Kapitel 19 - Ein Fettnäpfchen jagt das Nächste



Holger wollte gerade auf das Spiegelbild verweisen, da schnappte sich der Ältere auch schon beide Brillen und verschwand im Innenraum des Ladens. „Willst du sie dir vielleicht nicht mal ansehen, ob sie dir auch gefällt?“, sagte er trotzdem noch und schüttelte schmunzelnd den Kopf. Entweder Philipp hatte es vollkommen vergessen oder traute ihm so sehr, dass er sich nicht vergewissern wollte, ob es wirklich so perfekt, wie Holger es beschrieb, aussah. Kurz schaute er ihm noch hinterher, bevor er seinen Geldbeutel aus der Hosentasche nahm. Er konnte Philipp nicht für alles bezahlen lassen. Er nahm einen Schein heraus und nahm sich vor diesen dem Älteren zu zustecken. Die Brillen waren alles andere als billig.
„Guck mich mal an.“ Überrascht drehte er seinen Kopf zu Philipp, der ihm die Sonnenbrille vorsichtig aufsetzte. Die Berührung fühlte sich gut an, auch wenn es nichts besonderes war. Es handelte sich um keine Zärtlichkeit, lediglich eine Berührung als Mittel zum Zweck, der darin bestand ihm die Brille aufzusetzen. Nicht mehr und nicht weniger. Und trotzdem formte sich sein Mund zu einem Lächeln.
Noch bevor Holger auf Philipps nächste Frage antwortete, steckte er ihm den Geldschein zu und ignorierte die protestierenden Blicke.

„So, jetzt geht das ganze doch schon viel besser. Wo wollen wir hin? Die Straße einfach weiter runter?“

„Ja, oder? Da sind noch eine Menge Geschäfte.“ Es war eine regelrechte Einkaufsstraße. In alle Läden wollte Holger auch nicht, aber für ein paar konnte er sich sicher noch begeistern. Philipp würde schon nichts dagegen haben.

Nachdem sie in einem Bekleidungsladen alle Gänge durchforsteten, war der Kapitän der Meinung Holger sollte sich lieber wieder in den Rollstuhl setzen, um sein gesundes Bein nicht zu sehr zu belasten. Widerwillig stimmte er zu, wollte er doch auch nicht mitten in der Stadt einen Aufstand proben.
Der nächste Shop war mehr mit Souvenirs ausgestattet. Da die Auswahl zwar groß, aber nicht sonderlich gut war, konnten sie das Geschäft auch schnell wieder verlassen.

Philipp genoss es die Zeit unbeschwert mit Holger verbringen zu können. Es war dem Innenverteidiger anzusehen, dass es ihm gut tat mal aus dem Krankenhaus rauszukommen und vor allem auch das Gelände zu verlassen. Ob Jupp das gewusst hatte? Wenn Philipp ehrlich war, fragte er sich immer noch, warum ausgerechnet er nach Vail geschickt worden war. Immerhin hätte Toni auch mit Holger shoppen gehen können. Und es war ja nicht so, dass sie die besten Freunde waren. Es brachte aber auch nichts sich darüber Gedanken zu machen. Jupp würde seine Gründe haben und die sicher auch für sich behalten.

Irgendwann entdeckte Holger die Eisdiele, die auch er im Visier gehabt hatte. Zielsicher steuerte er den Rollstuhl dorthin. Draußen war unter einem Sonnenschirm noch ein kleiner Tisch frei. Philipp stellte einen Stuhl beiseite, schob Holger direkt vor den Tisch und setzte dieses Mal die Bremse fest. Dann ließ er sich auch auf einem Stuhl nieder.
„Auf was hast du denn Lust?“, fragte er Holger, während er die Karte nahm. Er rutschte etwas herum, damit sie zusammen die Auswahl betrachten konnten.
„Die haben aber echt viel Auswahl hier. Guck mal, der Fruchtbecher sieht gut aus… hm… ich glaube, ich nehme den.“ Philipp blätterte noch etwas durch, ehe er Holger die Karte ganz rüberschob. „Ja, ich nehme diesen Fruchtbecher“, beschloss er und lehnte sich zurück.

Überfragt zuckte Holger mit den Schultern und studierte die Karte. Philipp entschied sich dann doch recht schnell für den Früchtebecher, der auf der Abbildung auch wirklich nicht schlecht aussah. Aber etwas anderes war für den Innenverteidiger dann doch verlockender; die Eisschokolade.

Von der Seite beobachtete Philipp den Jüngeren, wie er nun alleine die Karte studierte. Lächelnd nahm Philipp zur Kenntnis, dass er zwar nachdenklich aussah, aber keinesfalls traurig. So sollte er auch nicht aussehen, obwohl er allen Grund dazu hätte. Zum wiederholten Male fragte Philipp sich, was sich der liebe Gott dabei gedacht hatte, als er Holger so bestraft hatte. Eigentlich konnte er dabei gar nichts gedacht haben. Er hatte es nicht verdient… der Kapitän ertappte sich, wie er den Jüngeren fast mitleidig ansah. Schnell setzte er wieder sein fröhliches Lächeln auf. Holger musste das nicht sehen.
„Wir haben echt Glück mit dem Wetter. Im Hotel habe ich heute morgen gesehen, dass es eigentlich regnen sollte heute“, stellte er fest.

Durch den Kommentar zum Wetter schob Holger seine Sonnenbrille etwas vor und schaute prüfend in den Himmel. „ Kann noch kommen“, verwies er auf die dunklen Wolken, die sich im Osten langsam, aber stetig, bildeten. „Naja, Hauptsache es hält aus, bis wir wieder in der Klinik sind.“

Philipp nickte. „Ja, wäre echt besser.“

Holger seufzte stumm. Viel lieber würde er den gesamten Tag außerhalb des Sportkrankenhauses verbringen. Die Sonnenbrille rückte er wieder zurecht und warf einen kurzen Blick zu Philipp, der sich fröhlich grinsend zurück lehnte. „Hast du dir die Sonnenbrille jetzt eigentlich schon angesehen, die ich dir ausgesucht hab?“ Philipp hatte sie ja stur gekauft ohne nochmal in den Spiegel zu sehen. Bevor der Kapitän antworten konnte, kam eine Bedienung an den Tisch und nahm die Bestellung entgegen.

Verwirrt sah er Holger an. „Klar. Auf dem Weg zur Kasse hing ein Spiegel, in den ich geguckt habe“, erklärte er. „Hast du gut ausgesucht. Die gefällt mir echt richtig gut. Danke.“ Sanft lächelte er Holger an. Er hätte vermutlich wirklich die andere genommen, aber die hier gefiel ihm auch definitiv besser.

Als die Bedienung wieder verschwand, lehnte sich Holger etwas nach vorne und legte seine Arme auf der Tischplatte ab. „Aber erzähl mal, wie's denn im Hause Lahm so läuft. Stresst euch Julian sehr?“ Claudia war ja nun schon wieder allein mit dem gemeinsamen Sohn, weswegen Holger erst recht nicht verstand, warum Jupp ihn dazu verdonnerte nach Vail zu fliegen. Aber er wollte sich auch sicher nicht beschweren.

Interessierte das Holger wirklich oder wollte er einfach nur ein Gesprächsthema finden? Egal, irgendwie freute es Philipp, dass er nachfragte.
„Na ja… er hat natürlich unser ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Nichts ist wie früher. Aber es ist nicht schlechter. Zwar ist auch nicht alles besser, aber wenn ich nach Hause komme nach einem anstrengendem Tag und er lacht mich an… das ist einfach wundervoll“ Glücklich lächelte Philipp vor sich hin. „Das sind so Momente, da weißt du, dass es sich lohnt auch mal auf etwas zu verzichten. Ich bin aber auch froh, dass unsere Eltern in der Nähe sind, die auch oft auf ihn aufpassen, damit Claudia und ich auch mal einen ruhigen Abend für uns haben. Ich glaube, das ist wichtig.“
Irgendwie fragte Philipp sich, was er da gerade machte. Er schwärmte Holger von seiner Familie vor und er? Hatte seinen Vater früh verloren und derzeit auch keine Freundin. Oder hatte er da was verpasst?

Holger lauschte interessiert Philipps Erzählungen. Freute sich für den Kapitän, dass es anscheinend sehr gut lief, aber es stimmte ihn auch traurig, weil der Innenverteidiger nichts davon besaß. Zwar hatte er seiner Meinung nach die tollste Mutter, die beste Schwester, ein schönes Umfeld, aber keinen Vater, keine Freundin und kein Kind. Allerdings verstörte Holger die Tatsache, dass er sich insgeheim gewünscht hätte, dass es nicht ganz so toll bei Philipp lief. Nicht, weil er ihm sein Glück nicht gönnte, aber er wusste selber nicht woher dieses merkwürdige Gefühl überhaupt kam. Wahrscheinlich hatte es etwas mit seiner schleichenden Missgunst zu tun, die er ständig zu verdrängen versuchte und trotzdem hegte.
Holger lächelte Philipp einfach nur an, als dieser erzählte. Nickte auch ab und an, was sollte er auch sonst tun? Wenn er sich schon nicht ehrlich für ihn freuen konnte, dann konnte er es ihm doch zumindest vorspielen.

„Was ist denn mit dir? Immer noch nicht fündig geworden auf dem Markt?“ Schmunzelnd stieß Philipp ihm leicht in die Seite. Eigentlich würde ihm doch gerade jetzt eine Freundin gut tun oder nicht? Jemand der da war, den er brauchte, wenn ihn der Mut verließ. Jemand, der jetzt da war, während er in Vail auf seine Operation warten musste. Jemand, der seine Hand hielt…
War er da gerade in ein Fettnäpfchen getreten? Holger sehnte sich sicher nach so jemandem. Aber dafür war er ja da. Er würde die nächste Zeit immer da sein, wenn der Innenverteidiger ihn brauchen würde. Dieses stumme Versprechen gab er ihm in genau diesem Moment, in dem das Eis ankam. Philipp grinste leicht, bedankte sich höflich und sah dann Holger abwartend an, der ja noch nicht geantwortet hatte.

Sehr gutes Thema. Holger war kurz davor die Augen zu verdrehen. Hätte er diese blöde Frage doch nie gestellt.
„Nein, noch nicht“, antwortete er wenig begeistert. Es war eben noch nicht die Richtige dabei. Er war doch auch erst 24 und hatte noch ein bisschen Zeit, bevor er alt und unattraktiv werden würde.

Wow, das war ja eine ausführliche Antwort. Also hatte er einen wunden Punkt getroffen. Super, Philipp. Es war doch immer das Gleiche. Er konnte sagen, was er wollte, es war falsch. Wie dämlich konnte er eigentlich sein?

Holger war dankbar, dass die Serviererin bereits ihre Eisbecher brachte, wodurch sich der Jüngere auf die Eisschokolade konzentrieren konnte und Philipp nicht ansehen musste. Was der wohl jetzt dachte? Dass er Keine abbekam? Dass er nicht beziehungstauglich war? Dass niemand es mit ihm aushielt? Wahrscheinlich dachte er alles und hatte noch mehr Mitleid mit ihm. Er merkte gar nicht, dass er die Eisschokolade hinunterschlang, anstatt sie zu genießen.

Stumm stocherte Philipp in seinem Eis herum. Er hatte plötzlich gar keine Lust mehr darauf. Ein Seitenblick verriet ihm, dass Holger ziemlich schnell aß. Seit wann das denn? Er ließ sich doch sonst immer ganz genüsslich Zeit. Vielleicht wollte er endlich zurück ins Krankenhaus wo er Philipp ins Hotel schicken würde, damit er seine Ruhe hatte. Oder reimte er sich da gerade wieder irgendeinen Mist zusammen?
„Manchmal würde ich gerne in deinen hübschen Kopf gucken“, ein zartes Lächeln umspielte Philipps Lippen als er Holger ansah.
„Weißt du, ich hab mir das oft gewünscht. Immer, wenn du mal wieder mit so einer nachdenklichen Miene in der Kabine gesessen hast. Oder wenn du uns besucht hast und uns einfach Gesellschaft geleistet hast.“ Er hatte sich oft gefragt, warum Holger da gewesen war. Aber die Frage konnte er sich jetzt beantworten. Zuhause war niemand, der für ihn da war und außerdem musste er sich bei Laune halten. Das ging hier bloß nicht. Hier war nur Philipp, der einen Bock nach dem anderen raushaute.

„Was?“ Überrascht hob Holger den Kopf, löste seinen Blick sogar von seiner Eisschokolade, die er erstaunlicherweise schon fast leerte. Deswegen fühlte sich sein Magen und Hals so seltsam kalt an. Hübschen Kopf? Okay... eigentlich noch kein Grund verlegen zu grinsen. Warum machte er es dann?
Philipp sprach weiter und Holger konnte nur die Augen weiten. So schnell konnte ein Grinsen auch wieder verschwinden.
„Besucht?“, flüsterte er ungläubig. So nannte man das also jetzt schon. Er besuchte die Mannschaft, war also nur noch ein Gast. Konnte man es Philipp verübeln, dass er ihn so nannte? Nein, eigentlich nicht. Holger ermahnte sich aufzuhören jedes Wort schon wieder auf die Goldwaage zu legen. Das hatte Mario doch von ihm verlangt, dann sollte er endlich mal drauf hören. Wie hätte Philipp es schließlich sonst ausdrücken sollen, außer das Wort „besucht“ zu nennen? Es war nicht seine Absicht dem Kapitän ein Gefühl zu vermitteln, dass er etwas falsch machte. Philipp machte nicht alles falsch, eigentlich war Holger das schwarze Schaf, das alles falsch aufnahm.

Holgers überraschtes Gesicht quittierte Philipp mit einem Schmunzeln. Zwar war es eigentlich nur so eine Redewendung, aber er meinte seine Worte ernst. Genau so, wie er sie gesagt hatte. Immerhin war Holger doch hübsch, oder? Also wenn er das so als Mann beurteilen konnte zumindest… was dachte er da eigentlich?
Ebenfalls unkommentiert ließ er das fragende „Besucht?“ von ihm. Was sollte er ihm erklären? Wie sollte man es denn sonst nennen, wenn Holger eigentlich verletzt zu Hause sitzen sollte, aber trotzdem an die Säbener Straße kam? Philipp nannte es nun mal „besuchen“. Aber bei Holger war ja sowieso jedes zweite Wort falsch gewählt. Streit und Diskussion sparte er sich also, indem er sich jegliche Reaktion darauf verbot.
Philipp wollte noch etwas sagen, als sich sein Handy bemerkbar machte. Eine SMS. „Von Claudia“, stellte er fest.

//Dein Flug ging wann? Vor 48 Stunden? Biste inzwischen angekommen? Wäre gut zu wissen… Philipp, ich mach mir Sorgen. Meld dich doch wenigstens mal. Claudia//

„Ups“, entfuhr es ihm. Er hätte wirklich daran denken können seiner Frau wenigstens zu schreiben, dass er gut angekommen war. Aber irgendwie hatte sich das nicht ergeben. Apropos SMS…

„Was ist denn?“, hakte Holger irritiert nach, war aber ganz froh, dass sie unterbrochen wurden. Aber anstatt einer Antwort, fing der Kapitän von etwas ganz anderem an.

„Ach, was ich gestern nicht unbedingt vor Schwester Anna sagen wollte“, fing Philipp an und druckste etwas herum. Wandte den Blick sogar von Holger ab. „Ich fand es toll, dass du so ehrlich in der SMS warst.“ Fast schon unsicher hob er jetzt doch wieder den Kopf. Lächelte beinahe schüchtern. „Es tut mir auch leid. Ich wollte dich mit dem Foto und den Worten dazu nie verletzen. Ich habe es wirklich nur gut gemeint. Und hätte Jupp mich nicht eh geschickt, wäre ich von mir aus noch mal gekommen. Vermutlich dann erst nach dem DFB-Pokal, aber… na ja… ich wäre gekommen.“ Philipp konnte nicht sagen, ob er es sich einbildete oder ob er leicht rot wurde.
Ohne darüber nachzudenken, dass er seiner Frau noch gar nicht geantwortet hatte, ließ er das Handy wieder verschwinden.

Philipp war sichtlich angespannt. Lächelte nervös und eine zarte Röte bildete sich in seinem Gesicht, was Holger auffiel, als er die Sonnenbrille etwas runterschob. Fiel es ihm schwer das auszusprechen?
„Schon gut. Wir sind quitt. Du hast mich mit diesen Worten verletzt und ich dich mit der darauf folgenden SMS. Aber eigentlich weiß ich ja, dass du mir damit eine Freude machen wolltest, aber in dem Moment... ach, keine Ahnung. Ist jetzt auch egal“, lächelte Holger leicht, um dem Kapitän zu zeigen, dass es nicht immer an ihm lag. „Du müsstest mich doch kennen, dass ich gerne mal überreagiere.“ Er erinnerte sich wieder an den Traum nach seiner Operation, in dem er Philipp eine Wette vorgeschlagen hatte. Hätten sie diese wirklich angetreten, dann hätte Holger sich während der Weltmeisterschaft stark zügeln müssen.

„Ich möchte aber nicht, dass etwas einfach so als ‚egal‘ abgestempelt wird, was eigentlich nicht egal ist…“ Zögerlich suchte Philipp Holgers Blickkontakt. War es wirklich so egal?

„Warum eigentlich?“, griff Holger den letzten Satz auf. „Warum wärst du nochmal gekommen, obwohl ich dich zurückgestoßen hab?“ Und vermutlich auch wieder tun werde, fügte Holger in Gedanken hinzu. Beim besten Willen konnte sich der Innenverteidiger nicht vorstellen, dass es nur wegen dieser einen SMS war.

Eine gute Frage. Warum eigentlich? „Ich weiß nicht“, gab Philipp zu und kratzte sich verlegen am Kopf. „Also… ich kann es zumindest nicht gut erklären“, fing er dann anders an, bevor Holger es falsch auffasste. „Ich meine, ich weiß doch, dass du es eigentlich nicht so meintest.“ Er wollte wieder damit anfangen, dass Holger in einer scheiß Situation war und er Verständnis hatte, aber dann wären sie wieder an so einem negativen Punkt. Deswegen schwieg er. Allerdings gab es da von seiner Seite aus noch einen anderen Grund. „Und ich mag dich. Ich möchte dir helfen und für dich da sein. Bei dir sein…“ Fast schon schüchtern zuckte er mit den Schultern, hielt den Blick auf sein Eis gerichtet und aß weiter bevor es ganz geschmolzen war. Ihm wurde gerade klar, dass das wirklich so war. Er wollte bei Holger sein. Allerdings konnte er die Gründe dafür noch nicht ganz definieren.

Holger verfolgte Philipp skeptisch mit seinen Blicken. Er druckste schon wieder herum, so als ob er Probleme hätte beim Beantworten der Frage. Und das bestätigte er auch gleich in seinem ersten Satz. Holger war froh, dass die Sonnenbrille nicht verriet, dass er ihn musterte, obwohl sein Kopf Richtung Eisbecher gesenkt war. Es war seltsam den Kapitän so unsicher und verlegen zu erleben. Er strotzte meistens vor Selbstsicher– und Entschlossenheit.
„Wirklich?“ Äußerst intelligente Nachfrage. Philipp hatte es sicher nicht nur zum Spaß gesagt, um ihn aufzuheitern. So wie dieser herum druckste, war das sein voller Ernst und alles was Holger dazu sagen konnte, war ein dämliches „Wirklich“. Da wäre die Frage nach dem 'Warum' vielleicht noch sinnvoller gewesen.

Ganz zaghaft und nur für einen kurzen Moment legte Holger seine Hand auf Philipps.


Als Philipp plötzlich eine Hand auf seiner spürte, schaute er allerdings wieder auf.

„Danke, Phil. Mir bedeutet das wirklich viel, dass du hier bist und auch von selbst wieder gekommen wärst.“

Sanft lächelte Philipp Holger an. „Das habe ich gehofft. Ich wollte ja nicht ganz umsonst kommen“, erklärte er. Aber wieso sprach er jetzt etwas leiser? Flüsterte fast schon? Er konnte es sich nicht erklären.

„Ich bin wirklich froh drüber. Wärst du nicht gekommen, würd ich wahrscheinlich wie sonst auch in meinem Zimmer herum sitzen und meinen vergangenen Träumen hinterher trauern.“ Wow. Holger schaffte es sogar noch in einem Anflug an Nettigkeit verbittert zu klingen. Es war doch früher nicht so gewesen...

Diese Worte taten gut. Sie waren aber auch traurig. Vergangene Träume? Wie die Weltmeisterschaft? Was wäre das wohl für ein Gefühl? Wenn sie es wirklich schaffen sollten und er nicht mal Ansatzweise ein Teil davon gewesen wäre? Wer würde die 14 auf dem Rücken tragen? Dachte Philipp gerade wirklich darüber nach? Er sollte es lassen…
„Du hast doch was davon geschrieben, was in Zukunft sein wird… was meinst du damit? Hast du Neuigkeiten? Weißt du schon mehr?“ Vielleicht sollte er die Frage nicht stellen, weil er schon wieder in ein Fettnäpfchen trat, aber er konnte nicht anders. Er musste doch wissen, was mit Holger war.

Allerdings stimmten Philipps nächsten Worte ihn sofort wieder trauriger. Warum fragte er gerade jetzt nach? Wieso überhaupt? Es gab doch bezüglich seiner Verletzung ausschließlich schlechte Neuigkeiten. Ohne es zu wollen, drängten sich Gespräche mit Dr. Steadman in seine Gedanken. Dass er etwa Oktober ein neues Kreuzband bekommen würde, dass er derweil ohne Kreuzband die Reha über sich ergehen lassen musste, dass sie sich noch nicht sicher waren, wann er wieder nach Deutschland konnte. So kam er auch wieder auf das Gespräch mit dem Mitpatienten zurück, an das er gar nicht mehr denken wollte. Nicht damit konfrontiert werden, dass es mit seiner Karriere zu Ende sein könnte.
„Ne, gibt noch nichts neues“, antwortete er kopfschüttelnd. Zwang sich zu einem Lächeln, verbarg seine glasigen Augen hinter seiner Sonnenbrille und bemühte sich diesesmal nicht weinerlich die Lippen zusammen zu pressen. Er wollte darüber jetzt nicht reden, nicht in der Öffentlichkeit und in einer Situation, aus der nicht fliehen konnte.

Irgendwie lag Philipp die Frage auf der Zunge, ob das wirklich so war. Er musste was wissen. Aber warum wollte er es nicht erzählen? Der Kapitän wollte gerade nachfragen als Holgers Handy klingelte.

„Es ist Mario“, stellte der Innenverteidiger bei einem Blick auf das Display fest, „Kann ich rangehen?“

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