Kapitel 156 – Nähe auf Abstand

 

 

Souverän mit 3:1 gewonnen. So konnte es weitergehen in der Champions League. Philipp hatte auch ein gutes Spiel gemacht, doch die Anstrengung der letzten Stunden durch das Spiel und den Flug spürte er deutlich in den Knochen. Obwohl er total müde im Bett lag, war er immer noch ziemlich aufgewühlt und konnte nur schwer zur Ruhe kommen.
Irgendwie musste er wieder an die nächsten Wochen denken. DFB-Pokal, Champions League, der normale Ligabetrieb und dazu kamen auch noch die Länderspiele. Philipp war froh in der DFB-Auswahl zu spielen und er war gerne Kapitän in der Mannschaft seines Landes, aber es war wieder mehr Zeit. Er würde in wenigen Wochen 30 Jahre alt werden. Bei der nächsten EM 2016 wäre er 32. Wenn er sie spielen würde…
Er drehte sich auf die Seite und musste an Julian denken. Julian und Claudia, aber auch an Holger. Wenn er seine Karriere nach der WM im nächsten Jahr beenden würde, hätte er mehr Zeit. Aber er würde vermutlich auch nie wieder zusammen mit Holger für Deutschland auflaufen.
Der Kapitän drehte sich auf die andere Seite. Er sollte schlafen. Aber den Gedanken würde er nicht aus seinem Kopf streichen, sondern weiter verfolgen. Unrealistisch fand er ihn nämlich nicht.

 

 

Unter teilweise unerträglichen Schmerzen absolvierte Holger Einheit für Einheit mit den amerikanischen Physiotherapeuten und musste sich in regelmäßigen Abständen der Nachkontrolle durch Dr. Steadman unterziehen. Trotz Philipps mutmachenden Worten hatte Holger große Angst davor, dass er doch noch irgendwann sagen würde, dass etwas nicht gut heilte und er sich noch ein weiteres Mal operieren lassen müsste. Um sich abends abzulenken, startete er seinen Laptop und aktivierte Skype. Er war schon so lange nicht mehr online gewesen, dass er beinahe nicht mehr auf sein Passwort gekommen wäre. Glücklicherweise klappte die Anmeldung doch noch problemlos und sehr zu seiner Überraschung war seine Chatfreundin Cora online, die ihn sofort anschrieb und wissen wollte, wie es ihm ging. Es war schön mit ihr zu schreiben, aber noch mehr freute er sich natürlich darauf, mit Philipp zu skypen. Erstmal musste dieser aber wieder in München nach dem Spiel ankommen. Holger ertappte sich immer wieder dabei, wie er einen Blick auf das gemeinsame Bild warf und seine schützende Hand vermisste.

 

 

Am nächsten Tag stand zum Glück nur der Rückflug an. Gegen Mittag lag er schon wieder im Bett und tippte fix eine Nachricht an Holger.
//Ich bin gut Zuhaue angekommen und schlafe noch mal eine Runde, bin ziemlich KO. Melde mich später bei dir, dann habe ich auch sturmfrei. Ich denke an dich :-*//
Claudia wollte zu ihren Eltern und ihn dann wecken. Diese Zeit wollte Philipp nutzen. Es war nicht fair, aber aktuell ging es einfach nicht anders.


Ungefähr zwei Stunden später weckte Claudia Philipp. Sie verschwand dann recht schnell, nachdem sie ihm das Versprechen abgenommen hatte, dass sie einen schönen Abend zusammen verbringen würden. Sie war gerade aus der Tür, da holte Philipp sich seinen Laptop und setzte sich mit einem Kaffee aufs Sofa. Er startete das Gerät und meldete sich direkt bei Skype an. Ob Holger wohl schon wach war? Immerhin war es da gerade mal kurz nach Sieben. Er schrieb ihm einfach mal.

Philipp:
Guten Morgen nach Vail ;)

 

 

Holger war wach und hatte vor nur wenigen Minuten sein Frühstück verspeist, das eine Krankenschwester bereits wieder abgeräumt hatte. Nachdem ihn ein Pfleger vom Bett in den Rollstuhl umgesetzt hatte, startete er seinen Laptop. Er wollte vor der nächsten Rehaeinheit noch eine Mail von Mario beantworten. Seine Neugier trieb ihn aber nebenbei zu Skype, da er darauf lauerte, dass Philipp oder Cora online kommen würden. Wobei er sich nach ersterem wesentlich mehr sehnte. Und wie es der Zufall wollte, war dieser auch online. Sofort antwortete er ihm und verwickelte ihn in ein kurzes Gespräch. Dann aber wollten sie skypen und das Gesicht des anderen sehen. Insbesondere das Lächeln, was sich auf die Lippen des anderen schlich, wenn sie sich via Skype in die Augen sahen.
Holger studierte beiläufig die Umgebung um Philipp. Er schien im Wohnzimmer zu sein und wirkte sehr entspannt auf ihn. „Wie lange hast du denn Zeit für mich?“ Leider musste er diese Frage stellen. Er glaubte zwar nicht, dass Claudia in der Nähe war – sonst hätte er ihn sicher nicht angeschrieben oder würde vor dem Laptop sitzen – aber er musste wissen, was er sagen konnte und was nicht. Schließlich könnte auch Julian mithören.
Holger dachte an alle, die sich in Philipps Umgebung befinden könnte, aber ließ dabei komplett außer Acht, dass er auch nicht immer alleine im Zimmer war. wer wusste schon, wann sie wieder kam.

 

Auf Philipps Gesicht schlich sich ein Lächeln. „Bis Sechs ungefähr“, erklärte er. „Ich bin auch ganz alleine.“ So konnten sie in Ruhe reden. Es sei denn Holger würde gleich irgendwelche Übungen machen müssen, was er nicht hoffte. Er wollte die freie Zeit nutzen.

 

Leider stellte sich heraus, dass Holger sein Gespräch vorzeitig abbrechen musste, denn ein Patient, der vor ihm eine Rehaeinheit absolvieren sollte, fiel leider aus und so rutschte der Innenverteidiger in der Zeit nach vorne.
Aber ein wenig Zeit blieb zum Glück noch.

 

Was macht denn dein Bein? Tut es noch sehr weh?“ Mit sorgenvoller Miene starrte Philipp in die Kamera. Er hoffte, dass es schnell besser werden würde. Er konnte Holger aktuell ja nur von hier beistehen.

 

Noch war die Reha nicht ganz so intensiv, deshalb spüre ich aktuell wenig. Aber das kommt noch.“ Aber da wollte er jetzt nicht dran denken. Der Mann, der vor der Kamera in München saß, war viel interessanter.


„Hast du das Spiel eigentlich gesehen gestern?“

 

Er nickte auf seine Frage hin und verwickelte Philipp in ein Gespräch über das Spiel. Natürlich war bei beiden herauszuhören, dass sie lieber beieinander in München hocken und darüber diskutieren würden. Vielleicht würden sie sich über eine gelbe oder sogar eine rote Karte streiten, die Holger im Spiel möglicherweise hätte einstecken müssen.
Dann aber war es schon so weit und sie mussten sich verabschieden. Allerdings verabredeten sie sich für den nächsten Tag, dem Holger regelrecht ungeduldig entgegen fieberte. Schließlich war Claudia an den Tag unterwegs und Julian im Bett – das hieß, dass er Philipp wieder ganz für sich hatte. Wenn auch nur über Skype. Langsam beseitigten sich seine Zweifel bezüglich der Ringe. Vielleicht hatte er da wirklich viel zu viel hinein interpretiert. Anderseits stand die Frage im Raum, was Philipp dann mit dem Schmuck bezwecken wollte.

 

Philipp war schon ein wenig traurig, dass er Holger nicht so lange sehen konnte, aber er hatte gesehen, was er wollte. Er hatte gut ausgesehen, sogar gelächelt. Und Philipp nahm ihm das ab. Vor allem nahm er ihm das glückliche Lächeln ab, als sie sich wieder verabredeten. Er selbst trug es auch.

 


Es schien Philipps Glückstag zu sein. Claudia war weg, wollte auch lange rausgehen mit ihren Freundinnen und Julian war sehr schnell eingeschlafen. Philipp machte sich ein Glas Wasser, zog sich bis auf die Shorts aus, sein Schlafshirt an und schlüpfte ins Bett. Zufrieden machte er den Laptop an. Es war noch etwas früh, weswegen er fix eine E-Mail schrieb, ehe er sich in Skype einwählte. 21:00 Uhr war seine Zeit, was bei Holger Mittagszeit hieß.

 

Nach langen Stunden, die Holger endlos vorgekommen waren und er lediglich die Zeit dafür genutzt hatte, um Mario, Bastian und seiner Familie zu schreiben, saß er wieder vor seinem Laptop und blickte auf den Bildschirm, der seinen Freund auf dem Bett sitzend zeigte. Es war verrückt und eigentlich war das nicht das Wichtigste in ihrer Beziehung, aber Holger dachte unweigerlich daran, wie es wäre, wenn er jetzt bei ihm sein und auf dem Bett liegen würden.

 

Der Laptop stand vor ihm auf dem Bett und Philipp selbst saß im Schneidersitz davor. „Wie geht es dir?“, fragte er.

 

Sehr gut, wenn ich dich sehe“, beantwortete er Philipps Frage. „Und jetzt nennst du mich bestimmt gleich Schleimer“, prophezeite Holger, während sich ein verliebtes Lächeln auf seine Lippen schlich. Es war der Wahnsinn, wie allein Philipps Anblick für das Heben seiner Mundwinkel sorgen konnte. Aber dazu mussten auch die Grundvoraussetzungen gegeben sein, wie beispielsweise die Sicherheit, dass er für ihn da war. Mehr als nur ein Freund an seiner Seite war und seine Frau ihm nicht immer vorzog. Holger verbot sich das Seufzen. Er musste damit aufhören. Und trotzdem fände er es einfach viel schöner, wenn Philipp nicht verheiratet wäre. Ging es dem Kapitän nicht auch so? Wenigstens manchmal?

 

Philipp lachte leicht. „Ich nenne dich auch gerne süß, wenn du das lieber hören willst“, schmunzelte er. „Denn süß bist du ohne Zweifel.“ Und das war Holger auch. Egal, wie verheiratet er war oder wie sehr er sich auch für seine Frau entscheiden sollte, der Jüngere war dennoch süß in seinen Augen. Das hatte er im Laufe der Wochen gelernt.

 

Süß gefiel dem Innenverteidiger wesentlich besser, da es in seiner Bedeutung so viel positiver als Schleimer war und ihn auch ehrte in Philipps Augen als süß bezeichnet zu werden. So beschrieb man schließlich keinen Kollegen, weswegen er sich gerne etwas darauf einbilden wollte. Sein Gesicht zierte ein zufriedenes Lächeln, was erstaunlich war, wenn man bedachte, dass er eine Weile an einen Rollstuhl angewiesen war als eigentlich erfolgreicher Nationalspieler.

 

Was gab es zu Mittag?“ Ein Schmunzeln umspielte Philipps Lippen. Diese Zeitverschiebung war schon etwas seltsam. Aber immerhin konnten sie trotzdem gute Zeiten für sie beide finden, um sich zu sehen.

 

Heute gab es ein Nudelgericht. War wirklich lecker“, lobte er die amerikanische Krankenhausküche.

 

Sobald ich höre, dass du nichts vernünftiges zu essen bekommst, rufe ich Schwester Anna an, damit sich das ändert“, prophezeite Philipp. „Die wird auch nicht wollen, dass du hungern musst.“ Nein, das wollte sie gewiss nicht. Sie hatte ja auch versprochen, dass sie sich um Holger kümmern würde.

 

Wenn ich ganz ausgehungert wieder komme, müssen wir einfach öfter Pizza machen“, scherzte Holger. Dagegen hätte er nichts einzuwenden, wobei es ihm viel mehr um die Zweisamkeit mit seinem Kapitän ging als um die Pizza, die sie sowieso nicht all zu oft verzehren sollten.

Schwester Anna würde ihm wohl auch etwas aus der Cafeteria holen, wenn es sein musste, weil sie ihm ein bisschen Zufriedenheit in der schweren Zeit bescheren wollte.

Ich finde es schön, dass du heute länger Zeit hast“, offenbarte er und blickte auf das Display, in dem Philipp zu sehen war. Er würde nur irgendwie noch viel mehr von ihm sehen, was normal war, schließlich liebte er den Kapitän und er hatte schon etwas länger seinen muskulösen Oberkörper nicht mehr bewundern können. Sollte er also...?

 

Da bin ich beruhigt, nicht, dass du mir noch vom Fleisch fällst“, scherzte Philipp, ehe er ernst wurde. „Ja… ich auch.“

 

Ich wäre jetzt gern bei dir“, entschied er sich für eine dezentere Alternative. Er konnte ihn ja wohl kaum bitten, dass er sich sein Oberteil ausziehen sollte, nur weil er ihn so gerne ansah.

 

Das Lächeln auf Philipp Lippen war ehrlich. Sie brauchten beide diese Zeit gerade, auch, wenn Philipp sich das nicht so wirklich eingestehen wollte. Er redete sich ein, dass er das vor allem für Holger tat, aber dieses Treffen beruhigte auch seine Seele ein wenig.

 

Aber in meiner Wohnung, wo wir beide ungestört sind.“ Sehnsucht kam in Holger auf, vielleicht verstand Philipp doch, worauf er hinaus wollte. Oder würde er es gar nicht verstehen wollen, weil es komisch war? Holger fand es auch etwas seltsam und er hätte ihn lieber selbst aus dem Shirt befreit, aber das Leben war kein Wunschkonzert. Wenn es so wäre, dann wäre er jetzt nicht verletzt, Philipp wäre nicht verheiratet und sie hätten ihre Beziehung nur vor der Öffentlichkeit verstecken müssen und nicht vor dem privaten Umfeld.


Überrascht sah der Kapitän auf den Bildschirm. Wo sie ungestört waren? Was genau hatte er denn vor? Nur, weil er auf dem Bett saß? Wollte er mit ihm in einem Bett schlafen? Kuscheln? Oder wollte er etwa… ein Schmunzeln umspielte seine Lippen.
„Was geht in deinem hübschen Köpfchen vor, Holger?“
Wobei er zugeben musste, dass das etwas hatte. Er kuschelte gerne mit Holger und war ihm gerne nah. Vielleicht aber auch, weil sie es nicht so oft konnten. Da war die Sehnsucht gleich viel größer. Und wenn er an das Trainingslager zurückdachte, dann vermisste er dieses Kuscheln in einem Bett wirklich.

 

Es gab den Moment, in dem sich die beiden schweigen anlächelten. Jemand der noch nie richtig verliebt war, würde es als Blödsinn abstempeln, aber Holger genoss solche Augenblicke ungemein.

Holgers nicht gestellte Frage beantwortete Philipp mit einem Schmunzeln. Er hatte den subtilen Hinweis also verstanden. Ansatzweise zumindest ohne dass er ihn genau aussprechen musste.

Deinem Schmunzeln nach zu urteilen, das selbe wie in deinem“, gab Holger zurück. „Ohne dein Shirt würdest du nämlich noch hübscher aussehen“, flüsterte er, konnte es nicht laut und deutlich aussprechen. Genau wie er den Blick senkte und gegen die verlegene Röte ankämpfte. Wenn er direkt bei ihm wäre, hätte es so viel einfacher sein können, aber vor dem Laptop war das richtig komisch. Und dennoch wollte er, dass Philipp sein Shirt auszog.


Im ersten Moment wusste er nicht, ob er seinen Ohren trauen sollte. Holger wollte, dass er sich auszog? Hatte er das richtig verstanden? So wie der Jüngere den Blick senkte, musste ihm die Aussage peinlich sein, weswegen alles darauf hindeutete, dass er ihn richtig verstanden hatte.
„Daran mich auszuziehen, habe ich nicht gedacht“, gab Philipp zu. Aber was sprach dagegen ihm den Wunsch zu erfüllen? Kurz ging sein Blick zu seinem Nachttisch. Dort waren in einer kleinen Schatulle die Ringe untergebracht, die er gekauft hatte. Es gab einen großen Grund. Er wollte auf Abstand gehen zu Holger. Aber eben auch erst, wenn dieser wieder in München war. Und sein Shirt ausziehen war ja jetzt auch nicht gleichbedeutend mit Sex oder so. In der Kabine hatte er ihn auch oft genug oben ohne gesehen und würde er in Zukunft auch tun. Wobei das etwas anderes war. Aber egal.
„Ich will aber mal nicht so sein. Und wehe das fördert nicht deine Genesung“, scherzte Philipp. Dann packte er an den Kragen des Shirts und zog es sich über den Kopf.

 

Dass die gute Seele des Krankenhauses gerade auf dem Weg zu ihm war und die Tür leise öffnete, um ihn nicht zu stören oder zu erschrecken, sollte der Patient einen Mittagsschläfchen machen, bekam der Innenverteidiger nicht mit, da er mit dem Rücken zur Tür saß und komplett auf Philipp fixiert war. Wie denn auch nicht? Der Kapitän zog sich doch tatsächlich sein Oberteil über den Kopf und offenbarte somit den schlanken athletischen Körper, den er so begehrte.
„Woran hast du denn gedacht?“, hakte Holger neugierig nach, sah sich fest an seinem hübschen Kapitän, der nun oben ohne vor dem Bildschirm in München saß.

 

Als Holger seine Frage stellte, bemerkte Philipp, dass sich etwas im Hintergrund bewegte. Das war jetzt nicht möglich! Er schluckte schwer, als er Schwester Anna erkannte, die sich neugierig und anscheinend vor allem leise zu ihnen stahl. Mit einer Hand griff er schon wieder nach seinem Shirt, um es sich anzuhalten. Das war ihm so doch etwas unangenehm vor ihr. Vor allem sollte sie ja nicht denken, sie hätten hier… was vor oder so.

 

Noch bevor sein Gesprächspartner antworten konnte, ließ sich Holger zu einem im Affekt heraus gesagten Kommentar hinreißen, ohne zu wissen, dass Schwester Anna hinter ihm auftauchte und Philipp begrüßend zu lächelte.


„Holger, da…“

 

Wenn du dich noch weiter ausziehst, brauch ich den Rollstuhl vielleicht gar nicht mehr“, spaßte Holger. Philipp wirkte tatsächlich gesundheitsfördernd, wenn man es näher betrachtete. Wie gut, dass Jupp ihm Philipps Anwesenheit verschrieben hatte.


Jetzt entglitten Philipp sämtliche Gesichtszüge. Der überraschte und dann grinsende Ausdruck auf Annas Gesicht zeigten deutlich, dass sie Holger wohl sehr gut verstanden hatte. Was musste der denn auch so was sagen? Das war doch sonst auch nicht seine Art, oder? Scheiße.

Philipp hob das Shirt beschämt vor seinen Oberkörper und kratzte sich verlegen am Kopf.

 

Holger achtete zwar auf den halb ausgezogenen Kapitän, aber interpretierte seine Handlungen nicht als solche, die ihm einen Hinweis zu Schwester Anna geben sollte. Als er seinen Satz schließlich ausgesprochen hatte, bereute er ihn gleich wieder beim Anblick von Philipps Gesichtsausdruck und das Greifen nach seinem Oberteil. Er hätte einfach nachdenken sollen über das, was potentiell über seine Lippen kommen wollte. Ob Philipp sich jetzt wieder anziehen wollte? Für Holger fühlte sich das schrecklich unangenehm an, aber schon nach wenigen Momenten wünschte er sich genau diesen Augenblick wieder herbei.

 

Holger, du… hast Besuch. Hallo, Schwester Anna…“


Wie peinlich war das bitte? Als wenn es nicht gereicht hätte, dass er hier halbnackt saß, nein, Holger musste sich auch noch zu seinem Spruch hinreißen lassen. Warum hatte sie denn auch nicht geklopft oder sich anders bemerkbar gemacht? Sie wusste, dass da mehr zwischen ihnen lief, ja, aber… das war etwas anderes, als wenn sie sich nackt gegenüber saßen!
Krampfhaft hielt Philipp das Shirt fest. Am liebsten hätte er den Laptop einfach zugeklappt, aber er konnte Holger jetzt alleine lassen mit der Situation, vor allem wo Anna ihn ja gesehen und erkannt hat.

 

Ausdruckslos starrte er seinen Freund an. Das war ein Scherz, oder? Holger betete, dass das ein Scherz war, aber dem Räuspern und den Geräuschen im Hintergrund nach zu urteilen, musste er seinem Freund Glauben schenken. Nur zögerlich drehte der Blonde sich um und entdeckte eine schmunzelnde Schwester Anna.

 

Holger glitt alles aus dem Gesicht. Die Frage war, für wen es peinlicher war. Philipp, weil er der ohne Kleidung war Holger, der den Satz gesagt hatte. Da Holger Schwester Anna aber beinahe täglich ausgeliefert war, gewann er hier eindeutig den Hauptpreis. Wie gerne hätte Philipp ihn da irgendwie erlöst.

 

Ich bin doch auch mal jung gewesen“, versuchte sie den errötenden Innenverteidiger zu beschwichtigen, der am liebsten vor Scham im Erdboden versunken wäre.

 

Hätte er Philipp doch nie gebeten sein Shirt auszuziehen! Und den dämlichen Spruch hätte er sich erst Recht sparen können.

 

Lassen Sie sich nicht weiter stören, ich bin wieder weg, jetzt da ich sehe, dass es Ihnen gut geht. Später bringe ich Ihnen dann frische Handtücher“, kündigte sie sich an, lächelte Philipp nochmal zu und verschwand dann wieder aus dem Zimmer. Dieses mal laut und deutlich. Hätte sie sich nicht vorher bemerkbar machen können.

 

Da half es auch nichts, dass sie die Situation irgendwie retten wollte. Gerade war alles falsch vermutlich. Da war es gut, dass sie ziemlich schnell wieder verschwand. Die Stille, die für den Moment einkehrte, war gespenstisch.

 

Tut mir Leid“, murmelte Holger beschämt. Die Laune war jetzt natürlich verdorben.


„Hey, da kannst du doch nichts für“, versuchte Philipp Holger irgendwie aufzubauen. „Wer konnte denn damit rechnen, dass Anna plötzlich auftaucht? Sie hätte ja auch mal lauter klopfen können.“ Eigentlich war sie ja auch schuld. Irgendwie.

 

Holger betrachtete Philipp schweigend, als dieser sein Shirt wieder sinken ließ. „Sie kommt ja meistens nach dem Mittagessen rein“, seufzte der Innenverteidiger. Ein klein wenig Schuld traf ihn also auch, denn er hätte es wissen müssen, dass sie oft nach ihm umschaute.

Auch hatte Holger nicht gewollt, dass Philipp in Verlegenheit kam, sich so seiner Krankenschwester zu präsentieren. Auch wenn sich der Kapitän für seinen Körper nicht schämen musste. Ganz im Gegenteil sogar, denn in Holgers Augen war er der schönste Mann und jeder hätte Grund neidisch zu sein.


Als er einen weiteren Gedanken bekam, schlich sich ein Lächeln auf Philipps Lippen. Er ließ das Shirt wieder sinken. „Außerdem war das doch ein süßes Kompliment, was du mir gemacht hast. Wenn es helfen würde, würde ich mich sofort ausziehen und erst mal nicht wieder anziehen.“ Vielleicht konnte er Holger so ja auch zum Lachen bringen. So blöd die Situation auch war, so niedergeschlagen und beschämt wollte er Holger nicht sehen.

 

Aber es war nicht gerade toll, dass Schwester Anna jetzt so ein Bild von ihnen hatte. „Die dachte doch, wir wollten...“, druckste er herum, beließ es aber bei dem offenen Satz und lächelte lieber, weil Philipp seinen bescheuerten Spruch sogar aufgriff und etwas Positives abgewann. Es war süß von ihm, dass er ihn aufbauen wollte und es sogar schaffte. Holger glaubte seinem Freund, dass er das wirklich für ihn tun würde, wenn es irgendeine Auswirkung auf seinen Heilungsverlauf hätte. Hatte es nur eben leider nicht. Nicht direkt zumindest, aber wenigstens hatte er wegen Philipp deutlich bessere Laune. „Ich bilde mir einfach etwas darauf ein, dass du dich für mich ausziehen würdest“, zeigte er sich gelassener. Die erste Begegnung mit Schwester Anna würde zwar unangenehm und peinlich werden, aber er hatte ja schon schlimmeres erlebt als das. Einen Vorwurf konnte man ihm auch nicht machen, denn Philipp war nunmal verdammt attraktiv, weswegen es nur normal war, ihn zu begehren.

 

Philipp würde sich für Holger ausziehen. Er würde auch sogar gerne wieder mit ihm intim werden und das nicht nur über Laptop und Webcam. Aber es spürte auch das schlechte Gewissen Claudia gegenüber… schnell war das zur Seite geschoben. Jetzt nicht. Später. Jetzt sollte er sich auf Holger konzentrieren.
„Na ja… zu sehr solltest du dir nichts darauf einbilden. Ich ziehe mich immerhin jeden Tag in der Kabine auch vor den anderen Jungs aus“, scherzte der Kapitän, wollte so die Stimmung wieder weiter heben. Zum Glück klappte das auch und sie redeten noch eine ganze Weile, ehe Holger zur Behandlung musste. Philipp selbst musste aber auch los, denn Julian meldete sich zu Wort. Er hatte wohl schlecht geschlafen. Da Claudia noch unterwegs war, waren jetzt seine Qualitäten als Vater gefordert. Diese waren besser aktuell als die als Ehemann.

 

Den nächsten Tag musste Philipp viel über die Situation vom Vortag nachdenken. Eigentlich wäre es nicht verwunderlich, wenn Schwester Anna sie verurteilen würde. Vermutlich würde er selbst es auch tun. Genauso aber auch Mario… wobei nein. Nicht Holger und er, sondern nur er, nur Philipp sollte in negatives Licht gestellt werden. Er war derjenige, der Ehebruch begann. Er ließ sich bewusst auf Holger ein und hinterging seine Frau. Und nebenbei belog er irgendwie beide und tat beiden weh.
Die Ringe hatte er nicht umsonst besorgt und ihm wurde bewusst, dass er sie nutzen musste. Er liebte Holger, wie auch immer das passiert war. Aber er liebte auch Claudia und seine Familie. Und das überwog.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Mailiw Alba (Mittwoch, 03 Februar 2016 22:17)

    Haaaaaaaaaaaaach, witzig, süß und viel HAAACH JUNGS!

    Mehr sag ich dazu nicht xD

    Macht weiter so..

  • #2

    Engel (Donnerstag, 04 Februar 2016 09:51)

    Hey :)
    erst mal finde ich es von der Story her super, dass Philipp sich hier erstmal für seine Familie entscheidet. Das liest man selten. Bei den meisten FFs werden sämtliche Familien in die Wüste geschickt. Für Holger tut es mir mega leid, aber für den Verlauf der Story bin ich dafür.
    Ich gehe natürlich weiter davon aus, dass ihr für Holger ein Happy End geplant habt! ;)
    In meiner Vorstellung findet er entweder jemand anderen, der ganz toll ist und super zu ihm passt. Oder, auch nette Vorstellung, Philipp versucht es mit seiner Familie und scheitert...^^
    Da lasse ich mich gerne überraschen ;)