Kapitel 131 - Glück im Unglück



„Glaubst du er haut von selbst wieder ab?“ Wobei er den Raum sicher aus Neugier beobachten würde.


Ich weiß nicht… ich würde es nicht drauf ankommen lassen“, flüsterte er. Philipp hatte das Gefühl, als wäre seine Stimme irgendwie fünf Oktaven höher als normal.


„Hallo?“, drang Gerrys Stimme wieder an seine Ohren.


Holger räusperte sich. „Moment“, antwortete er und blickte zu dem Kapitän. Er improvisierte.


Versteck dich hinter dem Schrank und ich... ich behaupte, dass ich ein wichtiges Telefonat geführt und mich deshalb eingeschlossen hab.“ Überzeugt war er nicht, aber er zückte dennoch sein Handy.

Was sollten sie auch sonst erklären? Es wäre unrealistisch, wenn sie etwas wichtiges zu besprechen hatten und deshalb den Raum absperrten, oder? Vielleicht hatte aber auch Philipp eine bessere Idee.


„Was?“ Philipp starrte Holger an, den Schrank, die Tür, den Schrank und wieder Holger. Das war ihm viel zu riskant. Da könnte man ihn hinter sehen! Aber er hatte keine andere Wahl…


Philipp strahlte nicht gerade Ruhe auf Holger aus, aber wenigstens einer von ihnen müsste die Nerven behalten. Im Moment stritten sie sich um den Posten, wer Gerry selbstbewusst entgegen treten konnte. Der Ältere zögerte auch erst wegen der Idee sich hinter dem Schrank zu verstecken, aber schien wohl einzusehen, dass es nicht anders ging. Und eine bessere Idee hatte er offenbar auch nicht.


„Okay, so machen wir es. Aber würg ihn ab, sag das Telefonat läuft noch oder du musst noch wen anrufen oder so.“ Er sparte sich die Worte, dass er Schiss hatte und hoffte einfach, dass Holger auch so verstand, dass das nicht witzig war.


Ich versuchs“, versicherte Holger und wartete mit schnell klopfendem Herzen ab, bis Philipp fast ganz hinter dem Schrank verschwand.


Der Kapitän stellte sich also hinter den Schrank und presste sich so dicht an die Wand, wie es nur ging. Sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren. Er presste die Augen ganz fest zusammen und wagte kaum zu atmen. Stumm betete er, dass Gerry einfach wieder verschwinden würde.


Ein Stückchen, wenn man es aus dem richtigen Winkel betrachtete, ragte er noch hervor. Eine andere Versteckmöglichkeit hatten sie allerdings nicht zur Verfügung.


So richtig konnte Philipp gar nicht beschreiben, was in ihm vorging. Sein Herz und sein Blut dröhnten in seinen Ohren. Es war ganz komisch. Die Hände total schwitzig und dazu die Angst, dass er entdeckt werden könnte. Was sollten sie Gerry denn auch dann sagen? Das hätten sie sich vielleicht überlegen sollen.


Holger ging mit dem Handy in der Hand zur Tür, sperrte auf und öffnete diese. Gerry kam zum Vorschein.


„Holger? Was machst du hier... und warum hast du abgeschlossen?“ Man sah ihm seine Verwirrung ganz klar an.


Philipp hörte deutlich Holgers und Gerrys Stimme. Konnte er nicht einfach wieder gehen?


„Ich wollte hier in Ruhe telefonieren und da der Raum sowieso nicht belegt ist, habe ich mich hier eingeschlossen.“ Er machte auf das Handy in der Hand aufmerksam, das er demonstrativ etwas an seinem Körper drückte, um anzudeuten, dass er den Gesprächspartner weitgehend abschirmen wollte.


„Achso“, nickte Gerry verstehend und senkte seine Stimme. „Ist da also noch jemand dran?“


„Ja... es ist auch sehr wichtig. Brauchst du etwas, oder...“


„Ich suche nur schnell eines dieser elastischeren Thera-Bänder für die nächsten Übungen. Es müsste normalerweise hier irgendwo sein.“


Er… nein! Warum brauchte er denn auch noch was aus diesem Raum? Wie ein kleines Kind kniff Philipp seine Augen zusammen. Ganz nach dem Motto „Sehe ich dich nicht, siehst du mich nicht“. Es war die Angst, die ihn dazu verleitete. Natürlich war das totaler Schwachsinn, aber er konnte ja auch nicht mal eben so im Boden versinken und sich so unsichtbar machen.


Schleichend steuerte Gerry auf den Schrank zu, weswegen Holger alarmiert die Augen weitete und ihm eilend folgte. Um Lockerheit bemüht lehnte er sich an die äußere Seite der linken Schranktür, um ihm die Sicht auf Philipps hervor ragenden Körper zu versperren. Ein irritierter Gerry war die Folge.


Philipp hörte bloß Schritte und Stimmen und das Wort Schrank. Sofort schlug sein Herz noch schneller. Er blinzelte etwas und bemerkte, dass Holger die Sicht zu ihm verdeckte. Gut! Hoffentlich half das auch.


„Hast du irgendetwas?“, fragte Gerry.


„Nein“, zuckte der Innenverteidiger mit den Schultern. „Ich glaube nur nicht, dass es hier im Schrank ist.“


Gerry runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf über das sonderbare Verhalten und warf selber einen Blick in den Schrank. Holger hatte Unrecht. Das Thera-Band befand sich doch im Schrank.


„Dann lass ich dich mal in Ruhe weiter telefonieren“, sprach er leise und begab sich zur Tür.


Holger lächelte und hielt sich das Handy intuitiv ans Ohr. Doch gerade als Gerry die Tür zuziehen wollte, ertönte Holgers Handyklingelton.


Als Gerry ging, wollte Philipp schon beruhigt ausatmen, da klingelte Holgers Handy. Im ersten Moment ärgerte er sich gewaltig. Im zweiten wiederum war er froh, dass es Holgers war, der konnte sich rausreden. Der Kapitän hätte das nicht gekonnt. Wenn seins geklingelt hätte, wäre das sehr, sehr ungünstig gewesen.


„Sie hat wohl aufgelegt und ruft jetzt nochmal an“; erklärte er improvisierend. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, als sein Herz drohte stehen zu bleiben, in dem Moment als der Anruf angekündigt wurde.


Der Physiotherapeut bedachte ihn noch einmal mit einem kritischen Blick, ehe er die Tür zum Raum zuzog. Holger drückte den Anrufer weg und atmete tief durch. Das war gerade nochmal gut gegangen. Schnell schritt er zur Tür und sperrte sie ab, obwohl sie sowieso nur noch ein paar Minuten gemeinsam hatten.


Er ist weg“, ließ er Philipp wissen.


Die Tür ging und Holgers Worte ertönten. Sofort war es wie eine schwere Last, die von Philipp abfiel. Erleichtert atmete er aus und kam ein paar Schritte nach vorne. „Gott, hatte ich eine Angst“, gab er zu, lächelte schief.


Ist ja gerade nochmal gut gegangen.“ Holger erkannte in Philipps Gesicht die selbe Erleichterung, die er auch selber versperrte. Sie hätten gerade tatsächlich auffliegen können.


Das war echt knapp gewesen… wer hat dich denn gerade angerufen?“ Wenn das jetzt wirklich wichtig gewesen war, wäre das natürlich ein komischer Zufall. Generell… warum musste jetzt jemand anrufen? Sie genossen Zeit zu zweit. Zumindest hatten sie das eben. Jetzt musste Philipps Puls erst mal wieder runterkommen.


Erst die Frage brachte ihn dann auf sein Handy zu sehen, um den Anrufer zu identifizieren. Es war ihm peinlich ihm jetzt zu erzählen, dass seine Mutter anrief, deshalb ließ er das Smartphone achtlos in die Hosentasche gleiten und zuckte mit den Schultern. „Nur ein Kumpel.“


Philipp runzelte kurz die Stirn, ließ es aber dann so stehen. War ja eigentlich auch nicht wirklich wichtig, wer da angerufen hatte.


Holger schleppte sich zur Liege und setzte sich darauf, ehe er die Hand nach Philipp ausstreckte und ihn zart anlächelte.
„Wir haben ja den Sonntag... oder eher den Montag für uns, ohne, dass uns jemand stören kann.“ Holger wollte sich und Philipp gleichermaßen aufmuntern, dass sie nicht so lange auf einander verzichten mussten.


Der Ältere lächelte und ging auf ihn zu, ergriff sofort die Hand, die ihm entgegen gehalten wurde. „Ja, die Tage haben wir“, lächelte er ebenfalls. Und er freute sich darauf. Sehr sogar. Wobei er wieder die Aufregung in sich spürte, aber er versuchte sie zu verdrängen. Jetzt war sie noch nicht angebracht.


„Ich muss gleich los, aber wir haben noch Zeit für einen Kuss“, lächelte er, da er wusste, dass Philipp ihm diesen nicht verwehren würde.


„Ach“, Philipp zog grinsend die Augenbraun hoch. „Haben wir die Zeit wirklich?“ Und wie sie die hatten.


Das Beteuern, dass sie die Zeit hatten, ersparte er sich.


Philipp stellte sich zwischen Holgers Beine, legte seine Arme um dessen Nacken und beugte sich vor, um sanft seine Lippen einzufangen. Sein Herzschlag erhöhte sich direkt wieder. Aber dieses Mal war es ein durchweg positives Gefühl. Holger zu küssen, war einfach toll.


Holger konnte auch im nächsten Moment gar nicht mehr reden, da Philipp ihm sanft die Lippen auf seinen Mund legte. Er fühlte die Arme, die auf seinen Schultern lagen und sich im Nacken leicht überkreuzen schienen. Holger schloss seine Augen. Er hatte so zwangsläufig die Hand loslassen müssen und legte seine Arme um Philipps Hüften, damit er ihn automatisch näher zu sich ziehen konnte. Da er seine Beine nicht weit auseinander genommen hatte, berührte er mit seinen Oberschenkeln und Knien Philipps Beine. Jede Berührung des Älteren brachte sein Herz zum schneller Schlagen. Aber es war alles andere als unangenehm. Die Aufregung, die in ihm aufkam, war fesselnd und traumhaft für den Innenverteidiger. Gerne würde er Philipp fragen, ob es ihm genauso ging und ob er genauso fühlte, aber er liebte ihn nicht. Er hatte ihn sehr lieb und Holgers Gefühle waren weitaus stärker. Es war kein Wunder, dass sein Körper eher reagierte als Philipps. Auch, wenn es für den Innenverteidiger mit Enttäuschung verbunden war, doch es gab für ihn zum Glück vorrangig die Freude, dass er ihm überhaupt so nahe kommen durfte.


Fordernd stupste Philipp mit seiner Zunge an dessen Lippen und bettelte um Einlass. Vermutlich das letzte Mal heute. Das sollten sie auskosten.


Holger ließ Philipps Zunge gewähren, stupste auch seinerseits gegen die Lippen des Älteren und vertiefte den Kuss. Ein Jammer, dass sie ihn wieder lösen mussten.


Dieser Moment schien für ihn perfekt zu sein. Die Arme fühlten sich gut an. Sie sollten ihn halten und nie wieder loslassen. Gott, war das schlimm. Mit jeder Minute verfiel er diesem Kerl mehr und Claudia rückte nach und nach in den Hintergrund. Philipp wusste, dass das nicht sein durfte. Vor allem machte das die Entscheidung, die er zu treffen hatte, nur noch schwerer. Eigentlich stand fest, dass er Claudia nicht verlassen konnte… was dachte er jetzt daran? Er verdrängte den Gedanken und gab sich ganz dem Kuss hin.


Viel zu schnell war dieser wunderbare Moment aber vorbei. Als sie sich lösten, brachte er nicht viel Distanz zwischen sie und lächelte Holger an. „Ich freu mich auf Montag… und eigentlich auch schon auf Sonntag. Oder eher die Nacht.“


Ich mich auch. Lange dauert es nicht mehr“, nickte er grinsend und löste sich zögerlich von Philipp. Es fiel ihm immer schwer. Irgendwie war die Furcht doch noch in seinem Hinterkopf verankert, dass es das letzte mal sein konnte. Oder es nur ein wunderschöner Traum war und er im Moment nicht aufwachen konnte, weil er narkotisiert war.
Der kurze Kuss ließ ihn lächeln. Er bedeutete ihm genauso viel wie die intensiveren Küsse, denn da gab es für den Innenverteidiger keinen Unterschied.


Ganz kurz hauchte er ihm noch einen Kuss auf die Lippen. Dann nahm er seine Arme runter. Holger musste schließlich los.


Vorsichtig stand er auf, drängte Philipp unweigerlich ein paar Schritte zurück. Holger fasste nochmals den Entschluss ihm morgen den Zweitschlüssel zu seiner Wohnung zu geben.


„Wir sehen uns dann erst morgen, oder?“, fragte er, während er schon mal zur Tür ging. Er würde als erstes rausgehen. Danach konnte Philipp sich rausschleichen.


Philipp sah ihm nach. Er lächelte leicht und nickte. „Ja, ich denke morgen dann. Wir schreiben aber heute noch, oder?“ Es war wenig, aber es war im Moment alles, was ihnen blieb. Und der Kontakt war Philipp irgendwie wichtig. Er konnte nicht ganz ohne. Er würde es wohl nie ganz ohne können. Wieder wurde ihm bewusst, was für ein mieses Arschloch er wach. Er spielte mit Claudia und mit Holger, wenn man es genau nahm. Nur wusste seine Frau nichts davon. Und Holger? Der ließ es mit sich machen und hatte Hoffnungen, die Philipp wohl nie erfüllen konnte…


Klar“, stimmte Holger zu. „Schreib einfach, wenn du fertig bist.“ Er ging davon aus, dass die Reha früher zu Ende war, wie das Training. Er hoffte es zumindest. Ganz so schön waren diese Übungen auch nicht und viel zu oft bereiteten sie ihm Schmerzen, die nicht hätten sein müssen, hätte sich die Welt nicht so sehr gegen sie verschworen.
Ob Philipp ihm als Entschädigung beschert wurde? Im positiven Sinn fühlte es sich sogar so an. Er dachte durch ihn viel weniger an seine Verletzung und war glücklich an seiner Seite.
Holger ging durch die Tür, schaute nach links und nach rechts und drehte sich kurz wieder um. „Hier ist niemand, du kannst also gleich rauskommen.“


Nach diesen Worten bog er selber schnell um die Ecke, um zu seinem Reharaum zu gelangen.

 

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