Kapitel 62 - Re-Start



„Es ist alles gut.“

„Ich glaube dir nicht“, gab Philipp zu. „Vielleicht hast du es verstanden, aber gut findest du es trotzdem nicht, oder?“
Eigentlich war es nur eine Vermutung, die Philipp da anstellte, aber er hatte das Gefühl, dass er damit direkt ins Schwarze traf.

Holger ahnte es eigentlich schon fast, dass Philipp ihm das Lächeln nicht abkaufte. Oder er verließ sich nur auf seine bloße Intuition, da es seltsam war, dass Holger sich mit diesem Verrat abgefunden hatte.
Ausweichend richtete er den Blick auf den Tisch und überlegte, welche Lebensmittel er als nächstes einsortieren konnte, um schnellstmöglichst weiter auszuweichen.

„Bitte sei ehrlich zu mir, Holger“, bat er fast schon flüsternd. Was hatte es denn für einen Sinn, wenn sie sich anlogen?

Philipp bat ihn flüsternd, ehrlich zu sein, da konnte der Jüngere ihn nicht einfach weiter ins Gesicht lügen. Kurz sah er auf, schaute dem Älteren hilflos in die Augen, ehe er sich wieder abwandte.
„Enttäuscht trifft es eher“, benutzte er Philipps vorherigen Satz. „Ich hätte nicht geglaubt, dass du es weitererzählst. Nicht, nachdem du mir versichert hast, dass du das nicht tust.“
Mit seinen Fingern zupfte er an dem Grünzeug der Möhrchen. „Ich wollte nicht, dass das jemand erfährt“, murmelte er.

Es war erst der Blick, den Holger ihm schenkte und dann die Worte, die schmerzten. In Philipp zog sich alles zusammen. Er war doch masochistisch veranlagt. Warum hatte er nur gefragt?
„Ich habe Jupp nicht alles erzählt“, stellte er klar. „Ich habe nur Andeutungen gemacht. Ich weiß, dass es das vermutlich nicht besser macht, aber… man Holger, ich wusste nicht, was ich mit dir machen sollte. Ich konnte dich doch nicht einfach so in diesem Loch sitzen lassen. Ich dachte auf Jupp hörst du wenigstens. Ich wollte doch nur dein Bestes… das will ich immer noch.“
Rechtfertigte er sich gerade oder erklärte er sein Verhalten nur? Oder machte das keinen Unterschied? Für Philipp nicht. Er fühlte sich so oder so schlecht. Da machten es selbst seine guten Absichten nicht besser.

Holger nickte seufzend und zog es vor weiter die Möhrchen anzuschauen.
„Du hast Jupp genug darüber verraten, wie es mir wirklich gut. Das ist mir beim Gespräch mit ihm deutlich klar geworden. Er hätte nie locker gelassen, wenn ich nicht eingewilligt hätte zum Psychologen zu gehen und ich denke, dass du entscheidende Details verraten hast, sonst hätte er sich nicht so verhalten“, führte er aus, fragte sich aber, ob das richtig war. Er machte Philipp ein schlechtes Gewissen, von dem er sich sicher war, dass er sich nicht wohl dabei fühlte. Man konnte es sowieso nicht mehr rückgängig machen, warum also darauf herumreiten?
Ratlos zuckte er mit den Schultern. „Eigentlich bin ich selbst Schuld. Wer hat sich denn so gehen lassen?“ Traurig und entschuldigend lächelte er Philipp an.

Jedes Wort schmerzte mehr, aber dieses traurige Lächeln war das schlimmste. Philipp stieß sich von der Arbeitsplatte ab und umarmte Holger einfach.
„Es tut mir leid“, murmelte er. „Ich wollte dich nie verletzen oder dich enttäuschen, aber ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen.“
Holger hatte zum Teil sicher Recht. Hätte er sich nicht so gehen lassen, wäre es nie so weit gekommen, aber da konnte man nicht von „schuld“ sprechen.
Philipp atmete Holgers Duft ein und in gewisser Weise beruhigte es ihn sogar etwas, denn er war wirklich ziemlich aufgewühlt. Er hätte nicht gedacht, dass er ihn so sehr verletzt hatte. Jetzt konnte er sogar die Worte nachvollziehen, die er ihm entgegen geschleudert hatte, bevor er in den Urlaub geflogen war.

„Entschuldigung angenommen“, hauchte er und legte seinen Kopf genießerisch auf Philipps Schulter ab. Holger schloss sogar für einen kurzen Moment die Augen. Er wollte am liebsten nie wieder aus diesen Armen. Er wusste doch, dass Philipp das nicht mit Absicht getan hatte, weil er Spaß daran hatte es herum zu erzählen. „Ich wollte dir jetzt kein schlechtes Gewissen einreden.“ Das war wirklich nicht seine Absicht, auch wenn ihm klar war, dass er das getan hatte.

Philipp lächelte automatisch und er fühlte sich direkt besser.
„Ich weiß, dass du das nicht wolltest. Es ist ja meine Schuld, immerhin habe ich nachgefragt. Aber ich musste es einfach wissen.“ Er atmete tief durch und musste sich eingestehen, dass es gut tat Holger zu umarmen. Es zeigte, dass sie nicht stritten.
Vorsichtig löste er sich wieder von Holger und lächelte ihn an. „So, wo müssen die Einkäufe hin? Ich helfe dir noch dabei, aber dann sollte ich auch langsam… wann wollen wir denn kochen? Sonntag?“

„Ich mach das schon, sonst komm ich noch in Versuchung dich als meine Haushälterin einzustellen“, witzelte er, um das vorherige Thema endgültig zu beenden und sich aus dem ernst der Lage zu befreien. Wieder konnte Holger nicht vermeiden, dass er diese kurze Aussage, dass Philipp wieder fahren musste, verabscheute. Aber er wusste es ja, dass dessen Familie wartete. Der Blonde war kurz davor die Augen zu verdrehen.

„Haushälterin? Nein danke“, Philipp lachte. „So gerne ich dich auch mag, aber dafür bin ich mir dann doch zu schade.“ Er grinste breit. Nein, da spielte er lieber Fußball.

„Sonntag ist okay“, nickte er, auch wenn er Samstag auch noch nichts vorhatte, aber da konnte er sich nach Philipp richten. „Ich begleite dich dann mit runter, ich sollte mal meinen Briefkasten leeren“, fiel ihm in dem Zusammenhang ein. Danach würde er sich dann bei Jupp oder Gerry melden.

„Okay, dann komme ich Sonntag… gegen halb sechs/sechs?“ Irgendwie freute er sich. Das würde sicher lustig werden. Ihm lag allerdings die Frage auf der Zunge, ob er ihm eben noch die Post hoch holen sollte, aber er verkniff sie sich. Holger wollte das sicher nicht, außerdem gab es ja den Aufzug.

Holger stimmte der Uhrzeit nickend zu.

Sie begaben sich also beide nach unten. Zusammen tapsten sie in den Aufzug, schwiegen mal wieder, ehe sie ganz unten im Erdgeschoss ankamen und zur Haustür gingen, an der auch die Briefkästen hingen. Dort blieben sie kurz stehen. „Wenn dir noch was fehlt, meld dich einfach. Ich kann es ja Samstag immer noch besorgen und dann mitbringen“, bot er an.
„Holger, ich bin echt froh, dass du wieder hier bist“, war er ehrlich.

Während Holger mit dem Schlüssel das Schloss entsperrte, drehte er sich überrascht zu Philipp um. Meinte er hier oder war es nur eine Metapher? Aber war das nicht egal? Der Satz war schön, egal wie genau er es meinte.
Holger fielen zwar sämtliche Briefe und auch eine Postkarte entgegen, aber das hielt ihn nicht davon ab den Kapitän anzusehen und anzulächeln. „Ich bin auch froh.“ Erst jetzt wandte er sich der Post zu und entdeckte die Ansichtskarte von Hawaii. „..., dass du auch wieder hier bist“, hängte er noch an seinen Satz dran. Vielleicht meinte Philipp wirklich nur den Ort und nicht ihn selber. Bisher hatte Holger nicht nach dem Urlaub gefragt und auch der Kapitän sagte auch nichts dazu. Es war besser, das würde ihn nur traurig stimmen. Im Grunde brauchte er die Karte aber nur umdrehen und den Text lesen, um seine Traurigkeit wiederzufinden, die er aber nicht zeigte.

Philipps Lächeln verstärkte sich. „Wir sehen uns dann Sonntag, Holger. Mach’s gut.“ Dann verschwand er.

Dann war Philipp auch schon wieder verschwunden.


Zur selben Zeit schaute Ute bei sich zu Hause auf die Uhr. Sie hatte lange mit ihrer Mutter und auch mit Hermann telefoniert. Jetzt fand sie, war es an der Zeit die vorgenommene SMS an Philipp zu schreiben.


//Philipp, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Holger war plötzlich wie ausgewechselt, das hätte ich so nicht erwartet. Dass du für meinen Bruder eine besondere Person bist, kann ich wirklich verstehen. Nicht jeder wäre hier her gekommen. Ich weiß ja, wie er manchmal sein kann. Vielen, lieben Dank! Wenn ich irgendwann mal etwas für dich tun kann, lass es mich ruhig wissen. Ute.//


Lächelnd schickte sie die Kurznachricht ab. Sie war wirklich froh, dass Holger so einen Freund hatte, der in dieser schwierigen Zeit bedingungslos hinter ihm stand.


Im Auto schaute der Kapitän erst mal auf sein Handy. Er hatte erwartet, dass Claudia sich gemeldet hatte, aber stattdessen war es Ute. War er wirklich so eine besondere Person für Holger? Nur, weil er mit in Vail gewesen war? Er konnte es irgendwie nicht einschätzen. Aber war das wichtig? Gerade nicht. Es zählte nur, dass Holger wieder da war. Und das war er nicht mal wegen ihm, immerhin hatte er nicht mit ihm gesprochen. Er war nur zum Grab gegangen und dort hatte Holger ihm die Entscheidung mitgeteilt.


//Ich hab eigentlich gar nichts gemacht, aber ich bin gerne für ihn da. Ich glaube, die Zeit bei dir hat ihm gut getan. Seien wir einfach froh, dass er wieder da ist... alles Gute!//


Dann fuhr er endlich nach Hause.


Holger widmete sich seiner Post, während er auf den Aufzug wartete. Aber nichts anderes als diese Karte zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er las sie ein paar Mal und seufzte. Er hätte auch gar nicht erwarten sollen, dass Philipps Name bei den Grüßen auftauchte, sie waren da ja noch zerstritten.
Wieder in seiner Wohnung angekommen, legte er die Post erstmal zur Seite und zückte sein Handy, um endlich Jupp bescheid zu geben. Holger hatte es sowieso schon zu lange aufgeschoben und er wollte diese dämlichen Krücken endlich los werden, dazu musste er sich um möglichst viele Einheiten bemühen.

„Holger?“ Jupp klang überrascht, nachdem er sich gemeldet hatte.

„Ich bin wieder zu Hause und würde gerne die Reha weitermachen.“

Der Trainer schwieg einen Moment, dennoch konnte man die Erleichterung in seiner Stimme wahrnehmen. „Das freut mich wirklich, Holger. Ich werde gleich mit Gerry reden, der sich dann noch bei dir wegen den Uhrzeiten meldet.“

„Danke.“

„Ach ja...“

Holger runzelte überrascht die Stirn. Was kam denn jetzt noch?

„Ich möchte dich bitten trotzdem mindestens einmal bei Dr. Engbert vorbeizuschauen.“

Er fand, dass es echt nicht sein musste, aber deshalb würde er jetzt sicher nicht mehr mit seinem Trainer diskutieren.
„Gut, von mir aus“, willigte er deshalb schnell ein. Der würde eh nur zu hören bekommen, dass er jetzt für seine Karriere kämpfen wollte.

„Dann sehen wir uns vielleicht schon morgen an der Säbener Straße.“ Jupp lachte leicht. Ab und zu hielt er sich, auch wenn er nicht mehr Trainer war, gerne dort auf. Vor allem um seinem Schützling Mut zuzusprechen.

Sie beendeten das Gespräch und etwa zwanzig Minuten danach meldete sich Gerry schon zu Wort und teilte ihm die Termine mit. Morgen also gleich die erste Rehaeinheit.


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