Kapitel 42 - Hilflosigkeit



Als der Kapitän zurück ins Zimmer kam, lag Holger schon im Bett. Zusammen mit dem Kakao. Ein leichtes Lächeln bildete sich auf Philipps Lippen, dann schloss er die Tür und krabbelte ungefragt auf die andere Bettseite. Er lehnte sich am Kopfende an die Wand. Nachdenklich ruhte sein Blick auf der Tasse, die Holger in den Händen hielt.
Philipp konnte nicht leugnen, dass er sich wünschte, dass er nicht hier sein müsste. Wieso hatte er nicht eher bemerkt, dass Holger am Ende seiner Kräfte war. Er war doch derjenige, der die ganze Zeit an seiner Seite gewacht hatte. Aber anscheinend war er blind gewesen... oder hatte das Triple es verschlimmert? Die Feier auf dem Rathausbalkon... hatte er deswegen so schlecht geschlafen? Aus Angst davor? So viele Fragen und keine Antworten. Vielleicht hatte Holger selber keine. Wer wusste das schon?
Seufzend stellte er erst jetzt fest, dass er sich ja festgeguckt hatte.
„Möchtest du noch einen?“, fragte er.

Holger schüttelte den Kopf: „Ne, danke.“ Anschließend drehte er sich etwas, um den Kapitän schüchtern anzulächeln. Es war seltsam, wie sie zusammen im Bett saßen. Aber keinesfalls schlecht. Mittlerweile mochte er die Nähe zu Philipp viel zu sehr, als dass er sich unwohl in seiner Gegenwart fühlte. Aber es machte es nicht unbedingt besser, dass er vor einigen Minuten vor seinen Augen weinend zusammengebrochen war. Gegen dieses Schamgefühl konnte er nichts tun. Zumal er einfach nicht wusste, was Philipp jetzt von ihm dachte. Und ihn fragen, wollte er auch nicht, da er nicht mal wusste, wie er so etwas formulieren sollte, ohne dass es sich komisch anhören würde.
„Du willst sicher gleich schlafen, oder?“ Holger stellte die Tasse zur Seite und schaltete die Nachttischlampe an, ehe er nochmal aus dem Bett huschte, um das große Licht abzuschalten. Zurück im Bett griff er wieder zu seinem Kakao. „Ich würd gern noch etwas wach bleiben. Aber wenn dich das Licht stört, können wir es auch ganz ausschalten“, sagte Holger verunsichert. Er dachte nicht daran, dass er jetzt gleich einschlafen konnte. Die Angst, wieder in einen Albtraum zu verfallen, war allgegenwärtig. Wenigstens diese Blöße wollte er sich heute nicht mehr geben.

Gerade war Holger ein offenes Buch für Philipp. Er sah ihm deutlich an, wie unwohl er sich fühlte. Ihm war das vermutlich ziemlich peinlich. Zumindest deutete neben seinem Gesichtsausdruck auch seine Unsicherheit daraufhin.
„Ich möchte noch nicht schlafen“, antwortete er schlicht, rutschte aber tiefer ins Kissen, legte sich auf die Seite und musterte den Innenverteidiger. Was wohl in seinem hübschen Kopf vorging? Vielleicht war er doch kein so offenes Buch, wie Philipp dachte.

Froh darüber, dass Philipp auch noch nicht schlafen wollte, lächelte er leicht und nahm einen Schluck aus der Tasse. Nur aus dem Augenwinkel sah Holger mit an, dass der Ältere tiefer rutschte und sich zu ihm drehte. Was schaute er ihn denn plötzlich so prüfend an? Dieser Blick, mit dem er von Philipp bedacht wurde, behagte Holger nicht und das zeigte sich auch in seiner Körpersprache, denn am liebsten hätte er ihm den Rücken zugewandt.

„Ich weiß nicht, was du gerade denkst“, fing er an. “Aber ich werde niemandem davon erzählen und dir muss das auch nicht peinlich sein. Ich habe Verständnis für deine Situation, Holger.“ Der Kapitän sprach ganz ruhig und vollkommen ernst.

Gewisser Maßen erstaunt war er dann über dessen Worte. Holger ging es schließlich genauso. Er hätte auch gern gewusst, an was Philipp gerade dachte. Und diese Antwort gab er dem Innenverteidiger.

„Das größte Verständnis kann nichts dran ändern, dass ich mir wünsche die Zeit zurückdrehen zu können“, erwiderte er ohne zu zögern. Eigentlich hatte er gar nicht vor das laut auszusprechen, aber irgendwie kam es einfach so über seine Lippen. Dennoch war er sichtlich erleichtert, dass Philipp niemandem davon erzählen würde. Das sollte auch wirklich niemand erfahren!

War es normal, dass diese Worte in gewisser Weise schmerzten? Also nicht richtig... Philipp konnte es nicht erklären, aber es fühlte sich komisch an. „Manchmal sind unsere Wünsche zu groß für eine Erfüllung“, flüsterte er.

Philipps Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Wie treffend der Satz doch war. Jeder hatte größere Wünsche, für die man alles daran setzte, um sie in Erfüllung gehen zu lassen, aber es war wie Philipp so schön sagte. Die meisten waren eben einfach zu groß dafür. „Wie recht du hast“, murmelte er in Richtung Tasse. War besser, wenn der Ältere es gar nicht erst verstand. Holger merkte selber schon, wie ihn das alles runterzog. Eigentlich konnte er kaum glauben, dass hier der Triple-Sieger Philipp Lahm, der mit Basti jedes Mal um die Wette strahlte, lag. Jetzt lag hier der mitfühlende, traurige Mannschaftskapitän. Holger ärgerte sich darüber. Gerade Philipp wollte er so nicht sehen und auch noch Schuld daran sein.

„Aber ich mache mir auch Sorgen...“ Philipp zögerte und richtete den Blick auf die Tasse in Holgers Händen. „Du solltest zu einem Psychologen gehen. Ich würde dir gerne helfen, aber ich kann es nicht. Du brauchst professionelle Hilfe.“ Jetzt war es auch an Philipp sich unsicher zu verhalten als er den Blick in Holgers blaue Meere richtete. Entweder er würde abblocken oder ihn hochkannt rausschmeißen, aber letzteres konnte er nicht, da war Philipp sich sicher. Er brauchte ihn. Und das womöglich nicht nur heute.

Der Ältere redete weiter und Holger verkrampfte sich von Wort zu Wort mehr. Dass er sich Sorgen machte, wusste er längst. Das war auch deutlich an dessen Mimik zu erkennen. Da brauchte es gar keine Worte dazu. Aber zu einem Psychologen? Holger wies das mit einem sofortigen Kopfschütteln von sich und richtete seinen Blick stur auf seine Tasse. Philipp konnte ihn ansehen soviel und solang er wollte, er würde diesen Blick jetzt nicht erwidern. Was sollte das überhaupt? Der Kapitän half ihm doch am meisten... aber ohne es zu wissen.
„Nein“, sagte Holger langsam, „Nein, ich brauch das nicht. Wirklich nicht.“ Holger versuchte entschlossener zu klingen, aber irgendwie wurde daraus wieder einmal nichts. „Es ist... also... sei mir nicht böse, Phil, aber ich weiß selbst, ob ich professionelle Hilfe brauche oder nicht.“ Nur weil er mitten auf dem Trainingsfeld einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, hieß das doch noch lange nicht, dass er einen Psychologen nötig hatte.

Dass Holger es ablehnte zu einem Psychologen zu gehen, wunderte ihn nicht. Er beschloss mal mit Jupp zu reden... vielleicht hätte er auch nicht unbedingt heute davon anfangen sollen, aber gut, war jetzt nun mal so gewesen. „Ich bin dir nicht böse, aber ich glaube dir das nicht. Du scheinst deine Grenzen nicht zu kennen, sonst wäre das vorhin nicht passiert... aber okay, es ist deine Entscheidung. Nur, dann komm wenigstens zu mir, wenn du nicht mehr kannst.“ Aber warum ausgerechnet denn zu ihm? Philipp ruderte lieber etwas zurück: „Oder geh zu Bastian oder... so.“ Fast hätte er Marios Namen ausgesprochen, aber rechtzeitig erinnerte er sich daran, dass auch dessen Name auf dem Spielfeld genannt wurde... auch, wenn Philipp den Zusammenhang nicht verstand, aber das war gerade nicht wichtig.

Holger nickte leicht, als der Kapitän ihm die Entscheidung überließ, ob er sich Hilfe suchte. So bedrängte er ihn nicht. Beim zweiten Satz konnte Holger nicht anders als zu lächeln. Es war so ein schönes Gefühl für ihn, dass er zu Philipp kommen konnte, wenn er ihn brauchte. War das der Grund, weswegen er sich so geborgen bei ihm fühlte? Nein, da kam dieses Gefühl dazu, das gar nicht in Verbindung mit Philipp existieren durfte.

Vorsichtig streckte Philipp seine Hand aus und berührte unsicher Holgers Arm.

Genau diese Gefühle, die er nicht empfinden durfte, kamen erneut auf, als er die zaghafte Berührung an seinem Arm spürte. Sie war von unglaublicher Vorsicht geprägt.

„Doch, ich kenne meine Grenzen“, widersprach er leise und keinesfalls so störrisch wie sonst. Gerade weil er seine Grenzen kannte, wusste er, dass sein Comeback in den Sternen stand, nach denen er nicht mehr greifen konnte. Nicht mehr greifen würde. Er war zu ausgebrannt dafür.

Das nahm Philipp ihm nicht ab. Holger kannte seine Grenzen nicht. Oder sie redeten aneinander vorbei... meinte der Innenverteidiger andere Grenzen? Ging es um seine Verletzung? Philipp wusste es nicht, aber er fragte nicht nach.

„Ich will dich nicht noch mal so am Boden sehen... das bist nicht du“, flüsterte der Kapitän.

Doch, genau das war er. Ein Häufchen Elend. Auf ewig vom Pech verfolgt.
„Wir können eben nicht alle Triple-Helden sein“, äußerte sich Holger scherzhaft und wollte etwas lachen, doch es endete in einem Schluchzen.

Der Satz war schon schlimm, aber das Schluchzen war noch schlimmer. Philipp setzte sich auf, nahm Holger die Tasse aus der Hand und zog ihn in seine Arme. Er konnte nicht anders. Er wollte Holger doch nicht mehr weinen sehen. Was sollte er denn noch tun? Er fühlte sich schon wieder so hilflos.
„Du bist doch auch ein Held, Holger. Jeder kann ein Held sein. Vor allem in zehn Monaten wirst du ein Held sein.“ Er wusste gar nicht, was er da alles sagte. Langsam war er mit seinen Worten am Ende. „Mach dich nicht selber immer so schlecht. Das hast du nicht verdient.“

Holger kam gar nicht dazu etwas zu sagen, da fand er sich schon in den Armen Philipps wieder. Diese Arme, die er liebte, wenn sie um seinen Körper lagen. Sein Kakao dagegen fand sich auf dem Nachttisch wieder, aber es war egal, denn der Innenverteidiger konzentrierte sich nur noch auf die Worte des Kapitäns. Die aufmunternde Wirkung, die sie haben sollten, entging Holger nicht, aber dennoch wollte er das nicht mehr hören. Nicht mehr von zehn Monaten reden. Und auch nicht mehr davon, dass er ein Held war. Das war er nicht. Philipp war einer, aber nicht er. „Hör auf.“ Er nutzte seine Arme und drückte sich leicht von ihm weg. „Hör bitte auf. Ich weiß, du meinst es gut, aber ich kann das nicht mehr. Der einzige, der nicht verdient hat hier bei mir sein zu müsse, bist du.“ Es geschah einfach so. Holger wusste nicht, was in ihn gefahren war, dass er Philipps Umarmung abwies und sich abwandte. Das alles war so furchtbar wirr mittlerweile. Am liebsten würde er gar nichts anderes mehr, als in seinen Armen zu liegen, aber anderseits schmerzten seine Worte und auch seine Berührungen. Weil sie nie das aussagten, was Holger sich insgeheim wünschte.

Was? Hatte er richtig gehört? Irritiert ließ Philipp sich zurückdrücken. Alles in ihm sträubte sich dagegen, aber er wollte Holger nicht zwingen. Es tat weh... die Worte und noch mehr die Handlung. Wieso musste er ihm so die kalte Schulter?
„Ich dachte, du hättest es verstanden... dass ich nicht hier bin, weil ich es muss, sondern weil ich es will. Weil du mir wichtig bist und mir verdammt noch mal was an dir liegt.“

Philipps Worte und seine Stimmlage klangen für Holger enttäuscht, traurig und auch irgendwie erbost.

Traurig starrte Philipp auf Holgers Rücken, ehe er sich ebenfalls umdrehte und unter die Decke kuschelte. Bitte, wenn er nicht erwünscht war... er konnte auch direkt wieder fahren! Aber das traute er sich nicht laut auszusprechen aus Angst, Holger könnte zustimmen und er wollte ihn heute einfach nicht alleine lassen. Obwohl er gerne gehen würde. Raus hier und irgendwohin, wo er seinem Ärger Luft machen konnte. Am liebsten würde er Holger mal so richtig anschreien und in den Arsch treten, aber das war wohl die falsche Methode bei ihm. Vor allem heute.
Wieder kam die Hilflosigkeit in ihm hoch. Er würde morgen, spätestens aber übermorgen mit Jupp sprechen. Vielleicht hörte Holger ja auf ihn, wenn er ihn zu einem Psychologen schickte.
Starr schaute Philipp auf die Steckdose an der gegenüberliegenden Wand. Er wollte und er konnte nicht schlafen. Zu viele Gefühle und Gedanken wühlten ihn zu sehr auf.

Holger hörte das Rascheln der Bettdecke und schielte zu dem Kapitän. Tatsächlich kuschelte dieser sich in die Decke und drehte ihm den Rücken zu. Warum auch nicht? Holger hatte mal wieder deutlich gezeigt, dass er seine Nähe nicht wollte. Zumindest musste es für Philipp so rüber kommen. Der ahnte ja noch nicht einmal, dass er für Holger auch verdammt wichtig war. Zu wichtig...

Ohne etwas zu sagen, schwang der Innenverteidiger seinen Körper aus dem Bett, griff zu den Krücken und verließ das Zimmer.
Sein Weg führte ihn in die Küche, in der er vor dem Gefrierschrank stehen blieb und sich einen Kühlpad herausholte. Anschließend humpelte er ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und legte die Kühlung auf das schmerzende Knie. Schon zu oft war Holger heute zum Heulen zumute, ließ seinen Tränen auch freien Lauf, aber jetzt konnte er das nicht. Er starrte lediglich auf das Regal mit dem Hasen. Was hatte Philipp mal in Vail gesagt, als sie sich wegen des Rollstuhls gestritten hatten? Er war der einzige, der weg lief und er sollte es nicht tun. Aber Holger machte es wieder und wieder.
Holger nahm sich vor, dass er sich diesesmal überwinden würde und nicht floh. Sein Herz schlug viel schneller, als er sich der Schlafzimmertür näherte und die Klinke berührte. Doch er drückte diese nicht nach unten. Seine Hand ruhte darauf und er dachte daran, wie Philipp jetzt in diesem Bett liegen musste, sich sorgte und zugleich über ihn ärgerte. Und mit einem Mal überkamen ihn Zweifel erneut den Raum zu betreten. Holger ließ von der Tür ab und ging zurück ins Wohnzimmer, in dem er sich schließlich eine Wolldecke schnappte, sich ein Kissen zurecht klopfte und sich mit unglaublich schlechtem Gefühl hinlegte.

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