was wir wollten.“

„Wie?“ Irritiert drehte sich Philipp zu dem Arzt um und der erklärte ihm, dass sie ein Stück des Kreuzbandes entfernen mussten. Es wäre zu beschädigt. Die Bohrlöcher der ersten Operation müssen erst zuwachsen, ehe ein neues Kreuzband eingesetzt werden konnte.

Philipp starrte den Arzt an, aber schaute mehr durch ihn durch. Er fragte sich, was das jetzt bedeutete und der Arzt gab ihm die Antwort.

„Wir rechnen mit zehn Monaten Pause.“

Zehn? Zehn Monate? Keine sechs? Zehn…
Dr. Steadman sagte noch etwas, Philipp erwiderte auch etwas und sie schüttelten sich zum Abschied die Hand, aber er konnte später nicht mehr sagen, was sie für Worte gewechselt hatten.
Der Arzt verließ den Raum und Philipp stand dort rum wie bestellt und nicht abgeholt. Ganz langsam ließ er den Kopf in den Nacken fallen und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße!
Er drehte sich zu Holger um, der unwissend und vollkommen ruhig in seinem Bett schlief. Philipp zog sich einen Stuhl heran und setzte sich direkt neben ihn. Vorsichtig nahm er seine Hand und strich behutsam darüber. In seinen Augen sammelten sich Tränen, als er daran dachte, wie sehr Holger gestrahlt hatte, als er endlich wieder trainieren durfte. Das war doch alles so unfair. Warum denn? Was hatte Holger verbrochen, dass er so bestraft wurde?
Der Kapitän sah auf und studierte jeden Millimeter in Holgers Gesicht. Die dunklen Wimpern, die raue Haut, die weichen Lippen… er schüttelte seinen Kopf und wandte den Blick wieder ab. Das war doch alles scheiße!

Träge zuckten Holgers Augenlider etwas. Gerade einen Spalt weit öffnete er sie und entdeckte Philipp an seinem Bett sitzen. Ein weiches Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht. Es tat gut, dass er da war und er ihn in seiner Nähe wusste. In diesem Moment konnte der Innenverteidiger auch gar nicht deuten, warum Philipp irgendwie traurig aussah und den Blick langsam von ihm abwandte. Bestimmt war Philipp nur besorgt, weil er immer noch so müde da lag.
„I-ich hab von uns geträumt“, flüsterte er lächelnd, „Es war etwa Dezember, glaub ich... mein erstes Bundesligaspiel, bei dem ich wieder mitspielen durfte.“ Holger räusperte sich etwas, seine Stimme war heiser und leise. „Ich hab gleich eine rote Karte bekommen und mich tierisch aufgeregt. Und du... du musstest mich wie immer beruhigen und warst richtig genervt, dass das jetzt wieder los geht.“ Holgers müder Blick wanderte von Philipp zu seinem eingepackten Bein. Danach wurde er auf den Tropf aufmerksam, an dem er hing und so regelmäßig Schmerzmittel zugeführt bekam. Leise seufzte er.

Der Kapitän sah überrascht wieder zu Holger, als der plötzlich zu ihm sprach, ihm von seinem Traum erzählte. Tränen sammelten sich in seinen Augen, aber er blinzelte sie weg. Am liebsten hätte er Holger gesagt, er sollte die Klappe halten. Einfach ruhig sein. Nicht von Dezember reden. Nicht von der WM. Das würde alles ein Traum bleiben.

„Aber egal, wie sehr mich der Platzverweis auch geärgert hat, war es doch ein tolles Gefühl wieder mit euch auf dem Platz zu stehen.“ Vorsichtig bewegte Holger seine Hand etwas, während er weiter von seinem Traum erzählte. Warum er das tat? Vielleicht war er so erleichtert, dass die OP endlich vorüber war und er sich freute nach der Verletzung wieder spielen zu können. Und irgendwie war es ihm gerade ein Bedürfnis es zu erzählen. Philipp würde ihn schon unterbrechen, wenn es ihn störte.
„In der Kabine haben wir dann eine Wette abgeschlossen“, erzählte er langsam weiter. Man merkte ihm noch deutlich an, wie gerädert er von der Operation war. „Ich hab mir vorgenommen keine einzige Karte während der Spiele bei der Weltmeisterschaft zu kassieren. Du warst felsenfest davon überzeugt, dass ich das niemals schaffen werde.“ In Holgers Traum hatte deshalb der ganze anwesende Bayernkader gelacht, weswegen der Innenverteidiger auch jetzt schmunzelte und mit seinen halboffenen Augen Philipp leicht grinsend ansah. „Was meinst du? Wollen wir wetten, oder glaubst du auch, dass ich es schaffen könnte keine zu bekommen?“ Holger ahnte da ja noch nicht, dass die Chance auf eine gelbe Karte so gut wie gar nicht existierte, da er zu der Zeit gar nicht im Kader stehen würde.

Schief grinste Philipp ihn an. Die Wette war schon süß und er würde sie glatt antreten, aber so?
Er zögerte, aber er konnte es Holger jetzt noch nicht erzählen. Er war ja noch gar nicht richtig wach und noch ziemlich groggy von der Narkose. Aber er konnte es ihm auch so nicht sagen. Er brachte es nicht übers Herz. Dieses Grinsen, der Optimismus. Endlich wieder spielen. Im Dezember war es ein Jahr her. Für ein Jahr musste jetzt ein wahres Wunder passieren, aber wie sollte das gehen?
„Denk lieber noch mal drüber nach, ob du das auch wirklich schaffst keine Karte zu bekommen“, zwang sich Philipp endlich zu einigen Worten.

Holger stellte lächelnd fest, dass Philipp endlich wieder aufsah und schief grinste. Allerdings fand er es komisch, dass der Kapitän lange nicht darauf reagierte. Es dauerte ziemlich lange, bis dieser endlich etwas erwiderte. Sonst wusste er doch immer gleich etwas zu antworten.
„Ich schaff das“, sagte er fast schon trotzig. Wenn er sich etwas vornahm, dann klappte das auch. Hatte ja auch bei seinem Fast-Comeback geklappt. Wäre es nicht zu dieser unvorhergesehenen Wendung gekommen.

„Du bist von deiner Narkose noch zu sehr benebelt.“

„Was sprichst du denn jetzt von der Narkose?“ Verwundert zog Holger die Augenbrauen hoch. „Schau ich etwa noch so schläfrig aus?“ Was dachte Philipp denn? Dass er nicht klar denken konnte? Okay, wenn Holger es beurteilen musste, war er immer noch richtig müde und fühlte sich ziemlich schwach.

Ablenken. Nur nicht darüber reden müssen. Lächelnd strich Philipp über Holgers Hand, stand auf, beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Als er sich wieder setzte, fragte er sich direkt, wieso er das getan hatte. Er sollte vorher über seine Taten nachdenken, dann würde er sie vielleicht lassen.

Ohne es bewusst wahrzunehmen, lächelte Holger. Wegen des Kusses. Wegen eines Kusses auf die Stirn von Mannschaftskapitän Philipp Lahm. Das musste sich Holger erst mal zu Gemüte führen. Warum fühlte sich das so schön an?

„Schlaf noch etwas. Wir… wir reden dann morgen über deine Wette. Ich will dir wenigstens die Chance geben, im klaren Kopf darüber nachzudenken.“

„Du willst jetzt nur nicht wetten, weil du Angst hast zu verlieren. Und du glaubst, dass ich es später vergessen haben könnte. Nein, Phil. So kommst du mir nicht davon.“ Holger lachte leise, seufzte aber beim nächsten Atemzug bereits.

Das war gerade hart für Philipp. Er musste mitspielen. Holger wusste ja von nichts. Noch nicht. Aber irgendwie fragte Philipp sich, ob ihn das mehr mitnahm als Holger. Es kam ihm so vor. Dafür war er allerdings nicht hier. So wäre er nur ein weiterer Klotz am Bein. Wie war das im Flugzeug? Sowohl der Kreuzbandriss, als auch er waren einschränkend.
„Schlaf“, flüsterte er noch mal. „Ich bleibe so lange hier sitzen. Dafür bin ich immerhin da“, er hob ihre Hände hoch. „Zum Händchenhalten.“

Holger konnte nicht beschreiben, weswegen er sich so geborgen fühlte. Dass der Kapitän da war und an seinem Bett wachte, war ein schönes Gefühl. Auch wenn er es nicht zuordnen konnte, warum. Es lag jedenfalls nicht daran, weil er jetzt gerne und unbedingt Gesellschaft haben wollte.
„Na gut“, murmelte Holger und schloss die Augen. Nach nur wenigen Minuten neigte er seinen Kopf leicht zur Seite und war wieder eingeschlafen.

Die ganze Zeit lagen seine Augen auf Holger bis er irgendwann feststellte, dass sein Atem ruhiger wurde. Er war wohl eingeschlafen.
Er seufzte leise. Warum musste die WM auch im Sommer sein? Konnten sie die nicht einfach verschieben? Philipp konnte nicht anders als leise zu lachen. Wie absurd seine Gedanken schon wurden. Sein Versuch über etwas anderes nachzudenken, klappte einigermaßen. Eigentlich sogar recht gut, denn er saß wohl ziemlich lange da, als leise geklopft wurde und die Tür aufging. Dr. Steadman.

„Schläft er immer noch?“, fragte er direkt.

„Holger war eben kurz wach“, erklärte Philipp. „Aber er war noch ziemlich k.o.“

Nachdenklich nickte Dr. Steadman. „Ich wollte ihm eigentlich von der Operation erzählen…“

Der Kapitän strich noch mal über Holgers Hand, fast schon entschuldigend, bevor er aufstand und zu dem Arzt ging. „Er denkt, dass es mit den sechs Monaten getan ist. Wie hoch stehen denn die Chancen, dass sich die Zeit doch noch mehr verlängert?“

„Na ja…“ Dr. Steadman fuhr sich mit der Hand über sein Kinn. „Natürlich kann es immer zu Komplikationen kommen, aber normalerweise sollte es bei den zehn Monaten bleiben. Wenn wir erst mal das neue Kreuzband einsetzen können und das gut zusammenwächst, dann wird es auch keine Probleme mehr geben. Normalerweise. Allerdings sollte er diesmal lieber etwas länger warten, bevor er wieder mit dem Training beginnt.“

Philipp nickte nur. Den Gedanken hatte er auch schon. Aber hätte man das vorher ahnen können? Er war ja schon einige Wochen wieder dabei gewesen als es erneut gerissen war. Traurig schaute er aus dem Fenster.

Dr. Steadman musterte ihn lächelnd. Er wusste sehr wohl, dass Samstag für die Mannschaft ein großes Spiel anstand und trotzdem war der Mannschaftskapitän hier in den USA bei einem Spieler, der es schwer hatte, anstatt bei der ganzen Mannschaft in Deutschland.

„Und wie groß sind die Chancen, dass es weniger als zehn Monate werden?“ Philipp sah ihn nicht an als er die Frage stellte.

„Darüber sollten wir nicht reden.“

Er verstand schon. Zehn Monate waren also Minimum oder die konkrete Angabe. Irgendwie so was. Wieder seufzte er. Diesmal aber stumm. „Sie erzählen ihm aber was los ist, oder soll, darf, kann… was auch immer ich das machen?“



 

 

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