Kapitel 29 – Zum Scheitern verurteilt




„Was ist denn mit Herrn Badstuber?“, fragte Schwester Anna besorgt nach. „Aber wissen Sie was? Warten Sie, ich hole eben eine Salbe.“ Die Tür ging ein zweites Mal auf und zu. Keine Minute später ging sie allerdings wieder auf.

„So, zeigen Sie mal.“

Bereitwillig zeigte Philipp ihr seinen Rücken, aber er war nicht bei der Sache. Er dachte an Holger. Ihm musste klar sein, woher der blaue Fleck kam. Hatte er ihn vorhin auch gesehen?

„Was ist denn nun mit ihm? Wissen Sie das? Er tut mir immer so leid“, gab sie zu.

Ein Lächeln schlich sich auf Philipps Lippen. „Ich glaube, das alles ist einfach zu viel für ihn im Moment.“ Das war eine gute Umschreibung, die sogar der Wahrheit entsprach.

„Da ist es doch gut, dass er morgen zurück nach München kann. Fertig! Soll ich Ihnen etwas drüber kleben, damit sie sich wieder etwas anziehen können?“

Philipp drehte sich zu ihr um und sah sie einen Moment lang an. Das würde bedeuten, dass er Holger folgen wollte. Wollte er das? Er war im Zwiespalt. Schwester Anna schien das zu bemerken, da er sie unschlüssig ansah und einfach nicht antwortete.

„Ich hole Ihnen was.“ Wieder verschwand sie.

Der Kapitän warf einen Blick auf die Reisetasche. Er musste ihm folgen, um das zu klären.
Schwester Anna kam rein, klebte ihm ein großes Pflaster drauf, damit die Creme auch in die Haut und nicht in sein T-Shirt zog, dann verschwand sie mit einem aufmunternden Lächeln.
Nicht unbedingt erfreut stand Philipp jetzt im Zimmer. Was sollte er machen? War Holger nicht gegangen, um alleine zu sein? Oder wollte er einfach nicht, dass die Krankenschwester mitbekam, woher der blaue Fleck kam?
In Gedanken versunken ging er zu seinem T-Shirt und griff danach. „Na, super“, grummelte er. Es war noch feucht. Kurzerhand ging er zu Holgers Tasche und fischte eine Pullijacke heraus. Er zog sie sich über und wie erwartet, war sie ihm zu groß, aber das war egal. Darum ging es ja auch gar nicht. Frage war nur, wo war Holger? Er verließ das Zimmer und ging in den Krankenhausgarten. Kein Holger. Er ging in die Cafeteria. Kein Holger. Zurück in den Aufenthaltsraum im ersten Stock. Kein Holger.
Philipp fuhr wieder mit dem Aufzug nach unten. Wo konnte er denn noch sein? Suchend sah er sich im Eingangsbereich um, als er plötzlich stockte. Da draußen… war er das? Er begab sich zum Eingang und durchschritt die Tür. Tatsächlich, er saß unter einem Vordach auf einer Bank. Es war kalt draußen und Philipp hatte keine Lust lange in dieser Kälte zu sitzen. Er trat etwas näher, blieb aber unsicher auf Abstand.

Holger lauschte dem Prasseln des Regens, hörte wie die Tropfen auf den harten Beton aufschlugen. Auch wenn es etwas kalt war, beruhigte ihn dieses Geräusch des Regenschauers.

„Komm wieder rein“, sagte Philipp lediglich.

Holger öffnete die Augen und drehte seinen Kopf langsam zur Eingangstür. Schnell wischte er sich die Träne von seiner Wange und sah den Kapitän stumm an. Warum war er ihm gefolgt?
Philipp stand seltsamerweise weit weg. Aber er durfte sich nicht wundern, dass Philipp auf Abstand ging. Wahrscheinlich fürchtete er sich davor wieder zurückgestoßen zu werden. Konnte Holger ihm die Garantie geben, dass er es nicht mehr tun würde? Nein. Also war es ganz gut so, dass er dort stehen blieb.
Holger senkte den Blick, drehte den Kopf wieder und schaute schweigend geradeaus. Was trug Philipp da überhaupt für eine schwarze Pullijacke? Die kam dem Innenverteidiger schon sehr bekannt vor. Ein leichtes Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht, weil man deutlich sah, dass sie ihm zu groß war. Trotzdem stand sie ihm irgendwie. Er sah süß aus.
„Gleich“, antwortete er schließlich doch noch. Gleich war ein gutes Wort. Aber vor allem war es dehnbar. Gleich konnte in fünf Minuten sein, oder auch in zwei Stunden. Holger zögerte. Würde Philipp jetzt einfach gehen?

Gleich? Wann sollte das denn sein? Und überhaupt schien er nicht erfreut zu sein, dass er hier stand.
Vielleicht konnte man es Trotz nennen, vielleicht auch nicht, aber Philipp ging zu ihm und blieb vor ihm stehen. Dann hielt er ihm die Hand hin, wollte ihn hochziehen. „Nicht gleich. Jetzt“, sagte er bestimmt und hoffte einfach nur, dass er nicht rumzicken würde. Er verkniff sich den Kommentar, dass er sich noch erkälten würde, Holger würde das schon selber wissen.
Er lächelte den Jüngeren an und versuchte die Unsicherheit aus diesem Lächeln zu verbannen. Er wusste im Moment einfach so oft nicht, wie er Holger gegenübertreten konnte und wie nicht. Das war echt ätzend. Immer diese Launen… irgendwie erinnerte ihn das an Claudia. Als sie schwanger war, gab es auch eine Zeit, in der sie alle paar Minuten eine andere Meinung und eine andere Stimmung hatte. Ein bescheuerter Vergleich, aber dennoch passend.

Philipp bewegte sich. Aber nicht in die Richtung, in die Holger erwartet hatte. Oder es sich gewünscht hätte. Er wusste es nicht, was ihm lieber war.
Holger musterte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, ehe er aufblickte. Das Lächeln des Kapitäns war von Unsicherheit geprägt. Holgers Schuldgefühle wuchsen mehr und mehr. Wahrscheinlich machte er Philipp nur noch Angst. Der Innenverteidiger machte sich in gewisser Weise selbst manchmal Angst. Das hatte er vorher noch nie so intensiv erlebt, dass er sich einer Kurzschlussreaktion so hingab. Oder doch, er kannte diese Situation. Vom Training und von den Spielen. Und wer war da und beruhigte ihn? Philipp. Ständig.
Holger war in Versuchung nach der Hand zu greifen, hob seine eigene sogar schon ein Stück weit an, bis er sich an die zweite körperliche Zurückweisung erinnerte. Philipp war rückwärts vom Bett gestolpert und war mit der Hand aufgekommen. War es die Rechte? Genau diese Hand, die sich ihm jetzt entgegen streckte, hatte er vor einigen Tagen verletzt.
Wieder ging sein Blick zu Philipps Gesicht. Er wollte nicht rein, er wollte hier bleiben. Alleine. Und dabei in seinem Selbstmitleid baden, aber er wusste, dass er sich nichts anmerken lassen durfte, wie schlecht es ihm ging. Philipp würde sich sorgen und das wollte Holger so gut es ging vermeiden. Er hatte ihm bereits zu viel angetan. Wenigstens die Sorge wollte er ihm ersparen.
Aus diesem Grund versuchte er zu lächeln, ihm einen festen Blick zu schenken, ehe Holger nach seinen Krücken griff. Die Hand ignorierte er. Er wollte sie nicht anfassen, sie nicht berühren und sie am allerwenigsten verletzen.

Eigentlich dachte Philipp Holger würde seine Hand nehmen, aber vielleicht hatte er sich nur getäuscht und er hatte seine Hand nicht angehoben. Wunschdenken, was ihn schon Dinge sehen ließ, die gar nicht da waren.
Aber warum lächelte er dann? Philipp verstand es nicht. Der Innenverteidiger griff nach seinen Krücken und enttäuscht ließ er seine Hand sinken. Oder sollte er froh sein, dass er aufstand und wieder reinging? Eigentlich schon. Es war nur schwer.

Holger hopste voran zum Eingang, dessen Tür aber schlussendlich doch Philipp aufhielt. Ohne Worte. Leider. Aber sie waren schon oft ohne Worte einfach besser dran.
Es dauerte einen Moment bis der Aufzug kam, als die Türen aber aufgingen, guckten ihnen direkt ihre Spiegelbilder entgegen. Für einen kurzen Moment musste Philipp schmunzeln. Er sah in der Jacke schon ein bisschen bescheuert aus. Aber dann senkte er den Blick. Ihm war nicht zum Lachen zumute.

Holgers Blick lag auf Philipp, den er durch die Spiegelung beobachtete. Woher er nur die Kraft nahm, sich das immer wieder von Holger gefallen zu lassen?
„Ich -“, fing er schließlich an.

Philipp sah auf, beobachtete Holger durch den Spiegel. Warum brach er denn jetzt ab? Was wollte er sagen? Der Ältere suchte den Augenkontakt, aber Holger schaute weg.

„Es tut mir Leid.“

Sofort stellte sich ihm die Frage, was ihm leid tat. Dass er gerade abgehauen war? Dass er die Hand ignoriert hatte? Dass Philipp den blauen Fleck hatte? Dass er immer so launisch war? Was tat ihm denn leid? Es gab leider so vieles, was als Begründung in Frage kam.
„Schon okay“, sagte Philipp lediglich, lächelte leicht, aber Holger sah es ja eh nicht.

Okay? Wie konnte sowas in Ordnung sein? Wollte Philipp ihn beruhigen? Oder hatte er nur Angst, dass das alles wieder eskalieren würde? Beides waren wahrscheinliche Optionen.

In dem Moment war der Aufzug aber auch schon da und Philipp verließ ihn, wartete auf dem Flur auf Holger, ehe sie gemeinsam zurück zu seinem Zimmer gingen.

Seufzend ging Holger hinterher. Er überlegte hin und her, denn etwas sagen wollte er noch. Aber wusste nicht was. Nichts konnte sein Verhalten entschuldigen. Seine verhaltene Entschuldigung war einfach nur dürftig.

Philipp stellte im Zimmer die Reisetasche auf den Boden vor dem Schrank und ließ sich selber auf dem Stuhl nieder. Schon wieder schwiegen sie. Das war so ätzend. Mittlerweile konnte Philipp behaupten, dass er es hasste, dass sie sich nichts zu sagen hatten.
Er schaute auf seine Füße und zupfte am Ärmel der Jacke rum… die Jacke!
„Ach ja, ich war eben so frei“, er grinste etwas und zog sie sich wieder aus, damit sie zurück in die Tasche konnte. Der Reißverschluss wurde zugemacht und dann faltete er sie, damit er sie auf die Tasche legen konnte.

Holger lächelte leicht, als Philipp sie wieder auszog und ordentlich über die Reisetasche legte. Aber war sein Shirt denn gar nicht mehr nass? Oder zumindest feucht?
„Du kannst die Jacke ruhig nochmal drüberziehen, wenn dein Shirt noch nicht ganz trocken ist. Das kühlt doch sonst.“ War doch im Grunde egal, ob diese zu groß für den Kapitän war. Holger fand sowieso, dass er darin irgendwie niedlich und noch kleiner als ohnehin schon aussah. Ein schüchternes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen, das man aber nicht sehen konnte. Er hatte betreten den Kopf gesenkt, weil die unangenehme Situation es gar nicht anders zu ließ. Um sich abzulenken konnte Holger ja mal im Kopf durchgehen, ob er alles eingepackt hatte...

Da hatte Holger Recht und sein Shirt war nun mal immer noch nass. „Danke“, er zog sie sich auch direkt wieder an. Das wäre es noch, wenn er das DFB-Pokal-Finale wegen einer Erkältung verpassen würde.

Prompt fiel dem Innenverteidiger etwas ein, was noch in die Reisetasche sollte. Er hob seinen Kopf an und griff nach dem Gute Besserungshäschen auf dem Beistelltisch. Das durfte er auf keinen Fall hier vergessen. Holger zog die Reisetasche heran und legte die Spieluhr ganz vorsichtig und mit einem Lächeln im Gesicht zu seiner Kleidung.

Lächelnd beobachtete Philipp dann, wie Holger das Häschen sorgsam einpackte. Wo es wohl einen Platz in Deutschland bekommen würde. In seinem Schlafzimmer? Oder sogar im Wohnzimmer? Nein, das sicher nicht.

Die Medaille hingegen schnappte Holger sich etwas hastig und packte sie ebenfalls ein. Jetzt war die Reisetasche aber wirklich bis oben hin voll. Der Rest musste dann wohl in seinen Rucksack.

Philipps Gedankengang wurde unterbrochen, als Holger hektisch die Medaille verstaute. Vielleicht war es doch keine so gute Idee sie mitzunehmen… aber es würde hoffentlich noch eine hinzu kommen. Holger würde sich schon damit abfinden. Irgendwann. Hoffentlich.

Als Holger sich wieder aufrichtete und die Hände auf dem Bett abstützte, erhaschte er einen kurzen Blick auf Philipp, der ihn anscheinend die ganze Zeit bei seinen Handlungen beobachtet hatte. Diese Blicke waren schön und unangenehm zugleich. Sie stimmten den Innenverteidiger gerade jetzt im Moment nicht unbedingt glücklich, wenn er an Philipps „Schon okay“ von eben dachte.
„Du musst mir nichts vormachen, Philipp. Nichts ist okay. Weißt du, ich könnte sogar verstehen, wenn du mich in Zukunft meiden möchtest“, musste sich Holger eingestehen und lächelte den Kapitän traurig an. Es war nicht so, dass er Philipp in allen Punkten Recht gab, denn manchmal war er in ein Fettnäpfchen getreten, wodurch Holger ihn, seiner Meinung nach, berechtigt angeschnauzt hatte. Aber diese körperliche Zurückweisung hätte niemals passieren dürfen! Aber verletzten nicht eigentlich Worte mehr?

Überrascht sah der Ältere ihn jetzt an. Holgers trauriges Lächeln schmerzte irgendwie. Aber nicht nur das, auch die Worte. Er wollte ihn doch nicht meiden, er würde ihn nie meiden wollen.

„Der blaue Fleck... das alles war eine Kurzschlussreaktion“, erklärte Holger seufzend und wandte seinen Blick dann doch wieder ab. Seine Hände legte er auf seine Beine und strich sich unwohl über die Finger.
„Ich weiß einfach nicht, wie ich das wieder gut machen soll, es war doch nie meine Absicht, dass du dir weh tust, sogar jetzt noch Spuren davon trägst. Es ging alles so schnell. Ich weiß doch, dass du mir damals in der Küche nur helfen wolltest. Aber ...“ Er brach ab, rang nach Worten. Holger hatte richtig schnell gesprochen, sich beinahe in Rage geredet bei einem weiteren Versuch Philipp zu zeigen, dass es ihm Leid tat und ihm das Ganze furchtbar unangenehm war.
„Ich wollte dir doch nie weh tun“, nuschelte er und presste die Lippen fest zusammen, während er auf seine Hände starrte.

Philipp ließ ihn aber erst mal reden, bevor er etwas dazu sagen würde. Aufmerksam hatte er den Innenverteidiger beobachtet. Der presste seine feinen Lippen jetzt fest aufeinander. Er schaffte es nicht ihn anzusehen. Warum nicht? Belastete ihn das so sehr? Irgendwie würde Philipp jetzt gerne in seine blauen Augen schauen und ihm die Unsicherheit, die ihm entgegenblicken würde, nehmen.

Einen kurzen Moment lang herrschte wieder Stille in dem Raum. Nichts neues eigentlich, aber sie wurde unterbrochen. Nicht mit Worten, denn die verfehlten schon so oft ihr Ziel. Zu oft.

Wortlos stand Philipp auf und umarmte Holger einfach, wollte ihm so zeigen, dass er ihn nicht meiden würde. Außerdem war es ihm gerade ein Bedürfnis das zu tun.

Langsam legten sich Philipps Arme um den Innenverteidiger, der sichtlich überrascht von dieser Handlung war. Hatte er denn keine Angst, dass er ihn wieder barsch zurückstoßen würde, so dass er sich erneut verletzte?

„Mach dir bitte nicht zu viele Gedanken. Der blaue Fleck geht wieder weg. Schaukel dich da nicht dran hoch, das bringt doch nichts“, flüsterte Philipp und fuhr durch die hellen Haare von Holger. Das fühlte sich irgendwie gut an.

Holger saß einfach nur da und vergrub sein Gesicht in Philipps Shirt. Er hatte die zu große Jacke wieder drüber gezogen. Irgendwie freute ihn das. Zeitgleich zu den Worten des Kapitäns strich er ihm behutsam über seinen Kopf. Aber er wollte widersprechen. Der blaue Fleck verschwand wieder, aber die Erinnerung daran blieb doch bestehen. Dennoch entschied er sich dagegen etwas zu sagen und atmete stattdessen tief durch, sog den Geruch von Philipp ein und schloss die Augen. Er genoss es in seinen Armen zu liegen.

„Ich bin auch in Zukunft für dich da… wenn du das willst.“ Natürlich war es seine Wahl, aber Philipp hoffte, dass Holger es wollte. Denn er selber wollte es auf jeden Fall. Er konnte ihn jetzt nicht einfach alleine lassen.

Holger beantwortete diese Frage zuerst mit einer Geste, sie sagte doch so viel mehr aus als es Worte je tun könnten. Seine Arme fanden wie von selbst den Weg um Philipps Körper und strichen einmal kurz und sanft über dessen Rücken. Natürlich wollte er, dass Philipp in Zukunft da war. Aber nicht nur, weil er sich verpflichtet fühlte. Wegen Jupps Auftrag und seinem Mitleid, das er ihm gegenüber empfand.
„Ich will, dass du für mich da bist... und ich werde mich ab jetzt auch zusammenreißen.“ Das versprach Holger sich selber. Er würde nicht mehr motzen oder Philipp anschnauzen, egal was dieser von sich gab. Er wollte es nicht mehr riskieren mit seinem Verhalten den Kapitän zu verlieren. Auch wenn das hieß, dass er vieles in sich hinein fressen musste.

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