Kapitel 28 - Holgers Flucht


Mit einem Lächeln auf den Lippen stand Philipp auf und trat zu Holger an den Schrank. Dieser hielt sein Trikot in den Händen.

Es war kein angenehmes Gefühl, als Holger merkte, dass Philipp plötzlich neben ihm auftauchte. Warum blieb er nicht sitzen und ließ ihn in Ruhe packen? So wäre er weiter mit dem Rücken zu ihm gestanden und hätte die Zeit überbrückt, die das Shirt benötigte um zu trocken.

„Sie haben mir später erzählt, dass sie hier auf eine deutsche Schule gehen“, meinte Philipp. Er wollte nicht davon erzählen, dass sie nach Holger gefragt haben. Er griff zaghaft nach dem Trikot, strich über den weichen Stoff. Immer noch mit dem Lächeln im Gesicht sah er auf zu Holger. Er wollte was sagen, aber was? Dass er bald auch wieder auf dem Spielfeld ein Trikot tragen würde? Aber würde er ihn so nicht einfach nur wieder traurig machen? Wieder. So wie immer eigentlich.

Holger hatte einen kurzen Moment schwer schluckend den Blick auf Philipps Hände gerichtet, ehe er ihm fragend in die Augen sah. Was sollte das? Was sollte ihm dieses Lächeln sagen?
Der Innenverteidiger war sich sicher, dass das längst nicht alles war, was die Jungs gesagt hatten. Warum hatten sie denn zu ihm rüber gesehen, wenn sie Philipp erzählt hatten, dass sie auf eine deutsche Schule gingen? Nein, da gab es noch etwas anderes und so war es kein Satz, den Holger hören wollte. Ihm fehlte die Konzentration um zu antworten, denn Philipps Augen zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Holger verlor sich beinahe in ihnen, ehe er einen Blick auf die geschwungenen Lippen warf. Allein der Gedanke, die sündigen Lippen noch einmal zu küssen, ließ sein Herz schneller schlagen.

Als Philipp sich wieder abwandte, drehte sich Holger auch schnell ein Stück zur Seite und fingerte fast schon nervös und unkonzentriert an seinen Shirts, die am Kleiderhaken hingen, herum. Dabei fiel ihm aber prompt sein Trikot runter, das zwischen Philipp und ihm auf dem Boden landete. Es offenbarte einen Teil seines Namens und die große Zwei. Die Acht war vom Stoff verdeckt.
„Sie haben wirklich nur dich erkannt, oder?“, brachte er hervor, als er seinen Blick senkte.

Philipp drehte seinen Kopf wieder, als er hörte, wie das Trikot auf den Boden fiel. Warum ließ Holger es fallen? War es bildlich für seine jetzige Situation? Seine Karriere, die auch am Boden lag? Oder zeigte es gerade Holger selber, der am Boden lag und von alleine nicht mehr hochkam? Es passte doch. Alleine kam das Trikot nicht vom Boden wieder hoch und auch Holger würde alleine nicht wieder aufstehen können. Aber es gab einen großen Unterschied. Das Trikot würde sich nicht wehren und Hilfe annehmen, im Gegensatz zu Holger.

„Soll ich dir alle Sachen aufs Bett legen? Dann kannst du sie in die Tasche packen“, schlug Philipp vor und ging erstmal nicht auf das andere ein. Sie waren in den USA und Philipp war nun mal der Kapitän bei Bayern und bei der Nationalmannschaft. War es nicht klar, dass man ihn am ehesten erkennen würde?

Holger ließ vom Schrank ab, ließ sich zurück aufs Bett fallen und wollte sich von dort aus bücken, um das Trikot aufzuheben. Aus dem Stand heraus, war es zu schwierig, aber Philipp schien ihm ohnehin behilflich zu sein.

Ohne ein Wort zu sagen, griff Philipp nach dem Trikot.

„Ja, wäre leich -“ Holger stoppte und fixierte Philipps Rücken, der immer noch rot von dem heißen Kaffee war, aber dicht neben der Wirbelsäule zeigte sich ein dunkler blauer Fleck, der ihm vorher gar nicht aufgefallen war. Fassungslosigkeit zeichnete sich in Holgers Mimik ab, wegen dem was sich da für ihn offenbarte. Die Stelle und Größe passten genau zu dem Griff an seinem Kühlschrank in München. So sehr hatte er ihn also gestoßen, dass eine Erinnerung auf seiner Haut prangte.

„Was ist denn?“ Philipp drehte sich um und sah ihn fragend an. „Holger, was ist los?“ Wieso sah er so… ja, beinahe schon geschockt oder erschüttert aus. Irgendwie auch traurig.

Es war dem Innenverteidiger klar, dass er nachfragte, schließlich musste sein Gesichtsausdruck ziemlich verstört wirken. Aber sollte er glücklich lächeln, weil er Philipp um einen blauen Fleck bereichert hatte? Gerade ihn? Klar, waren seine Aussagen manchmal wenig taktvoll, aber das auch nur, weil Holger so vieles im Moment unpassend fand. Da hatte Mario schon recht. Die SMS nach dem Champions-League Finale fand ausschließlich Holger nicht schön. An seiner Stelle hätte sich sonst wohl jeder über die Geste gefreut. Wie dumm konnte er eigentlich sein und Philipp immer wieder abweisen aus irgendwelchen unverständlichen Gründen?
Holger wich den Blicken des Kapitäns aus und schüttelte leicht den Kopf: „Nichts, … ich war nur gerade in Gedanken.“ Was sollte er auch sonst sagen?

Es war so klar, dass Holger erst ablenkte. Natürlich war nichts. Nie war was. Aber trotzdem ging Philipp weiter darauf ein und erzählte von den Jungs, da er davon ausging, dass es das war, was Holger störte. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen setzte Philipp sich neben Holger, das Trikot immer noch in den Händen.
„Einer der Jungs hat gefragt, ob du mitspielen willst, aber ein anderer hat direkt erkannt, dass du das nicht kannst. Sie haben deinen Namen nicht erwähnt, das ist schon richtig, aber was willst du erwarten? Wir sind hier in Colorado, nicht in Bayern. Du kannst mich nicht als Maßstab nehmen, dafür bin ich nun mal Kapitän. Was glaubst du, wie oft Micha früher erkannt wurde, aber ich nicht? Mach dir wegen solchen Sachen jetzt bitte keinen Kopf.“ Aufmunternd sah Philipp ihn von der Seite her an. Er lächelte ihn an, ehe er auf Holgers Hände sah und eine von ihnen griff. Er legte das Trikot hinein und schloss sie wieder. Dann blickte er in Holgers Augen. „Halt dich nicht an Dingen oder Situationen fest, die keine Bedeutung haben.“ Es gab so viel wichtigere Sachen, aber gerade war Philipp auch kurz davor abzudriften. Er verlor sich beinahe in Holgers Augen. Das hatte er ja noch nie… sie waren aber auch so unglaublich tiefenblau, das war Wahnsinn.

Holger war überrascht, dass Philipp nun doch mit der Wahrheit herausrückte.
Stimmte das, was Philipp sagte? Dass er ihn nicht als Maßstab nehmen konnte? Er konnte sich zwar mit Philipp vergleichen, aber er sollte es nicht, da er nur schlecht abschneiden würde.
Träge nickte Holger. Er sollte sich wirklich keinen Kopf mehr darüber machen, ob sie ihn erkannt hatten oder nicht. Doch es gab etwas über das er sich sehr wohl Gedanken machen musste. Um Philipp. Der sogar jetzt da war, nach all den Sachen, die er ihm schon an den Kopf geworfen hatte, und ihn aufmuntern wollte. Irgendwie gelang das sogar. Besonders als Philipp nach einer seiner Hände griff und das Trikot hineinlegte. Lächelnd drehte der Blonde den Kopf, um den Kapitän ansehen zu können. Das Trikot hielt er fest, genauso wie Philipp es ihm gegeben hatte.

„Du hast Recht.“ Gab er das hier gerade das erste Mal zu?

Verdutzt sah Philipp ihn nun an. Holger gab ihm mal Recht?

„Von Bedeutung ist jetzt erstmal, dass ich morgen von hier weg kann. Das ist doch ganz sicher, oder?“ Es war schließlich noch die Rede davon, dass Dr. Steadman ihn nochmal untersuchen wollte. Was, wenn sein Knie wieder rumzickte und der Flug nach Berlin und danach auch nach Hause hinfällig werden würde?
Sein Blick wurde fragend, aber nicht nur wegen seine Sorge, dass doch noch etwas dazwischen kommen könnte. Philipp sah ihn immer noch regelrecht intensiv an, was ihn mindestens genauso nervös machte, wie das Wissen, dass der Kapitän hier oben ohne so nah bei ihm saß.

Jetzt lächelte Philipp wieder. „Ja, das ist sicher. Dr. Steadman hat es mir ja selber gesagt. Er hat dich auf seinem Zimmer gesucht, mich auf dem Flur getroffen und wurde dann angepiept, deswegen konnte er es dir nicht mehr sagen“, erklärte Philipp die ganze Situation.

Erleichterung machte sich vorerst bei Holger breit. Wenn Philipp sich so sicher war, dann würde morgen doch sicher nichts mehr dazwischen kommen. Oder? Nein, er sah Gespenster. Es konnte nicht immer nur schlechte Neuigkeiten geben. Einmal musste es doch auch etwas Gutes sein.

„Soll ich dir dann die Tasche auf den Stuhl stellen und deine Klamotten aufs Bett legen?“, fragte Philipp nach ohne den Blick abzuwenden.

Holger war unglaublich dankbar für diese Frage. Sie erlaubte ihm seinen Blick zur Reisetasche und seiner Kleidung zu wenden. „Wenn's dir nichts ausmacht“, nickte er. Obwohl es sich schon unangenehm anfühlte sich so helfen lassen zu müssen.

Philipp stand dann auf, um die Sachen aus dem Schrank zu holen. Er schlug die Bettdecke zurück, damit er mehr Platz hatte und stapelte dann die Shirts und die Hosen da. Die Kleidungsstücke von den Bügeln legte er bloß darüber. Holger wollte sicher nicht, dass er die auch noch faltete für ihn und sonst sollte er es sagen. Aber das würde er nicht. Es war schon viel für ihn, das er zugab, dass Philipp Recht hatte. Aber ihn freute das. Das war immerhin ein Anfang.

Holger beobachtete Philipp beim Herausräumen seiner Sachen. Er hatte wohl etwas zu viel mitgenommen, aber er hatte seine Reisetasche in München so gepackt, dass sie eben bis oben hin voll war. Platz verschwenden wollte er nicht und so hatte er wenigstens genug Kleidung zum Wechseln.
Als Philipp den Stuhl heranzog und die Reisetasche darauf stellte, lächelte Holger ihn an. „Danke.“ Er war eine große Hilfe, auch wenn der Jüngere das nicht so offen sagen konnte.
Gerade wollte er anfangen seine Sachen in die Tasche zu packen, rutschte dazu auch weiter an die Bettkante, da öffnete sich die Tür nach mehrmaligen Klopfen und ließ Holger aufsehen.

Schwester Anna kam herein und wirkte etwas abgehetzt. Trotzdem behielt sie ihre freundliche Miene bei.
„Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen nicht gleich geholfen habe. Aber der Notfall...“

Überrascht drehte sich Philipp zu Schwester Anna um. „Ach, das macht doch nichts“, winkte er ab.

Sie seufzte demonstrativ und erhaschte sofort einen Blick auf Philipps Rücken. „Haben Sie sich schon mit der Salbe eingecremt?“, fragte sie sofort nach.

„Ja“, er nickte. „Holger war so nett.“

Holger war es etwas unangenehmer, da man den blauen Fleck recht gut erkennen konnte und er hatte so das Gefühl, als würde Schwester Anna das ansprechen, als sie den Rücken des Älteren ganz genau inspizierte. Und so kam es schließlich auch. Was anderes hätte der Innenverteidiger auch nicht erwartet.

„Der blaue Fleck sieht sehr schmerzhaft aus. Der kam aber nicht von der Tasse Kaffee, oder? Hat Sie ein Gegenspieler letzten Samstag etwa so erwischt?“ Schwester Anna klang besorgt und ernst. Der Kapitän verstand nur Bahnhof. Was für ein blauer Fleck? Es schmerzte zwar manchmal etwas seit Holger ihn… da ging ihm ein Licht auf. Hatte er einen blauen Fleck davon getragen? Musste er wohl. Aber, dass er jetzt immer noch zusehen war…

Holger biss die Zähne zusammen und spannte sich unwillkürlich an. Konnte sie nicht einfach aufhören nachzufragen? Sie streute doch damit nur Salz in die Wunde.

„Soll ich Ihnen da auch eine Salbe holen?“, bot Schwester Anna, „Sonst wird die Blessur noch länger Schmerzen bereiten, wenn sie sich irgendwo anlehnen...“

Jetzt reichte es aber. Holger legte unsanft das letzte Hemd in seine Tasche und griff zu seinen Krücken.

„Ähm…“ Philipp zögerte und kam nicht dazu etwas zu sagen, da Holger aufstand.

„Ich geh raus. An die frische Luft.“ Und schon humpelte er aus dem Zimmer.

Weder Schwester Anna, noch der Kapitän hielten ihn auf.

So schnell er nur konnte, humpelte er in den Aufzug, in dem er den Blick in sein Spiegelbild mied, während er sich angestrengt dagegen lehnte. Er hatte sich selbst schon klar gemacht, dass er Philipp körperlich verletzt hatte und jetzt kam er sich vor als wollte man ihn genau deshalb vorführen.
Der Aufzug kam im Erdgeschoss an und entließ Holger in den langen Flur, der zum Haupteingang, oder in diesem Fall zum Ausgang, führte. Es regnete noch immer in Strömen, aber das war dem Innenverteidiger egal. Holger stieß die Tür auf und peilte die Bank unter dem Vordach an. Dort setzte er sich und lehnte die Krücken neben sich. Wie lange er hier, nicht dem Wetter entsprechend gekleidet, bleiben wollte, wusste er nicht.
Ob Philipp der Krankenschwester wohl schon verraten hatte, woher dieser Fleck kam? Die würde ihn dann bei seinem nächsten Aufenthalt sicher meiden. Aber das war jetzt unwichtig. Wichtiger war die Frage, ob Philipp ihn in München auch ausweichen würde. Oder kam er ihn sogar besuchen? Jupp konnte ihm kaum befehlen zu ihm zu fahren...
Warum fragte sich Holger das überhaupt? Das letzte mal, als er da gewesen war, hatte er ihn so heftig zurückgestoßen, dass er gegen seinen Kühlschrank geknallt war.
Holger lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Eine einzelne Träne kullerte seine Wange hinunter, aber er war allein hier. Es interessierte keinen und das war gut so.

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