Kapitel 37 – München, die Fans, ihre Triple-Helden und Holger


Der Fernseher übertrug immer noch die Jubelkonzerte der Bayernfans im Berliner Olympiastadion. Erst bei der Siegerehrung sah Holger wieder konzentrierter zu und blendete kurz aus, was er da für Worte in der SMS abschickte. Aber wenigstens waren sie besser als die nach dem Champions-League Sieg, oder?
Seine Kollegen schrien ihre Freude hinaus, aber sie hatten ihn nicht vergessen. Neben Dantes und Luiz' Trikot hielten sie auch seines in die Kamera. Diesesmal gesellte sich auch Philipp dazu, was ihm ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Es war für den Innenverteidiger unwahrscheinlich wertvoll auch im Moment des Triumphs nicht vergessen zu sein. Und mit dieser Triple-Sieger Mannschaft, zu der er ja mehr oder weniger dazugehörte, wollte er morgen auf dem Rathausbalkon den Stress der letzten Tage und Wochen vergessen und ausgelassen feiern. Allerdings sollte er dazu ausgeschlafen sein. Er warf einen Blick auf seine Handyuhr. War schon relativ spät und das Programm verlief sich langsam auch. Seufzend schaltete er also den TV aus und ließ ganz außer Acht, dass Philipp noch nicht geantwortet hatte, sondern tapste ohne Handy ins Schlafzimmer.

Mühselig streifte er sich die Jeans von den Beinen, legte sie über einen Stuhl und schlüpfte nur mit Schlafshirt und Boxershorts ins Bett. Erledigt von diesem Tag schloss Holger die Augen und dachte bereits an die morgige Feier und das Wiedersehen mit seinen Kollegen. Vielleicht hatte Dr. Steadman recht, dass es wirklich zu anstrengend gewesen wäre. Aber dafür würde es morgen umso schöner sein auch wieder Teil des FC Bayern zu sein. Mit diesen Gedanken schlief der Innenverteidiger mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht ein.

Es schien als wäre die Welt hinter ihm. Eine riesige Weite tat sich auf, wandelte sich zu grünem, künstlich angepflanzten Rasen.
„Wir packen das!“ Ein Stimmengewirr. Holger glaubte seine eigene auch darunter zu erkennen. Sie wussten alle, dass sie Dortmund im Hinspiel in die Knie zwingen konnten. Ganz bestimmt sogar.
Auf diesem Rasen tauchten seine ganzen Fußballfreunde, Kollegen und Bekannten auf. Einer davon kam immer näher. Mario Götze. Der kleine flinke Stürmer sprintete mit dem Ball auf ihn zu. Auge um Auge, ehe Holger glaubte die Erde würde unter ihm beben. Ausgelöst durch seinen rasenden Herzschlag.
Als würde das züngelnde Gras nach ihm greifen und sich um sein rechtes Bein schlingen, damit er hängen blieb und sich schmerzhaft das Bein verriss. Ein -für Holger- unglaublich lauter Knall der Schmerzen erstickte alle Geräusche der Fans auf der Tribüne und ließ ihn für einen Moment erzittern, bevor er schlagartig auf diesen pechschwarz gewordenen Boden stürzte. Er streckte seine Hand aus, verlangte nach Beistand. Kurz wurde seine Hand von einer anderen ergriffen, aber wieder losgelassen. Holger unterdrückte die Schreie und wimmerte nur vor sich hin. Er nahm nur wahr, dass sich einige Menschen um ihn versammelt hatte. Unverkennbar auch der Mannschaftsarzt, der seinen Fuß vorsichtig berührte, um zu sehen, was passiert war. Verdammt, er wusste ganz genau was da passiert war! Dieser unverwechselbare Knall und die extremen Schmerzen im rechten Knie konnten nur auf eines hindeuten. Aber da gab es etwas, was ihn ablenkte...
„Das war's, Holger. Dein letztes Spiel als Profi. Schade, aber mach dir nichts draus. Jeder ist ersetzbar. Wir kommen schon klar... auch ohne dich.“ Philipp? Holger öffnete zuckend seine Augenlider.
„Sieht man ja. Wir sind Triple Sieger! Geiles Gefühl!“ Aber... woher wusste er das schon?
Philipps Hand lag auf seiner Brust, übte einen ungewöhnlich stechenden Druck aus und er lächelte. Aber dieses Lächeln war trauriger Natur. Es passte nicht zu Philipps Gerede... es passte einfach gar nichts!


Und nun, wo er an diesem Punkt stand und all das Chaos überblickte, riss Holger seine Augen auf und fuhr in die Höhe. Schweißgebadet.
„Nur ein Traum...“, redete sich Holger keuchend ein. Schwieg aber als er die Medaille auf seinem Nachttisch entdeckte. Nein, das war nicht nur ein Traum, das war doch die bittere Realität. Dieser Philipp in seinem Traum hatte doch recht. Sie hatten das Triple ohne ihn geholt. Es gab doch Dutzende Kommentare im Internet dazu, dass es ohne ihn viel besser klappte. Wütend schnappte er sich die Medaille, da er deren Anblick nicht mehr ertragen konnte und warf sie energisch gegen den nächsten Schrank. Die Verzweiflung stand dem Innenverteidiger ins Gesicht geschrieben, weswegen er erschöpft sein Gesicht in den Händen vergrub. Die Nacht war für ihn gelaufen.

~*~


Sein Handy hätte Philipp am nächsten Morgen am liebsten durchs Fenster geschmissen. Er war hundemüde, total fertig, aber überglücklich. Sie hatten noch lange gefeiert in dieser Nacht, sehr lange. Vor allem Manuel war wirklich gut dabei gewesen. Bastian auch... alle eigentlich. Alle außer Holger.
Philipp musste sich eingestehen, dass er erst jetzt wieder an den Innenverteidiger dachte und gestern Abend jeglichen Gedanken verdrängt hatte. Es war aber auch besser so. Er hatte nicht frei feiern können sonst und das hatte er sich schließlich verdient, oder nicht? Er wollte nicht egoistisch klingen, aber er konnte ja schließlich auch nichts für Holgers Verletzung. Aber jetzt, wo die Feier zu Ende war und es bald zurück ging, konnte er sich schon mal freuen. Auf Holger.
Müde griff er nach seinem Handy. Unzählige Nachrichten mal wieder. Eine war auch von Claudia.

//Herzlichen Glückwunsch mein Triple-Held :-* jetzt hast du dir deinen Urlaub aber mehr als verdient! Ich freu mich schon. In Liebe Claudia//

Der Urlaub, stimmt... er wusste immer noch nicht, ob Bastian und Sarah jetzt mitflogen. Sollte er vielleicht mal in Erfahrung bringen. Aber es nützte alles nichts, erst musste er duschen.


~*~


Eine grauenvolle Nacht fand in den frühen Morgenstunden ihr Ende. Holger hatte kein Auge mehr zugemacht nach diesem haarsträubenden Traum. Dementsprechend gerädert war sein Allgemeinzustand. Auch ein starker Kaffee als Ersatz für ein reichhaltiges Frühstück erzielte nicht den gewünschten Erfolg. Und das gerade heute. Als er in Lederhose und karierten Hemd vor den Spiegel trat, richtete sich sein Blick eher daran vorbei, um das Fenster zu fixieren, das die regnerische Stadt zeigte. Das Wetter passte ja wie die Faust aufs Auge zu seiner Stimmung. Holger humpelte wieder zu seinem Kleiderschrank, wandte den Blick konsequent von der zu Boden geworfenen Medaille ab und holte eine braune dazu passende Jacke heraus, die er sich überzog. Ein wenig Zeit hatte er noch, bis er abgeholt werden würde. Genug Zeit, um endlich auf sein Handy zu schauen. Es häuften sich ein paar Nachrichten, auch Glückwünsche zum Sieg waren dabei, aber das interessierte ihn jetzt nicht. Philipps Nachrichten wiesen eine höhere Priorität auf. Trotzdem stutzte er kurz. Zwei Kurzmitteilungen? Warum schickte Philipp zwei in etwa der selben Uhrzeit? Neugierig öffnete er die erste und wusste nicht, ob er über den Inhalt lachen oder weinen sollte. Es regnete, er fühlte sich scheiße und... ach, es war doch alles dahin! Dabei hatte er sich gestern doch auf die Feier gefreut.
Er stockte, als er plötzlich realisierte, dass Philipp tatsächlich „dein“ geschrieben hatte. Wollte er ihn damit aufziehen? Nein, da dachte er wieder zu schlecht. Die zweite SMS war ganz anders als die erste. Irgendwie hatte sie, bis auf das „dein Philipp“ eine größere Wirkung auf Holger. Erklären konnte er sich das nicht. War es wirklich so? Hatten sie das Triple für ihn gewonnen? Der zweite Satz war Fluch und Segen zugleich. „Ich wünschte, ich könnte es...“, murmelte er traurig. Das war nun zweifellos sein härtester Zweikampf. Er gegen seine Verletzung...
Die Türklingel riss ihn schließlich aus seinen Gedanken, wodurch er hastig den Posteingang schloss und das Handy in seiner Hosentasche verstaute.

Trotz seiner miserablen Verfassung versuchte Holger die Vorfreude endlich aufkommen zu lassen. In seinem Kopf geisterten ständig Philipps Nachrichten herum. Warum hatte er dein Phil geschrieben? Holger wusste ja, wieso er dein Holger geschrieben hatte, aber er zweifelte es an, dass der Kapitän die selben Absichten hatte.

~*~


Im Flugzeug saß Philipp diesmal hinter Mario und Basti. Beide drehten sich neugierig um. „Was?“, fragte er skeptisch.

„Hat Holger sich heute schon bei dir gemeldet?“

„Nein, nur gestern nach dem Spiel. Wieso fragt ihr?“ Etwas Skepsis lag in seinem Blick.

„Na ja“, fing Mario an. „Vielleicht kneift er.“

„Tut er nicht.“

„Was macht dich da so sicher?“, wollte Bastian wissen. „Wir glauben es ja auch nicht, aber ich würde es verstehen, wenn er nicht mit uns zusammen feiern wollen würde.“

Philipp sah die beiden einen Moment lang nachdenklich an. „Wir haben uns verabredet, also kommt er auch.“

„Uh, ein Date?“ Natürlich wollte Bastian ihn nur aufziehen, die Ernsthaftigkeit aus dem Thema nehmen, aber plötzlich dachte Philipp an den Kuss.

Ein Date? Das klang seltsam mit einem Mal. Ein Date... als hätten sie ein Date. Quatsch.
Ihm fiel aber auch etwas anderes ein. „Sag mal, Basti, kommen du und Sarah jetzt eigentlich mit nach Hawaii?“

Überrascht sahen Mario und Bastian sich an. „Das weiß ich ja sogar, dass sie mitkommen“, stellte der Stürmer fest.

„Gut, mehr wollte ich ja gar nicht wissen“, er lächelte leicht und lehnte sich dann zurück in seinen Sitz. Sollten die beiden doch denken, was sie wollten, gerade war es ihm egal. Lieber döste er noch etwas bis sie landeten.

~*~


Schon als er aus dem Taxi stieg, war es noch lauter als sonst in München. Trotz des Wetters waren tausende Fans zusammengekommen und wollten den Triple-Gewinner gebührend empfangen. Holger lächelte leicht, als er sich die Treppen ganz nach oben kämpfte, allerdings blieb er bewusst im Hintergrund. Ihm ging es nicht besonders gut. Er konnte nicht mal sagen, warum oder was ihm fehlte. Klar, sein Knie schmerzte, aber das gehörte mittlerweile schon zum Alltag. Aber ob das alleine für seinen Allgemeinzustand verantwortlich war?

„Holger?“

Der Innenverteidiger, der eben noch an der Wand gelehnt hatte, schaute auf und erkannte Florian vor sich.

„Du sollst schnell raus auf den Balkon und ein Interview geben.“

Oh nein... Nicht jetzt. Nicht heute nach diesem bescheuerten Albtraum!

„Die Fans wollen mal wieder was von dir hören. Außerdem müssen wir sowieso die Zeit überbrücken bis die Mannschaft ankommt.“ Florian machte eine kurze Pause und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter: „Das packst du doch mit links, Holger.“

Ein gezwungenes Lächeln bildete sich auf dem Gesicht des Innenverteidigers, ehe er schon dem Hintergrund verwiesen wurde und auf den Balkon treten musste. Er stand mit dem Reporter etwas abseits, das war ihm auch lieber so.

„Es ist bestimmt ein ganz besonderer Moment dieses Triple zu feiern, oder?“, stellte er die erste Frage.

Holger versuchte nach wie vor zu lächeln, irgendwie euphorisch zu wirken, aber er konnte nichts dagegen unternehmen, dass seine Stimme etwas zitterte. „Ja, in gewisser Maßen schon. Man ist ja Teil der Mannschaft. I-ich konnte leider nicht so viel dazu beitragen dieses Jahr, aber wenn man dann sieht, dass so viele Fans trotz des Wetters gekommen sind und gut feiern, ist es ein schöner Augenblick und ich... bin wirklich stolz, dass ich dabei sein darf.“

Der Reporter nickte, merkte er denn nicht, dass jede weitere Frage das Beben in seiner Stimme verstärkte? Holger musste sich noch äußern über den Zusammenhalt der Mannschaft. Er sprach nur positiv darüber, was auch die Wahrheit war. Aber er nannte keine Namen.
Und dann stellte er auch noch eine Frage zu seiner Verletzung, die Holger nicht beantworten wollte. Und auch nicht konnte, weil er es selbst nicht wusste, wie es genau mit ihm weiter ging.

„Naja, eigentlich ist der Titel an zweiter Stelle, weil die Gesundheit geht einfach vor, da kann man nich... äh....ja...“ Der Innenverteidiger rang nach Worten, schaute auch andauernd auf den Boden, um seine glasig gewordenen Augen nicht der Öffentlichkeit zu offenbaren. „Das ist einfach, das was zählt, dass man gesund ist. Ich versuch natürlich trotzdem die Laune aufrecht zu halten. Das ist glaub ich ganz wichtig auch für den Heilungsprozess, dass ich einfach gut drauf bin.“ Holger atmete tief durch und versuchte Selbstsicherheit in seine Stimme zu bringen. Wenigstens ein wenig, wenn er schon das Gesicht verziehen musste, damit man die zuckende Unterlippe nicht wahrnahm. „Es wird ne zeitlang dauern, aber ja... ich f-fühl mich vom Verein her unterstützt... von den Mitspielern...“ Gott, ging es nicht noch nervöser mit noch mehr Gestotter? „Und das ist... naja, auch glaub ich selten, es ist einfach so, dass man diese Unterstützung spürt... ja, es wird lange dauern, aber ich bin bereit dafür, dass ich das schaffe w-wieder … und es wird auch wieder alles gut, aber die Geduld ist gefragt.“ Er sah auf, lächelte kurz und hoffte, dass man ihm nicht ansah, wie sehr dieses Interview an ihm nagte.

~*~


Der Flug nach München war ja gar nicht so lang, der Weg in die Innenstadt auch nicht, aber die Fahrt in dem Bus streckte sich ziemlich.

„Das Wetter ist ja echt scheiße“, stellte David fest als sie den Bus betraten, der sie durch die Innenstadt zum Rathaus bringen sollte.

„Ja, voll schade für die Fans“, nickte Manuel und hatte schon das zweite Bier in der Hand, dabei waren sie eben erst angekommen.

Philipp nickte nachdenklich, den Blick nach vorne gerichtet. Langsam schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. Sie waren dabei zum Rathausbalkon zu fahren, um dort mit den Fans das Triple zu feiern. Und um Holger zu sehen. Er konnte gar nicht beschreiben, wie sehr er sich freute, ihn wieder zusehen, obwohl sie sich ja Freitag erst getrennt hatten. Er konnte auch nicht sagen warum, aber das war ihm gerade auch egal.

~*~


Eigentlich dachte Holger das wäre es für den heutigen Tag an Interviews gewesen, aber dem war leider nicht so. Erneut wurde er während des Wartens unterbrochen. Er sollte die Fans animieren weiter auf ihre Stars zu warten, da diese noch immer auf dem Weg zum Rathaus waren und kaum voran kamen.
Dazu musste Holger erneut auf den Balkon treten, was gar nicht so leicht war, da der Boden unter ihm nass und deshalb rutschig war. Da es immer noch regnete, hielt der Reporter ihm neben dem Mikrofon auch einen Regenschirm über den Kopf. Mit deutlich entschlossenerer Stimme richtete er einige Worte an die Bayernfans und erntete ein lautstarkes „Super Holger, super Holger, hey, hey, hey!“, weswegen es gar nicht mehr dazu brauchte, um dem verletzten Spieler ein seliges Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Das vergaß er leider zu erwähnen im Interview, dass es auch ganz wichtig für ihn war die Unterstützung seiner Fans zu erleben. So sehr Holger dieser Jubel auch freute, musste er trotzdem wieder zurück in den Hintergrund. Im Mittelpunkt zu stehen, diese Lautstärke der Fangesänge, die mitleidigen Blicke einiger Reporter... das alles wurde ihm zu viel. Erschwerend kam hinzu, dass sich die Müdigkeit doch noch einzuschleichen versuchte. Holger verzog sich wieder in die Innenräume des Rathauses und wartete darauf, bis endlich Philipp und die anderen kamen. Eine Mitarbeiterin brachte ihm einen Stuhl, damit er nicht so lange auf den Krücken herumstehen musste, allerdings rückte er so noch mehr in den Hintergrund, weswegen es ihn nicht wundern würde, wenn die anderen ihn dann übersahen. Er war sich plötzlich gar nicht mehr sicher, ob er die nötige Kraft hatte sich auf den Rathausbalkon zu quälen und zu feiern.
Ob er Philipp deshalb enttäuschen würde? Bestimmt.
Als Holger die Information erhielt, dass die Mannschaft in wenigen Augenblicken eintreffen würde, riss er sich notgedrungen zusammen und erhob sich, um gesehen zu werden und nicht so einen schwachen Eindruck zu machen.

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