Kapitel 66 - Schneewittchens Zwerg



Der Außenverteidiger stieß die Tür auf und trat lächelnd ein. Das Lächeln verschwand aber direkt als er Holger sah. Vorsichtig stellte er die Tasse und das Glas ab, ehe er sich auf die Bettkante setzte und Holger die Wärmflasche reichte.
„Du siehst alles andere als gut aus“, gab er zu. Philipp hatte ein schlechtes Gewissen. Und das nicht nur wegen dem Wein, auch, weil er eigentlich fahren wollte. Holger war ja kein kleines Kind mehr, der würde schon zurechtkommen, aber eben weil er sich ja schuldig fühlte, fühlte er sich auch verantwortlich. Aber er konnte eh nichts machen, oder? Und Holger wollte doch eh nicht betüddelt werden. Er würde also gehen. Morgenfrüh konnte er ja noch mal nach ihm sehen. Ja, das klang nach einem Plan. Ein Plan, der ihn trotzdem nicht ganz überzeugte.

„Deine Komplimente sind echt die besten“, schmunzelte Holger, und spitzte von der Bettdecke hervor. Er wusste ja, dass Philipp mit seiner Meinung recht hatte. Dankend nahm er die Wärmflasche an und drückte sie gegen seinen Bauch. Kaum merklich rutschte der Innenverteidiger etwas näher an Philipp und sah ihn an, bevor er seinen wieder Blick abwandte, sobald dieser ihn zu erwidern versuchte.

Philipp lächelte leicht. „Immerhin kannst du noch Witze machen.“ Das war doch ein gutes Zeichen, oder?

„Weißt du, wie seltsam es ist, wenn man friert und schwitzt zugleich?“, seufzte er und versuchte sich erneut an einem Lächeln.

Auf die Frage hin, konnte der Ältere dann aber nur müde lächeln. „Ich kann es mir vorstellen.“ Er kam nicht umher leicht die Haare von der Stirn zu streichen und seine Hand daran zu halten. „Fieber hast du aber nicht.“ Eigentlich nicht verwunderlich, immerhin war das kein Virus, den Holger hatte, sondern einfach nur Magenkrämpfe aufgrund von Nebenwirkungen, wenn man es so nennen wollte.

Reflexartig schloss Holger seine Augen, als sich eine Hand näherte, die Philipp kurz auf seiner Stirn ruhen ließ. Der Blonde fragte sich, warum schon eine solche Berührung ausreichte, um sein Herz ein wenig schneller schlagen zu lassen.

Der Funkwecker erregte Philipps Aufmerksamkeit. War es wirklich schon nach zehn Uhr? Wow, das hätte er nicht gedacht. Dann konnten sie doch langsam schlafen. Vorausgesetzt Holger konnte schlafen. Philipp beschloss noch mal im Wohnzimmer zu gucken, ob alle Geräte aus waren und sich dann ein Shirt zu nehmen, damit er sich auch schlafen legen konnte.

Traurig bemerkte er den Blick des Kapitäns, der auf den Funkwecker auf dem Nachttisch, fiel. Würde er wohl nach Hause fahren wollen? Holgers Augenlider senkten sich bedrückt und er kuschelte sich instinktiv weiter unter die Decke. Er versuchte Philipp mitzuteilen, dass er gerne wollte, dass er blieb, aber keine einziger Laut verließ seine Kehle.

Der Kapitän stand also auf, um seinen Plan in die Tat umzusetzen.

Als Holger mit ansehen konnte, wie Philipp schließlich ohne ein weiteres Wort zu sagen, aufstand, befreite sich ein Arm des Innenverteidigers von der Decke und langte nach Philipps Hand, die er aber nur teilweise zu fassen bekam. Eigentlich wollte er seine Hand um dessen Handgelenk schlingen, aber alles zu was es ausreichte, waren vier Finger des Älteren, die er mit seinen umfasste. Aus großen, blauen Augen schaute er Philipp an, schluckte schwer und flüsterte. „Bitte bleib noch...“

Philipp stockte in seiner Bewegung und drehte automatisch den Kopf. Erst fiel sein Blick auf ihre Hände und dann auf Holger. Er sah so… er wusste nicht, wie er es beschreiben sollte, aber Holger sah traurig aus und flehend.
Sofort setzte er sich wieder auf die Bettkante, lächelte Holger an und nahm die Hand, die seine Finger gegriffen hatte, zwischen seine beider Hände.

Holger wandte eben jenen Blick nicht ab, sondern ließ seine Augen entgeistert größer werden. Ruckartig schaute er auf die Hand, die zwischen Philipps Händen lag.

„Ich wollte nicht gehen“, erklärte er. „Ich gucke nur noch mal ob der Fernseher auch aus ist, das Licht und alles was dazu gehört. Dann komme ich wieder und klaue mir eins von deinen Shirts zum Schlafen, okay?“
Irgendwie kam er sich gerade wirklich vor als würde er mit einem Kind sprechen. Aber genauso hoffnungsvoll sah Holger ihn gerade an.

Er wollte nicht gehen? Warum sagte er das denn dann nicht und stand ohne etwas zu sagen auf? Dann hätte er nicht wie ein kleiner Junge diese Bitte aussprechen müssen und hätte den letzten kläglichen Rest seiner Würde behalten können. In dem Moment, als er den Blick wieder hob und in Philipps lächelndes Gesicht sehen durfte, war er froh, dass die Magenschmerzen ihn in die Realität zurückversetzten, bevor er sich völlig in diesen Augen verloren hätte. Er nickte, konnte aber trotz der peinlichen Aktion nicht verhindern, selbst wenn er gewollt hätte, dass sich ein zufriedenes Lächeln in sein Gesicht schlich. Konnte Philipp nicht einfach die ganze Nacht hier sitzen bleiben und seine Hand genau so festhalten, wie er es gerade tat? So hatte er es doch in Vail gemacht, oder? Seine Hand zwischen den seinen und stets am Bett gewacht. Und was machte Holger? Stieß ihn zurück. Wieder und wieder. Aber das sollte aufhören, er wollte die Nähe zu Philipp doch.

Philipp nickte. „Gut.“ Dann legte er Holgers Hand auf die Matratze und verließ das Zimmer.

Als Philipp aus dem Raum huschte, drehte sich Holger seufzend auf den Rücken und legte einen Arm auf seine Stirn. Was hatte er sich da nur wieder eingebrockt...

Schnell ging Philipp Wohnzimmer und Küche ab, verschwand noch mal im Bad und schloss dann die Tür als er zurück zu Holger kam. Er suchte auch direkt den Weg zum Kleiderschrank, um sich ein Shirt zu nehmen. Während er nach dem Stoff griff, dachte er wieder an das Kaffeeshirt. Er hatte es immer noch nicht angesprochen, aber Holger hatte auch nicht nach seiner Jacke gefragt. Ob er das überhaupt noch wusste? Eigentlich sollte Philipp sie ihm zurückgeben, oder? Aber da musste er ja nicht heute drüber nachdenken.

Während der Jüngere überlegte, ob er sich für die doch recht kindliche Bitte rechtfertigen sollte, erschien der Kapitän wieder auf der Bildfläche und bediente sich an seinem Kleiderschrank. Holger war froh, dass er wenigstens das Kaffeeshirt besser verstaute als die letzten Male, damit es Philipp nicht gleich offensichtlich in die Hände fiel. Fast so als hätte der Blonde gewusst, dass es irgendwann mal wieder soweit kommen würde, dass der Ältere die Nacht bei ihm verbrachte. Insgeheim hatte er es sich natürlich erhofft und übertrug diesen Wunsch auf sein Handeln.

Philipp ging um das Bett herum auf die andere Seite, zog seine Klamotten aus, ließ sie dort auf einen Stuhl fallen und streifte sich dann das rote Shirt über, was natürlich etwas zu groß war.
„So, letzte Chance. Wenn ich liege, stehe ich nicht mehr auf“, scherzte er. „Brauchst du noch was?“

Philipp entschied sich für eines seiner roten Shirts, das er mit zur anderen Seite des Bettes nahm. Erst verfolgte Holger den Kapitän mit seinem Blick, doch als dieser sich ohne jede Vorwarnung auszog, schob er schnell eine Riege vor seine aufkommenden Gedanken und blickte schweigend an die Decke.
Erst bei der Frage wagte er es wieder einen Blick zu riskieren und lächelte. Sein Shirt hing wie ein Sack an Philipps Körpers, aber er erinnerte sich daran, wie er es das letzte Mal trug. An seinem Körper hing es ebenso locker, da er es sowieso bevorzugt zum Schlafen nutzte.
„Nein, danke. Ich glaub, ich hab alles.“ Prüfend schaute er auf den Nachttisch, auf dem Wasser und Tee standen und war ebenso dankbar für die wohltuende Wärmflasche.
„Du glaubst gar nicht, wie erleichtert ich bin, dass du mich nicht allein lässt.“

Das ehrliche Lächeln auf seinem Gesicht schwand, als er sich seiner Worte bewusst wurde. Das hörte sich jetzt nicht einfach nur noch kindisch an, sondern auch eine Spur schwul. „A-also... weils mir nicht so gut geht … und so“, erklärte er und verhaspelte sich natürlich noch schön, um seine Unsicherheit noch zu unterstreichen. „Deshalb ist es gut... also dass du da bist.“

Während Philipp also ins Bett kletterte, lauschte er Holgers Worten und konnte ein Grinsen nicht verbergen. Irgendwie war es süß, wie er stotterte und seinen Worten den Sinn oder die Wichtigkeit nehmen wollte.
„Ich bin gerne hier“, betonte er noch mal.

Beschämt sah Holger an die Bettdecke, so entging ihm natürlich auch das Grinsen auf Philipps Gesicht, was wohl auch besser so war. Davon hätte er sich in dem Fall nur einschüchtern lassen, weil er sich selber der Peinlichkeit seiner Worte bewusst war.
Mit etwas Erstaunen drehte er seinen Kopf, um Philipp nach seiner Aussage, er wäre gerne hier, mustern konnte.

„Vor allem hätte ich Zuhause eh keine Ruhe. Und was soll ich da? Sind ja eh alle weg.“ Philipp grinste leicht und streckte noch mal die Hand aus, um Holgers Stirn zu fühlen.

Das Erstaunen blieb nicht lange, denn ein zartes, aber auch schüchternes Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Geschickt verbot er sich die Frage zu stellen, ob Philipp auch geblieben wäre, wenn Claudia und Julian zu Hause gewartet hätten. Eigentlich bestand daran doch gar kein Zweifel, dass er seine Frau zum wiederholten Mal für ihn versetzen würde. Sogar seinen Urlaub mit ihr hätte er abgesagt. Holger hatte deshalb ein schlechtes Gewissen, weil er sich die Möglichkeit zerstörte, die Zeit mit ihm verbringen zu können. Aber dafür war es jetzt umso schöner... wären nur nicht die Magenkrämpfe.

„Nein, Fieber hast du wohl wirklich nicht. Ich hoffe die Wärmflasche hilft gegen die Krämpfe. Wenn es schlimmer wird, müssen wir uns was einfallen lassen. Weck mich aber dann bitte heute Nacht auch, ja? Sonst ist der Sinn, dass ich hier bleibe, etwas verfehlt.“ Wieder versuchte er es locker klingen zu lassen. Holger war das alles schon unangenehm genug, da wollte er nicht noch einen drauf setzen.
„Kannst du denn schon schlafen? Oder willst du es versuchen? Wir können auch gerne erst noch etwas reden.“ Richtig müde war Philipp noch nicht, aber er richtete sich da jetzt nach Holger. Immerhin war er krank und Philipp selber war ja auch nur Gast in dieser Wohnung. Ein Gast, der schon wieder nicht im Gästezimmer schlief. Aber das war egal, das tat heute nichts zur Sache.

„Du meinst aber nicht damit, Müwo anrufen, oder?“ Holger schüttelte den Kopf. „Nein, wenn er erfährt, dass ich die Tabletten genommen und dann auf gut Glück Wein getrunken hab, zählt er am Ende eins und eins zusammen und denkt sich, ich hätte das mit Absicht getan, um...“ Er brach ab und schaute in die andere Richtung. Er schluckte schwer, ehe er versuchte zu lächeln und seinen Kopf wieder herumzudrehen. „Dann komm ich doch nie wieder raus aus Dr. Engberts Praxis.“
Holger setzte sich etwas auf, drückte mit einer Hand die Wärmflasche und die Zudecke an seinen Körper, während er mit der anderen nach der Tasse Tee griff. Zurückhaltend nippte er an dem heißen Getränk und entschied sich dafür, dieses dem Glas Wasser vorzuziehen.

Philipp wurde hellhörig bei Holgers Worten. Er hatte nicht ganz Unrecht. Man könnte wirklich denken, dass er sich mit den Tabletten und dem Alkohol hätte umbringen wollen… lieber nicht drüber nachdenken! Holger war ja auch wieder der alte Kämpfer, der er vorher auch war. Warum sollte er sich also umbringen wollen? Da gab es keinen Grund. Oder?

„Willst du denn nichts trinken? Soviel Einschlafgeschichten, wie du mir jetzt erzählen musst, könntest du es vielleicht gebrauchen“, schmunzelte er, stellte den Tee wieder ab und rutschte tiefer. Aber nicht ohne unbemerkt etwas näher an Philipp zu rutschen. "Ich glaube nicht, dass ich jetzt einschlafen kann."

„Einschlafgeschichten? Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich ein Buch von Juli mitgenommen“, schmunzelte Philipp ebenfalls. Er drehte sich auf die Seite und legte eine Hand unter das Kopfkissen. „Also Rotkäppchen und Schneewittchen kriege ich auch ohne Buch hin.“

Holger grinste leicht. Mit Kinderbüchern konnte er leider auch nicht dienen. Aber es klang verlockend, dass Philipp trotzdem ein Märchenonkel sein konnte.
„Dann lieber Schneewittchen“, bestimmte Holger. „Ich find die Zwerge in dem Märchen irgendwie lustig.“ Der Innenverteidiger konnte sich eine kleine Vorliebe für Zwerge nicht absprechen. Vielleicht weil er selber so groß war, fand er die Kleinen irgendwie bewundernswert. Plötzlich legte sich ein etwas schelmisches Lächeln in sein Gesicht und er blendete seine Krämpfe für einen Moment aus. Er wusste noch, wie Jupp Philipp einige Anweisungen gab und auch Daniel van Buyten neben den beiden stand. Das war ein riesiger Größenunterschied, weswegen Holger sich an das Märchen erinnert fühlte. Allgemein wirkte Philipp manchmal wie einer der sieben Zwerge, wenn er so vor sich hin stiefelte und seine Sporttasche wie einen Beutel voll Werkzeug und Edelsteinen über der Schulter trug.
Holger war gespannt, ob der Kapitän jetzt wirklich mit 'Es war einmal' beginnen würde und ihm tatsächlich ein Märchen erzählte.

„Ernsthaft?“, überrascht sah Philipp Holger an. Er wollte wirklich ein Märchen hören? Und dann noch Schneewittchen? Nun gut… Philipp rutschte etwas, um sich bequemer hinzulegen. Damit rückte er zwar etwas näher an Holger ran, aber er dachte sich nichts dabei.
Er räusperte sich. „Also… es war einmal in einem Land, weit, weit weg von hier. Dort lebte ein König mit seiner zweiten Ehefrau. Aus erster Ehe hatte er eine Tochter, die seine Frau aber nicht mochte. Und das hatte einen Grund. Jeden Morgen nach dem sie sich fertig geschminkt hatte, trat sie vor ihren Zauberspiegel und fragte ‚Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?‘. Und jedes Mal antwortete der Spiegel: ‚Frau Königin, Sie sind die Schönste hier, doch Schneewittchen ist viel hübscher als Ihr‘. Schneewittchen war eben jene Tochter des Königs. Die neue Königin ertrug nicht, dass Schneewittchen hübscher war und verbann sie in den Wald. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie da noch heute.“ Philipp beendete das Märchen abrupt und grinste Holger an. „Reicht das?“

Holger lauschte dem Märchen und lächelte durchweg. Auch wenn er ab und zu das Gesicht wegen der Krämpfe verzog, war er zufrieden und irgendwie auch glücklich, dass Philipp sogar ein wenig näher gerückt war. Er verbot es sich aber, auch noch näher heranzurutschen. Dann wäre es wirklich auffällig.

„Wie, das wars schon?“ Verwundert zog er die Augenbrauen hoch. „Ich hab das Märchen länger in Erinnerung... Und mit Zwergen“, merkte er noch an. Wo waren die denn abgeblieben? Im Bergwerk verschollen? Und Schneewittchen müsste normalerweise erst noch vergiftet werden. „Also wenn dann will ich schon das ganze Märchen“, grinste er dann und zog die Decke noch etwas höher, damit nur noch sein Kopf rausschaute. Die Märchenerzählung lenkte ihn auch gezielt ab, so waren es nur noch die Krämpfe, die ihn plagten und nicht mehr die Hitze und Kälte zugleich.

Philipp seufzte. „Ja, ich hab es etwas abgekürzt. Aber gut, wenn der kleine Holger die ganze Geschichte hören will…“, er grinste etwas, ehe er wieder ernster wurde.

„Im Wald sollte Schneewittchen eigentlich von einem Jäger ermordet werden. Aber der war so von ihrer Schönheit angetan, dass er sie nicht töten konnte, sondern noch tiefer in den Wald schickte. Dort fand sie eine Hütte. In dieser Hütte waren sieben Tellerchen, sieben Becherchen und sieben Bettchen, denn die sieben Zwerge wohnten dort. Die Zwerge fanden Schneewittchen auch ganz toll und sie durfte bei ihnen wohnen bleiben. Irgendwie erfuhr ihre Stiefmutter aber davon und sie folgte ihr. Mit einem vergifteten Apfel wollte sie Schneewittchen umbringen. Aber ein gutaussehender Prinz kam angeritten und küsste Schneewittchen. Dadurch rettete er sie und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben die beiden immer noch glücklich und zufrieden.“

Es war Holger gar nicht möglich die Augen zu schließen und sich schlafen zu legen. Zu interessant fand er Philipps Interpretation von Schneewittchen und die Bewegungen seiner Lippen.

Philipp atmete tief durch. „Zufrieden?“

„Ja“, nickte er am Ende des Märchens. Jetzt kamen auch endlich die Zwerge vor, auf die sich Holger so gefreut hatte. „Danke“, lächelte er. Wieder kam das Verlangen auf Philipp einen kurzen Moment seine Lippen aufzuzwingen und ihn als Dankeschön zu küssen, aber er spielte eben jene Situation in Gedanken durch und entschied sich deshalb dagegen. Stattdessen sah er ihn einfach nur an und versank in den warmen braunen Augen.

Aber als die Stille zwischen den beiden einkehrte, merkte Holger, wie sehr die Ablenkung die Krämpfe verdrängte und sie jetzt wieder präsenter zu werden schienen. Instinktiv nahm er eine krummere Haltung an, zog den Kopf ein, sodass seine blonden Haare Philipps Kinn berührten. Unbeholfen kämpfte er eine Hand unter der Decke frei und ergriff die des Kapitäns, die er gerade nicht unters Kissen schob.

Philipp war etwas überrascht als Holger plötzlich seine Hand ergriff. Es störte ihn nicht, im Gegenteil, es wunderte ihn nur. Bisher hatte er Holger seine Hand aufzwingen müssen oder der Innenverteidiger hatte sie im Schlaf ergriffen, aber jetzt tat er es ganz präsent und offensichtlich. Es musste ihm wirklich schlecht gehen, aber konnte da Philipps Hand helfen?

Sie hatten in letzter so oft nach den Händen des anderen gegriffen. Philipp meist um ihn zu stützen und um für ihn da zu sein. Holger dagegen, wenn er Hilfe brauchte... und es wörtlich nicht zugeben wollte. Diese Geste vermittelte soviel Wärme und Geborgenheit, weshalb der Jüngere gar nicht anders konnte, als komplett an Philipp ranzurutschen. Diesesmal konnte er es wenigstens auf die Schmerzen schieben und nicht auf seine Hilflosigkeit und die Zuneigung, die er von Philipp haben wollte.

Noch bevor er etwas wegen dem Händchenhalten fragen konnte, rückte Holger ein Stück näher.

„W-wenn es dich stört, rutsch ich auch wieder rüber“, murmelte er und hoffte, dass der Kapitän es zulassen würde. War ja auch nicht so, dass sie richtig dicht aneinander lagen, da gab es immer noch die Bettdecken, die sie trennten.

„Quatsch“, hauchte er und holte seine Hand unter dem Kissen hervor, strich mit ihr über die blonden Haare. Er reckte den Kopf leicht und hauchte ihm einen Kuss aufs Haar. „Es tut mir leid, dass es dir jetzt so schlecht geht“, flüsterte er. Wie gerne würde er ihm helfen? Es war ihm einfach nicht möglich… was war das nur für ein verkorkster Abend? Erst das Desaster im Restaurant und jetzt die starken Magenkrämpfe von Holger. Irgendwie ging bei ihnen nie etwas richtig glatt. Es war echt verhext. Der Ausflug in die Stadt in Vail endete im Regen, das Schiffe versenken mit einer Tasse Kaffee auf seinem Shirt und sogar die Feier auf dem Rathausbalkon hatte einen beinahe schon grausamen Ausgang.
Philipp verstand das nicht, aber da gab es wohl auch nichts zu verstehen. Entweder es lief oder es lief nicht und bei ihnen lief es halt nicht. Nie eben.

Erleichterung machte sich in Holger breit, als Philipp ihn nicht abwies. Er hätte sich bestimmt schlecht gefühlt, wenn er hätte wegrücken müssen, weil dem Kapitän die Körpernähe unangenehm war. Aber war es nicht immer er, der sie in Vail suchte und selten bekam? Aber den Grund, warum Holger ihn des öfteren abgewiesen hatte, konnte er Philipp nicht anvertrauen. Die Schmach, die dann über ihn fallen konnte, brauchte er zu seinem dämlichen Kreuzbandriss nicht auch noch.
Seine Entschuldigung hinterließ erst einen überraschten Gesichtsausdruck, bevor er schmunzelte. Irgendwie nahm Philipp häufig die Schuld auf sich, auch in Vail entschuldigte er sich, weil er mit seinen Stimmungsschwankungen nicht umgehen konnte. Für beides konnte er nichts, weder für seine Launen noch für Holgers Magenkrämpfe.

„Ich hab selbst entschieden den Wein zu trinken“, wehrte er ab. „Und von den neuen Tabletten wusstest du auch nichts.“ Auch, wenn er leise und erschöpft sprach, war er sich sicher, dass Philipp es verstehen konnte. Irgendwie hatten die Krämpfe sogar etwas gutes. Sonst wäre der Kapitän nicht über Nacht geblieben, anderseits hätten sie dann auch noch länger gezockt und Spaß gehabt.
Aber eigentlich war es jetzt auch nicht unangenehm. Die Nähe zu Philipp tat Holger sichtlich gut. Allein die Tatsache, dass er selber den Mut hatte nach seiner Hand zu greifen, sie nebeneinander lagen und er sich an ihn kuscheln konnte, zauberte ein Lächeln in sein Gesicht.

Philipp ließ Holgers Worte einfach so stehen. Sie änderten auch nichts daran, dass sich der Kapitän weiterhin schuldig fühlte. Zärtlich strich er noch mal durch seine Haare, rutschte dann etwas näher, damit er den Arm um ihn legen konnte.



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