Kapitel 22 - Sehnsucht


Die Zeit verstrich. Aber nicht wie im Flug, wie man so schön sagte. Nein, sie verging langsam. Minute um Minute im Schneckentempo. Holger hatte sich ins Bett gelegt und starrte aus dem Fenster. Eine Weile hatte er noch den Regen beobachtet, war sogar kurz eingeschlafen.
Als er die Augen öffnete, war der Himmel wieder klar. Keine dunkle Wolke mehr und auch kein Regen. Nur leichte, abendliche Sonnenstrahlen. Erneut warf er einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass die Besuchszeit längst vorbei war. Auch das Abendessen stand noch unberührt auf dem Beistelltisch.
Wie peinlich war das eigentlich? Wartete er tatsächlich den ganzen Tag auf Philipp wie ein ausgesetzter Hund auf sein Herrchen? Dabei wusste er doch, was zwischen ihnen vorgefallen war. Wäre er zu dem Kapitän ins Krankenhaus gekommen, wäre er in dieser Situation? Holger konnte die Frage beantworten, aber durfte man das vergleichen? Philipp war ein ganz anderer Mensch wie er. Er besaß ganz andere Charaktermerkmale.
Als sein Handy klingelte, schenkte Holger diesem keine Beachtung. Es war wieder mal Mario. Aber mit dem wollte er jetzt nicht reden.


Das Telefonat mit Claudia dauerte lange. Zum Glück konnte Philipp sie beschwichtigen. Als er aber nach gut einer Stunde aufgelegt hatte, wusste er immer noch nicht, was er tun sollte. Er nahm sein Tablet-PC und las lustlos seine E-Mails, surfte etwas herum und im Endeffekt suchte er immer nur eine neue Beschäftigung, um nicht zu Holger gehen zu müssen.
So vertrieb er sich die Zeit bis sein Magen knurrte. Also ging er runter ins hoteleigene Restaurant und aß etwas. Wieder dachte er nur an Holger. Philipp hatte ein schlechtes Gewissen, da er nicht zu ihm ging, aber irgendwas hinderte ihn. Richtig erklären konnte er das auch nicht.
Als er schließlich wieder in seinem Zimmer war, war es kurz nach Acht. Er warf sich aufs Bett und zappte durch die verschiedenen Programme.


Eine Zeit lang blieb Holger noch im Bett liegen, beobachtete wie sich die schwarzen Wolken, die die Nacht einläuteten, über die Sonne schoben und ein klares Sternenmeer offenbarte. Draußen war es sicher jetzt am Schönsten.
Mühselig richtete Holger seinen Oberkörper auf und schwang seinen Körper aus dem Bett. Streckte sich zu seinen Krücken und strich noch schnell seine Haare zurecht, ehe er das Zimmer verließ.

„Herr Badstuber?“ Schwester Anna sah überrascht von ihren Akten auf und ging dem Innenverteidiger ein paar Schritte hinterher. „Wo wollen Sie denn noch hin? Es ist halb elf.“

„In den Klinikgarten, etwas frische Luft schnappen.“ Er lächelte sie müde an und ging dann weiter, als Schwester Anna zustimmend nickte.

Traurig sah sie ihm nach. Sie wusste nicht, ob sie gut finden sollte, dass Philipp nicht mehr gekommen war. Einerseits war es vielleicht mal gut dem Innenverteidiger eine Lektion zu erteilen, anderseits hatte er es doch sowieso schon schwierig genug.

Es war totenstill im Klinikgarten. Aber gleichzeitig auch wunderschön. So ruhig, so idyllisch. Das Leuchten der Sterne rundete das ganze noch ab. Leise lehnte Holger seine Krücken gegen die Bank, auf der er sich niedergelassen hatte und blickte seufzend in den Himmel. Ein traurig angehauchtes Lächeln erschien in seinem Gesicht. Wie passend... seine Zukunft stand in den Sternen. Nur verstand er die Sprache der Sterne nicht...


Irgendwann ertappte Philipp sich dabei, wie er durchs Fenster auf die Klinik starrte. Konnte er noch rübergehen? Er schaute auf die Uhr. Die Besuchszeit war längst überschritten, aber ihm fiel gerade die Decke auf den Kopf. Der Regen hatte schon lange aufgehört, also zog Philipp sich seine Schuhe an, nahm eine Jacke und verließ mit Handy und Schlüssel das Hotelzimmer.
Der Weg raus aus dem Hotel führte ihn über die Straße und er blieb vor dem imposanten Gebäude der Klinik stehen. Der Pförtner würde ihn sicher nicht reinlassen, also blieb ihm nur der Blick hoch zu den unzähligen Fenstern von denen keines zu Holgers Zimmer gehörte.
Eigentlich konnte er ihn auch anrufen. Und dann? Schwiegen sie am Telefon?
„Super Idee“, schnaubte er und seufzte. Er hatte die Chance wohl vertan Holger heute noch mal zu sehen. Jetzt ärgerte er sich.

„Herr Lahm, was machen Sie denn hier?“

Er senkte den Blick und sah Schwester Anna auf sich zukommen. Sie hatte wohl Feierabend. War sie nicht schon heute früh da gewesen? Wie lange musste sie denn arbeiten?

„Ich weiß es nicht“, gab er zu, lächelte leicht. „Ich hab es im Hotelzimmer nicht mehr ausgehalten.“

„Die Besuchszeit ist vorbei…“, fing sie an und der Kapitän nickte direkt.

„Ja, ich weiß.“

Die Krankenschwester schmunzelte jetzt etwas und er war verwirrt. Was wollte sie ihm denn jetzt sagen?

„Sehen Sie den Steinweg dort vorne? Von da gelangt man in den Klinikgarten. Dort gilt keine Besuchszeit. Es ist sehr schön da, sie sollten dorthin gehen“, sie zwinkerte ihm zu. „Wir sehen uns dann morgen, Herr Lahm. Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen.“ Und schon ging sie einfach die Straße entlang.

Philipp sah ihr verwirrt nach. Warum sollte er denn in den Klinikgarten gehen? Zwar war er skeptisch, aber seine Neugier siegte und so folgte er dem Weg. Der Garten war menschenleer, aber er war wirklich schön. Vor allem so bei Nacht. Er hatte beinahe etwas Mystisches.
Immer weiter folgte er dem Weg bis er plötzlich jemanden auf einer Bank sitzen sah. Deswegen sollte er also herkommen. Holger war da. Sofort schlich sich ein Lächeln auf Philipps Lippen. Er konnte es nicht mal erklären und das wollte er auch gar nicht.
Wie von selbst trugen ihn seine Füße zu der Bank auf der er saß. Ungefragt setzte er sich einfach neben ihn.
„Es hat aufgehört zu regnen.“ Er hätte so viel sagen können. Er hätte sich entschuldigen können, er hätte sagen können, wie viel Mitleid er mit Holger hatte, er hätte ihm Mut zusprechen können, er hätte ihm die Grüße von Claudia ausrichten können, aber nein, er sagte, dass es aufgehört hatte zu regnen. Manchmal verstand Philipp sich selber nicht.

„Tatsächlich?“, murmelte Holger leicht lächelnd zur Antwort. Nur aus dem Augenwinkel hatte er Philipp erkannt und wusste nicht was er von diesem Besuch halten sollte. Es war halb elf und der Kapitän schlich sich in den Klinikgarten. Um was zu tun? Holger konnte es nicht einschätzen. Hätte er ihn besuchen wollen, hätte er es schon lange vorher machen können.

Und wieder hüllten sie sich in Schweigen. Es war doch nicht mehr normal, dass ihnen regelmäßig die Worte fehlten.
„Was machst du überhaupt noch hier? Es ist schon ziemlich spät“, flüsterte er Jüngere fast. War die Frage nicht unangebracht? Was sollte Philipp schon hier machen?

„Ich habe es in meinem Zimmer nicht mehr ausgehalten“, gab Philipp zu. „Aber die gleiche Frage könnte ich dir stellen.“

Er hatte es also nicht mehr ausgehalten... gut, so ging es ihm auch, aber trotzdem hätte er sich eine andere Antwort erhofft.
„Hm“, nickte Holger nur.

Natürlich könnte Philipp die selbe Frage stellen, aber tat es nicht. Holger würde auch nicht drauf antworten. Er hatte schließlich allen Grund hier im Klinikgarten zu sein, wogegen Philipp eigentlich die ganze Stadt zur Verfügung stand.

Philipp nahm seinen Blick von den Sternen und sah Holger an. Erst jetzt erkannte er den Pullover, den Holger trug. Wieder brachte ihn der Innenverteidiger zum Lächeln.
„Schöner Pulli“, merkte er an. Philipp war in Versuchung über den grauen Stoff zu streichen, aber er ließ es bleiben.
Er richtete den Blick wieder in den Himmel.

Holger schaute zwar nicht zu dem Kapitän, aber aufgrund seiner Stimmlage vermochte er zu behaupten, dass er lächelte. Diese Tatsache reichte aus um auch ein kleines Lächeln auf das Gesicht des Innenverteidigers zu zaubern. Hatte es also doch noch ein gutes, dass er den Pulli angezogen hatte.

„Kennst du dich mit Sternenbildern aus?“ Wieder so eine dumme Frage. Aber Philipp wollte nicht das Stille einkehrte. Warum konnte er sich nicht ganz erklären. Vielleicht wollte er nicht über den heutigen Tag sprechen. Also eigentlich schon, aber er wollte nicht wieder irgendwelche Vorwürfe und Anschuldigungen von Holger hören. Sie schmerzten nun mal.

Erstaunt drehte Holger den Kopf und zog die Stirn kraus. Wie kam er denn auf sowas? „Nein, aber ich hab ja jetzt genug Zeit mir so ein Wissen anzueignen.“
Er seufzte und sah traurig wieder in den Himmel. „Mal sehen, vielleicht werd ich Astrophysiker und geselle mich zu den Nerds.“ Ein schlechter Witz, wenn man Holgers verzwickte Situation bedachte. „Aber bitte spar dir jetzt die Phrasen, dass ich mich nicht nach einem anderen Beruf umzusehen brauche“, winkte er ab.

„Du brauchst dann aber auch eine Nerdbrille. Wenn du das wirklich machen willst, gehen wir noch mal in die Stadt und suchen dir eine schöne.“ Lächelnd wandte Philipp sich wieder Holger zu. „Aber werd doch lieber Computerspezialist. Mein Laptop macht gerne mal Mucken und ich weiß nie warum.“
Oder war es falsch auf den Wagen mit aufzuspringen? Aber er wollte ja nicht, dass er dagegen redete, also redete er dafür.

„Würde das denn was bringen, wenn ich Computerspezialist werden würde?“ Fragend drehte Holger seinen Kopf zu Philipp, der ihn lächelnd ansah. Aber je intensiver der Innenverteidiger ihm entgegen sah, desto schneller senkten sich seine Mundwinkel. „Es gibt Kniespezialisten, die meines trotzdem nicht hinkriegen.“
Er seufzte und wandte seinen Blick wieder ab. Was sollte denn das Gerede? Er zog Philipp doch nur damit runter.

Wieso? Wieso sah Holger immer und überall nur das Negative?
„Die Ärzte hier versuchen alles um dir zu helfen, aber sie können auch keine Wunder vollbringen.“ Noch während er den Satz aussprach, fragte er sich, ob das jetzt auch zu negativ klang. Aber Holger würde so oder so einen Punkt finden, an dem er sich wieder hochschaukeln konnte.

Holger schnaubte bei Philipps Kommentar. Das erhoffte er sich auch in Augsburg bei seinem anderen Arzt, der angeblich alles versuchte um ihm zu helfen. Im Nachhinein war Holger schon froh die Steadman-Klinik ausgewählt zu haben. „Danke, da wär ich grade noch selbst drauf gekommen. Ich verlange keine Wunder, aber ein bisschen Fairness, verdammt!

„Was im Leben ist schon fair?“, fragte Philipp mehr rhetorisch und seufzte leicht. Natürlich war diese dumme Verletzung nicht fair, aber er konnte doch auch nichts machen. Eigentlich sollte Philipp sagen, dass er ein Recht hatte sich Fairness zu wünschen. Fairness im Bezug auf den Umgang mit ihm, aber er ließ es. Er sollte sich da keinen Kopf drum machen. Die Wunden waren einfach noch zu frisch, als das Holger ihn mit Fairness behandeln konnte.

Sollte gerade Philipp diese Frage stellen? Was lief denn bei ihm nicht toll, außer dass Holger ihn die ganze Zeit runterzog? Der Kapitän hatte seine Familie, die nicht nur aus Claudia und Julian bestand, ein idyllisches Haus am Tegernsee, einen tollen Job, viel Geld, tolle Freunde und war erfolgreich mit der Mannschaft.

„Hast du schon eine Idee, was wir morgen machen können?“, lenkte er ab. Philipp hoffte, dass Holger verstand, was das bedeuten sollte. Dass er trotzdem da war und sich nicht von ihm abwandte. Er wollte die wenige Zeit, die er hier hatte doch ausnutzen und Holger irgendwie ablenken, gute Laune bereiten und einfach nur für ihn da sein.

Erst zuckte Holger mit den Schultern, erinnerte sich aber, was Philipp heute erst vorgeschlagen hatte.
„Du wolltest doch in diesen Park, oder?“ Er sparte sich aber die Frage, ob er überhaupt Lust hatte sich mit ihm zu beschäftigen. Von Jupp hatte er den Auftrag und den wollte er erfüllen. Nicht mehr und auch nicht weniger. Es war in Ordnung so, auch wenn der Gedanke daran schmerzte.

„Stimmt der Park… aber nur bei gutem Wetter. Ich will nicht schuld daran sein, wenn du nachher noch eine dicke Erkältung bekommst.“ Philipp wandte den Blick nicht ab. Es war so als würde permanent ein trauriger Schleier über Holger hängen, den er nicht wegbekam. Wobei das nicht ganz richtig war, immerhin war das Lächeln, was er ihm am Vortag geschenkt hatte, aufrichtig gewesen. Keine Spur der Traurigkeit hatte da sein Gesicht überschattet. Frage war nur warum. Zu gerne wüsste Philipp den Grund, um ihn immer wieder aufs Neue heraufbeschwören zu können.

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