Kapitel 35 - Das normale Umfeld


Der Taxifahrer brachte Holgers Gepäck noch in sein Apartment und verabschiedete sich nach der Bezahlung ziemlich schnell. Leise schloss der Innenverteidiger die Tür und blieb eine Zeit lang wie angewurzelt stehen. Es war ruhig. Lediglich den Straßenverkehr hörte man durch die gekippten Fenster. Er konnte nicht abstreiten, dass er froh war wieder in seinen eigenen vier Wänden zu hausen, anstatt in einem Krankenzimmer im Ausland mit wildfremden Menschen um sich herum. Dem hatte Philipp mit seiner Anwesenheit aber natürlich gut entgegen gewirkt.

~*~

„Pippooooooo!“

Überrascht drehte Philipp sich um. Er lächelte leicht und wurde sofort von Mario in die Arme gezogen.

„Wie geht’s dir?“

„Gut“, er erwiderte die Umarmung und begrüßte auch Manuel und Bastian.

„Warst du grad bei der PK?“, fragte der Torhüter direkt.

Gemeinsam gingen sie weiter zur Lobby. Sie wollten zu einem Fußballplatz fahren, um noch ein kurzes Training zu absolvieren.

„Ja, war ich“, er musste ein Gähnen unterdrücken. Wenn er ehrlich war, war er ziemlich müde, aber er konnte ja heute Nacht schlafen.

„Was ist das denn? Du musst fit sein morgen“, stellte Bastian fest.

„Erzähl, was macht Holger?“, ging Mario wieder dazwischen.

„Der ist gut in München gelandet. Er hat mir vorhin geschrieben…“

„Ich find das richtig super, dass er wieder hier ist. Ich freu mich schon voll“, unterbrach Mario Philipp.

„Jungs, bitte… ich bin echt fertig“, gab der Kapitän leicht gereizt von sich. Er hatte wirklich keine Lust jetzt von allen Seiten zugelabert zu werden.

„Sorry, Phil“, Bastian lächelte entschuldigend. „Der Flug hat wohl ziemlich geschlaucht, oder? Aber wie war es denn bei Holger?“

Wie war es? Es gab Höhen und Tiefen, aber im Endeffekt war es doch gut, oder? Wobei gut vielleicht nicht das richtige Wort war. Wie konnte so ein Krankenbesuch gut sein?
„Ich glaube, er war froh, dass er nicht alleine sein muss, aber es ist besser, dass er jetzt in München ist“, antwortete Philipp. Er fragte sich, ob Mario nicht mit Bastian geredet hatte. Der wusste doch, dass es nicht immer einfach gewesen war… oder wollte er noch mal eine zusammenfassende Aussage? Ach, es war doch auch egal. Philipp wollte sich da keine Gedanken drüber machen. Er wollte nur noch das Training hinter sich bringen und schlafen.

~*~

Mühselig schleppte Holger seine Tasche ins Badezimmer, um gleich die benutzte Wäsche in die Waschmaschine zu schieben, ehe er das Handgepäck mit in das Wohnzimmer nahm und auf dem Couchtisch einen Zettel vorfand. Ein gutmütiges Lächeln umspielte sein Gesicht. Nicht oft hatte er mit Ute oder seiner Mutter in Colorado telefoniert. Sie sorgten jedoch dafür, dass seine Wohnung frisch geputzt und die Pflanzen ihr Wasser bekamen. Auch sonst ließen sie ihn wissen, dass sie hinter ihm standen. Egal, was noch kommen möge.


//Ute und ich sind nur einen Anruf von dir entfernt, mein Spatz. - Mama//


Der letzte Satz auf dem Zettel ließ Holger sogar leicht lachen. Er erinnerte sich daran, wie ihm das anfangs richtig peinlich war, als seine Mutter ihn an der Säbener Straße besucht hatte und ihn aus Versehen vor Basti, Mario und Thommy „Spatz“ genannt hatte. Während Basti und Mario sich nur kurze Zeit darüber amüsiert hatten und Holger dann wieder seine Ruhe ließen, neckte Thomas ihn natürlich munter weiter. Ab und zu durfte er sich das heute noch von ihm anhören.
Er legte immer noch lächelnd den Zettel wieder zurück und stellte seinen Rucksack auf die Couch, um sich daneben zu setzen und auszupacken. Das Gute-Besserungshäschen hatte er im Badezimmer aus der Reisetasche genommen und kurzerhand in den Rucksack gepackt, um es jetzt wieder herauszuholen. Da er sowieso gerade einigermaßen gute Laune hatte, drückte er das Öhrchen hinunter und dachte auch bei diesem „Get well soon“ an Philipp. Wo sollte er es hinstellen? Es musste auf jeden Fall ein schöner Platz sein, an dem es zur Geltung kam. Suchend sah sich der Innenverteidiger um. Sein Blick blieb abrupt an seinem kostbarsten Regal in der ganzen Wohnung hängen. Ein Bild seines Vaters stand dort, daneben eine Engelsfigur mit einer goldenen Kerze, die zu dem golden verzierten Bilderrahmen passte, in der sich ein Foto der ganzen Familie Badstuber befand. Auch sein allererstes Trikot fand dort seinen Platz, genau wie eine kleine Fußballfigur und seine Medaillen. Holger zögerte nicht lange, erhob sich und humpelte zum Regal, um das Häschen dort hinzustellen. Das war ein sehr guter Platz. Sanft strich er noch über das Bild seines Vaters, ehe er sich wieder setzte. Sofort erweckte ein weiterer Inhalt im Rucksack seine Aufmerksamkeit. Philipps Shirt, das am vorletzten Tag den Kaffee abbekommen hatte und er dann kurzerhand eingesteckt hatte. Warum hatte er im Flugzeug nicht daran gedacht zu sagen, dass er das Shirt hatte? Dachte Philipp überhaupt noch an das Oberteil? Wobei Holger einfiel, dass ihm auch noch eine Pullijacke fehlte...
Nachdenklich legte er es über die Lehne und kramte den Rest aus dem Rucksack hervor, um alles wieder zu verstauen. Danach machte sich der Blonde erstmal was zu essen. Ein Blick in den Kühlschrank verriet ihm, dass seine Mutter eingekauft hatte. Und wie sie auf dem Zettel schon darauf hingewiesen hatte, mangelte es auch nicht an Johannisbeersaftschorle, die er so gerne mochte. Auf seine Mutter war eben immer Verlass.


~*~

Beim Abendessen ging es mit Philipps Müdigkeit wieder. Aber es war immer noch seltsam. Dieses viele hin- und herfliegen und dem Zeitunterschied war nicht so schön. Gut, dass Holger wieder da war… ach ja, er hatte ihm gar nicht mehr geantwortet.
Als Philipp die SMS aufrief, fiel ihm auf, dass er auch gar nicht gegrüßt hatte. Na gut, man schrieb das ja auch oft nur so, oder?


//Sitze jetzt beim Abendessen. Ich bin echt müde, aber die Strapazen war das wert. Ich bin froh, dass ich bei dir war. Morgen Abend löse ich mein Versprechen ein. Es freuen sich schon alle dich Sonntag wiederzusehen. Du glaubst nicht, wie sie mich mit Fragen bombardiert haben… also mach dich auf was gefasst ;-) //


Irgendwie wollte er noch mehr schreiben, aber er wusste nicht was. Irgendwie war das, was er geschrieben hatte auch komisch. Egal, weg damit.

„Was lächelst du denn so?“

„Hm?“ Fragend sah Philipp auf und direkt in das Gesicht von Arjen.

„Du hast gerade so gelächelt. Hat Claudia dir geschrieben?“

Claudia… sie wusste noch gar nicht, dass er wieder in Deutschland war. Gott, wie konnte er nur seine Frau so vernachlässigen? Was war denn los mit ihm? Schnell schrieb er ihr auch eine SMS und ignorierte den Holländer. Arjen schaute ratlos zu Tom Starke, der neben ihm saß und die Szene verfolgt hatte, doch auch der konnte nur mit den Schultern zucken.


~*~


Die Zeit verging wie im Flug, nachdem Holger sich etwas zu essen machte und danach etwas Playstation spielte. Wahrscheinlich hätte er, um sich abzulenken, noch ewig so weiter gespielt, aber sein Handy kündigte die Ankunft einer Kurznachricht an. Philipp hatte doch nochmal geschrieben. Es freute ihn, dass er die Strapazen wert war und Philipp nicht müde wurde das immer wieder zu betonen. Die ganze Mannschaft wiederzusehen, dem fieberte Holger auch schon entgegen. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, aber am meisten freute er sich dann doch Philipp nach dem Sieg in die Arme schließen zu können. Ihm dann auf dem Rathausbalkon zu zeigen, dass es ihm gut ging und er trotz Verletzung feiern und sich freuen konnte. Bei diesem Gedanken grinste er freudig vor sich hin, während er das Spiel noch zu Ende spielte.
Anschließend nahm er sich vor ins Bett gehen. Morgen früh musste er sich in der medizinischen Abteilung vom FC Bayern melden und den Termin würde er ungern verpassen. Bevor er schlafen ging, stach ihm Philipps Shirt wieder ins Auge. Sollte er...? Ja, wieso eigentlich nicht. Hastig schnappte er sich das Oberteil und nahm es mit ins Bett.
Dort legte Holger es neben sich, kam sich allerdings etwas dämlich vor neben einem fremden Shirt zu schlafen und knüllte es deshalb etwas zusammen, um es unter das Kopfkissen zu schieben. Jetzt musste er nur noch einschlafen... aber irgendwie wollte das anfangs gar nicht so leicht klappen. Der Innenverteidiger wusste nicht genau woran es lag, aber es dauerte jedenfalls seine Zeit, bis er endlich ruhend die Augen schließen konnte.

~*~

Mit einem Klicken fiel die Tür des Hotelzimmers ins Schloss und Philipp war ganz froh drum. Seit er das Zimmer für die Pressekonferenz verlassen hatte, war er nur unterwegs gewesen. Jetzt war es als würde eine Last von ihm abfallen.
Träge ging er zu dem Koffer und packte erst mal das nötigste aus. Kulturbeutel und Schlafshirt… Philipps Blick fiel auf Holgers Jacke und ohne es zu merken, lächelte er. Durch den Transport war sie etwas verrutscht. Fürsorglich nahm er sie aus dem Koffer und legte sie aufs Bett, um sie ordentlich zu falten und dann wieder wegzupacken. Sie sollte ja den Weg zurück nach München finden.

Wenig später lag Philipp im Bett. Er spürte im ganzen Körper, wie erledigt er war, aber er konnte nicht einschlafen. Lange war er wach und starrte an die Decke. Sein Kopf war voller Gedanken und gleichzeitig auch so leer. Immer wieder dachte er an Holger, an das Spiel, sein Versprechen, den kleinen Hasen, die Kinder, Schwester Anna, das Gefühl zurückgestoßen zu werden… aber dann auch wieder daran, wie gut es tat, Holger in den Armen zu halten.
Irgendwann war Philipp in diesem Mix aus Gedanken doch noch eingeschlafen.

Der nächste Morgen begann mit dem Frühstück, danach ein kurzes Anschwitzen, Mittagessen, Besprechung und schließlich Abfahrt ins Stadion. Im Bus standen dort, wo sonst immer ihre Koffer gelagert wurden, Kisten. Kisten mit T-Shirts. Triple-Sieger 2013. Philipp wollte nicht daran denken, aber immer mehr wuchs der Wunsch diese T-Shirts zu sehen – er kannte sie auch noch nicht – und später am Abend eines überzuziehen.

„Na, Pippo, fühlst du dich fit genug?“ Mario tauchte neben ihm auf. Sie standen noch wartend in der Lobby des Hotels.

„Für eine lange Partynacht? Klar“, er grinste leicht und Mario erwiderte es.

„Das wollte ich hören.“


~*~


Gut konnte Holger nicht schlafen, aber es war besser als in gewohnter Umgebung aufzuwachen als in der Klinik. Mühselig quälte er sich aus dem Bett, duschte sich, frühstückte, um sich dann auf den Weg zum Trainingsgelände zu machen. Wieso nannte er es überhaupt noch Trainingsgelände? Für Holger war es doch ohnehin nur noch ein Rehazentrum. Er hatte kurz überlegt sich ein Taxi zu nehmen, aber er ging lieber zu Fuß. So weit war es ja nicht weg.

Als er dort ankam, wurde er sofort von einigen bekannten Gesichtern empfangen und herzlich begrüßt. Aber sie konnten nicht verschleiern, dass ihr Ausdruck von Mitleid geprägt war. Was anderes hatte Holger auch gar nicht erwartet. Wie sollte es auch sonst sein, wenn die ganze Mannschaft in Berlin war und um das Triple kämpfte und er an der Säbener Straße das Gespräch mit einem Physiotherapeuten suchen musste, um über die weitere Maßnahmen zu sprechen? Seufzend begab er sich in den Bereich der medizinischen Abteilung und obwohl er in Gedanken mal wieder bei Philipp und den anderen war, versuchte er so konzentriert wie möglich Florian zuzuhören. Es ging einige Zeit um sein Knie, auch wurde gefachsimpelt, woran es gelegen haben könnte, dass es während der Reha zu einer solchen Wendung hatte kommen konnte.

„Wurde bei der zweiten Operation ein Fehler gemacht?“

Holger zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Ich will darüber auch nicht nachdenken.“

„In Ordnung“, nickte Florian und lächelte den Dauerpatienten vorsichtig an, „Ich weiß, es ist schwierig für dich, aber du freust dich doch sicher auch ein bisschen auf morgen, oder?“

„Klar.“ Er erwiderte den Blick und nickte zur Bestätigung. Es war die Wahrheit. Er freute sich auf morgen, aber da gab es eben den Aspekt, dass die Mannschaft vermutlich samt Triple nach München kam und ihn nicht dazu brauchten. Das dämmte die Vorfreude eben etwas ein.

„Ich habe mit Dr. Müller-Wohlfahrt gesprochen. Wir werden am Dienstag mit dem neuen Rehaprogramm beginnen. Montag hast du noch deine Ruhe, wer weiß wie lang eure Feier am Sonntag geht“, lachte Florian. Er hatte keinen Zweifel am bevorstehenden Triple-Gewinn und auch nicht, dass die Mannschaft sich bemühen würde Holger so gut es ging zu integrieren. Auch wenn es ärgerlich war, dass die anderen heute schon feiern würden. Ohne Holger.

Es lief noch auf Smalltalk raus, ehe sich Holger wieder verabschiedete und einen Blick auf den großen Trainingsplatz erhaschte. Wehmütig stellte er sich ans Fenster und beobachtete wie die Jugend trainierte. Holger fing selbst klein an, dachte aber nicht mal in seinen kühnsten Träumen, dass eine Re-Ruptur in Folge einer Reha möglich war. Dass so eine Verletzung überhaupt zu erleiden war. Nicht drandenken! Das brachte ihn nicht weiter.

Den restlichen Tag, als er wieder zu Hause ankam, verbrachte er damit mit seiner Mutter und Ute zu telefonieren. Immer wieder fragte er sich aber, was seine Kollegen wohl jetzt machten. Sich aufwärmen? Nein, dafür war es noch ein bisschen früh. Vermutlich saßen sie gerade im Bus und bereiteten sich mental auf das Spiel vor. Er war gespannt auf das Ergebnis und ob Philipp sein Versprechen tatsächlich einlösen konnte. Ach, was dachte er da? Natürlich konnte er es einlösen.


 

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