Kapitel 155 - Gewissenskonflikt

 

 

Stunden später zuckten Holgers Augenlider. Der Fernseher leuchtete auf und auch, wenn der Ton ganz leise eingestellt war, hatte der Innenverteidiger ihn wahrgenommen. So erwachte er schließlich aus seinem Schlaf und öffnete die müden Augen. Der erste Blick ging zum hellen Fernseher und anschließend auf den schlafenden Kapitän an seinem Bett. Holgers Mundwinkel gingen nach oben und er hob seine Hand, um Philipp ganz vorsichtig über den Kopf zu streicheln. Er wollte ihn nicht aufwecken. Erst jetzt schenkte er dem Ring Beachtung, der auf seiner Bettdecke lag. Leise richtete Holger seinen Oberkörper auf, hatte den Blick immer auf Philipp gerichtet aus Angst er könnte wach werden, während er sich den Ring genauer ansah. Dieser hing an einer Kette, die der Kapitän noch in der Hand hielt. Sanft nahm er den Ring hoch, betrachtete ihn durch das Licht im Fernseher genauer. Ob das ein Geschenk für ihn war? Ein vorfreudiges Lächeln erhellte sein Gesicht. Was hatte er nur für einen aufmerksamen Freund? Einen aufmerksamen heimlichen Freund, aber das war Holger im Augenblick der Vorfreude egal. Bis zu dem Moment, als das Fernsehbild noch mehr Helligkeit ausstrahlte und er erkannte, dass in dem Ring etwas eingraviert war und sich eine Vermutung in seine Gedanken schlich. Die Gravur deutete für den geschundenen Innenverteidiger stark darauf hin, dass dieser Ring für seine Abwesenheit stand. Eine Art Abschiedsgeschenk, den er ihn ja schon längst hätte geben können, wenn es wirklich nur eine lieb gemeinte Geste wäre. Der Blonde konnte die erklärenden Worte Philipps schon hören, die ihn tief verletzen würden. Philipp hatte ihm versprochen seine Verletzung mit ihm durchzustehen. Da durfte er sich doch nicht einfach zurückziehen. Aber was war dann nach überstandener Verletzung?
Holger schluckte aus tiefster Betroffenheit in Hinblick auf seine Zukunft schwer. Automatisch ließ er den Ring wieder sinken. Von jener Freude war nichts mehr gesehen, sie war einfach aus seinem Gesicht verschwunden und kehrte nicht mehr zurück. Nicht mal bei dem Anblick des schlafenden Kapitäns, in den er sich verliebt hatte. Und dieser wollte ihm nun offenbar einen Ring als Abschiedsgeschenk schenken, der ihn darüber hinweg trösten sollte, dass er niemals die Nummer eins für den Kapitän sein konnte. Noch hatte er keine Gewissheit, aber die wollte er auch nicht. Sein Gefühl sagte ihm, dass der Ring genau dafür gedacht war und Philipp nur einen guten Moment abwartete, um ihm das Geschenk zu geben.
Traurig fiel sein Blick zum Nachttisch, auf dem das gemeinsame Foto stand. Ihm wurde bewusster denn je, dass er Philipp brauchte. Der wiederum kam aber gut ohne ihn klar. Die Tatsache schmerzte. Plötzlich nahm er aus dem Augenwinkel eine Regung wahr. Wachte Philipp auf? Schnell drehte er seinen Kopf weg und schloss die Augen, wollte nicht, dass er jetzt die Gelegenheit dazu bekommen würde, ihm den Ring jetzt zu geben. Er sollte nie dazu kommen. Er stellte sich schlafend, wirkte ruhig, doch innerlich war er nicht halb so entspannt, wie es nach außen hin schien. Sein Herz schlug schnell und schmerzvoll in seiner Brust. Er wollte diesen Ring und die damit verbundene Trennung nicht.

 

Philipp wusste nicht, was ihn schließlich wieder weckte, aber er wurde aus seiner Traumwelt gerissen und wachte auf. Seine Augen flatterten und er unterdrückte ein Gähnen, als er sich aufrichtete. Sofort fiel sein Blick auf die Ringe, die auf der Decke lagen, ehe er zu Holger ging. Dieser schien zu schlafen. Er ahnte nicht, dass er eigentlich wach war. Vielleicht war es auch besser so.
So schaute er sich den schlafenden Patienten an und lächelte sanft. Eine ganze Weile saß er so und ignorierte auch den Fernseher. Holger schien tief und fest zu schlafen. Er hatte es sich aber verdient. Er musste sich ausruhen und außerdem konnte Philipp nicht sagen, ob Holger ruhig schlafen würde, wenn er wieder weg sein würde. Selbst mit dem Ring… Er schaute ihn sich wieder an. Jetzt konnte er ihn ihm nicht mehr geben. Er würde es morgen machen vor seiner Abreise. Jetzt ließ er ihn schlafen.
Aber er selbst brauchte auch seinen Schlaf, weswegen er lieber rüber ins Hotel ging. So leise wie möglich erhob sich Philipp und schaltete den Fernseher aus. Er hielt noch mal inne, beobachtete Holger, doch der schlief seelenruhig weiter.
Er legte also die Fernbedienung zur Seite und schlich so leise, wie es ihm nur möglich war aus dem Zimmer. Die Schloss er und atmete vor der Tür erst mal durch. Hoffentlich war Holger nicht aufgewacht.
Philipp ging den verlassenen Gang entlang und drückte auf den Knopf für den Aufzug. Genau in dem Moment als eben dieser geräuschvoll seine Ankunft ankündigte, bemerkte Philipp, dass er seine Jacke vergessen hatte. „Mist“, fluchte er leise und eilte zurück zu Holgers Zimmer. Es war kalt draußen, da wollte er sie lieber mitnehmen.

 

Nervös versuchte er sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich nur schlafend stellte. Er wollte jetzt nicht mit den Ringen konfrontiert werden. Lieber handhabte er es so, wie ein kleines Kind, das noch heimlich länger wach bleiben wollte, und stellte sich schlafend. Er konnte jedoch nicht einschätzen, ob sein Plan erfolgreich sein würde. Er hörte Philipp, dann war alles ruhig. Aber noch musste er da sein, sonst hätte er ganz sicher Schritte und die Tür gehört.
Nach gefühlten Stunden nahm er wahr, wie der Stuhl nach hinten geschoben wurde. Anschließend verstummte der Fernseher. Holgers Atmung war deutlich ruhiger geworden und er konnte sich am Ziel wähnen. Philipp schien nicht aufgefallen zu sein, dass er eigentlich wach war.
Als am Schluss noch die Tür ertönte, wagte es Holger seine Augen zu öffnen und sich umzusehen. Im ersten Moment erkannte er nichts, da es stockdunkel war, aber nach kurzer Zeit gewöhnten sich seine Augen wieder an die Dunkelheit und er konnte erkennen, dass Philipp wirklich weg war.
Holger war zum ersten Mal froh alleine zu sein. Er wollte seine Tränen vor Philipp verbergen und hatte es tatsächlich geschafft sie so lange zurückzuhalten, bis dieser den Raum endlich verlassen hatte.
Holger richtete den Blick auf sein Handy, das am Nachttisch lag. Mit einer Hand griff er danach und aktivierte das Display, um die Uhrzeit in Erfahrung zu bringen. Doch die Zeit verschwamm in seinem Blickfeld, weswegen er es lautlos zurücklegte und nachdenklich an die schwarze Decke starrte. Ein leises Schluchzen kam über seine Lippen, was ihn jetzt nicht mehr störte, da Philipp sowieso nicht mehr da war. Und die Ringe hatte er zum Glück mitgenommen. Holger wollte nämlich keinen. Zwei kleine Tränchen lösten sich aus seinen blauen Augen, die seitlich seinen Wangen auf das Kissen kullerten. Es war mucksmäuschenstill im Raum, weswegen das leise Schluchzen Holger gut wahrnehmen konnte. Plötzlich beschleunigte sich sein Herz von null auf hundert. Das waren Schritte und die Tür! Er hätte nicht erwartet, dass noch eine Krankenschwester zu ihm kommen würde. Schnell drehte er den Kopf zur Wandseite und schloss die Augen, damit man erneut denken konnte, dass er seelenruhig schlief.

 

Philipp ging bedacht leise. Er wollte gerade die Klinke herunter drücken, als er von innen etwas hörte. Erst glaubte er sich verhört zu haben, aber dann klang es wieder wie ein Schluchzen. Das kam ganz eindeutig aus Holgers Zimmer und er war sich sicher, dass er sich nicht verhört hatte.
In ihm zog sich alles zusammen. Weinte Holger im Schlaf oder war er aufgewacht? Weinte er, weil er nicht da war? Er brauchte ihn… der Ring würde ihm das Herz brechen. Philipp zog ihn aus der Tasche. Er konnte ihm den nicht geben, oder?
Plötzlich hörte er hinter sich Schritte und sah auf. „Schwester Anna.“


„Herr Lahm, was machen Sie hier? Die Besuchszeit ist schon lange vorbei.“ Sie wollte tadelnd klingen, schmunzelte aber dabei. Wobei das rasch verblasste, als sie den traurigen Ausdruck im Gesicht des Fußballers sah. „Alles okay? Stimmt etwas nicht?“


Philipp zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich bin eingeschlafen“, erklärte er ganz leise flüsternd, damit Holger ihn ja nicht hörte, falls er wach war. „Als ich jetzt gehen wollte, stellte ich fest, dass ich meine Jacke vergessen habe und wollte sie holen. Ich habe aber Holger gehört… er hat geschluchzt.“
In seinen Augen wollten sich auch Tränen bilden, die Philipp tapfer wegblinzelte.


Schwester Anna bemerkte auch den Ring, der wieder in der Hosentasche verschwand. Sie lächelte den Kapitän mitleidig an. „Ich hole ihre Jacke, okay?“


„Aber…“

 

Ich muss eh noch mal nach ihm sehen. Warten Sie hier.“

Leise drückte Schwester Anna die Klinke herunter. Sie huschte hinein, griff nach der Jacke, die über dem Stuhl hing und warf einen prüfenden Blick auf den Patienten. Sie sah deutlich die feuchten Wangen, die im Licht der Laterne leicht glänzten.

 

Eine wahre Zumutung für Holger sich jetzt schlafend stellen zu müssen, da er so schnell und unvorhergesehen nichts gegen das Schluchzen unternehmen konnte. Leider hatte er sich nicht getäuscht und es kam tatsächlich noch jemand ins Zimmer. Wer es war vermochte er nicht zu sagen, da er seine Augen verkrampft geschlossen hielt. Aber anhand der Schritte glaubte er nicht, dass es Philipp war.


Die Krankenschwester hatte viel für die beiden über. Sie taten ihr leid, aber sie konnte leider auch nicht wirklich etwas machen. Für heute Abend war es damit getan, dass sie Holger alleine ließ, obwohl sie bemerkte hatte, dass er wach war. Draußen schloss sie leise die Tür und reichte Philipp seine Jacke.


Die Tür fiel wieder ins Schloss, weswegen Holger tief durchatmete und seine Augen wieder öffnete. Das eben unterdrückte Schluchzen kam über seine Lippen und erstickte es hinter seinem Arm, den er sich übers Gesicht legte.

 

Sie hatten Recht. Er hat geweint. Aber gehen Sie jetzt rüber ins Hotel. Den Ring können Sie ihm auch morgen noch geben.“

Philipp bedankte und verabschiedete sich von Schwester Anna. Zwar dachte er noch ganz kurz darüber nach, aber er entschied sich dagegen. Er konnte Holger den Ring nicht geben. Nicht jetzt. Er würde warten, bis der Innenverteidiger wieder in München war, wo auch Bastian sich um ihn kümmern konnte und Ute und seine Mutter. Hier in Vail wäre er ganz alleine, wenn er ihm auch seinen Beistand aus München mehr oder weniger versagte dadurch.

In dieser Nacht schlief Philipp nicht unbedingt besonders gut. Er träumte von Holger, aber auch von Claudia, die es da eben auch noch gab. Und natürlich Julian. Das war alles so viel. Er konnte nicht alle glücklich machen und hatte nicht für alle so einen Platz in seinem Leben, wie er es gerne hätte. Aber noch musste das gehen. Nur noch ein Weilchen.

 

Holger schlief in dieser Nacht sehr schlecht und hätte er gewusst, dass Philipp sein Schluchzen gehört hatte, hätte er wohl noch um einiges schlechter und unruhiger geschlafen. Wenn er überhaupt ein Auge zugemacht hätte. Schließlich war es der Innenverteidiger Leid sich ständig als so schwach vor dem Kapitän zu präsentieren. Natürlich durfte er es, das wusste er auch, dass er bei ihm eine starke Schulter fand, aber trotzdem war es ihm unangenehm.

Nach dem Frühstück starrte Holger auf die tickende Uhr. Bald war Philipp wieder weg. Bei der Mannschaft und nachfolgend auch bei seiner Familie. Er würde wieder in die Rolle des Vaters schlüpfen und ihn erst mal zurück lassen. Ihn trösten mit einem Ring, der ihn daran erinnern sollte, dass er nicht alleine war, obwohl die Geste genau das Gegenteil ausdrückte. Holger wandte den Blick seufzend ab und lehnte sich wieder zurück. Er könnte sich auch jetzt schlafend stellen, damit Philipp ihm nicht am Ende doch noch mit dem Ring belästigen würde, aber er erwartete, dass der Kapitän ihn aufwecken würde. Außerdem wollte er sich von ihm verabschieden. Ein Abschied auf Zeit. Nicht für immer. Er liebte ihn und hatte immer gedacht, dass es Philipp genauso erging. Dass er irgendwann erkennen würde, dass er ihn mehr mochte als Claudia und sich ganz ihm widmete. Aber die Realität durchkreuzte seine Pläne und Hoffnungen.

 

 

Am Morgen war Philipp nicht wirklich fit, aber er konnte ja später im Flugzeug noch schlafen. Oder er sollte es vielmehr.
Es war etwa halb acht als Philipp das Hotel verließ. Er hatte schon gefrühstückt und ausgecheckt, da er er in etwa einer halben Stunde abgeholt werden würde, um zum Flughafen zu fahren. Vorher wollte er sich aber noch von Holger verabschieden, wenn auch nicht wie geplant mit dem Ring.
Den Ring würde er mitnehmen, er würde ihn erst später in Deutschland von ihm bekommen. Im Moment würde er nicht das tun, was er sollte. Er würde Holger nicht aufmuntern und ihm Kraft geben. Es würde das Gegenteil passieren.

Im Krankenhaus suchte er sich den Weg zu Holgers Zimmer, klopfte und trat ein.
„Guten Morgen“, lächelte Philipp.

 

Holger hob den Blick, als es klopfte und kurz darauf auch schon die Tür aufging. „Guten Morgen“, wünschte auch der Innenverteidiger, fühlte sich nach der Frage sicher, dass Philipp nichts mitbekommen hatte.

 

Hast du gut geschlafen? Ich bin dann irgendwann gegangen, nachdem ich auch erst weggenickt bin.“

 

Ich hab dich gar nicht mehr gehört“, log Holger. Natürlich hatte er bemerkt, wann der Kapitän sein Zimmer verlassen hatte. Schließlich hatte er sich extra schlafend gestellt.

 

Philipp grinste etwas und setzte sich ungefragt zu ihm ans Bett. Holger sagte nichts zu letzter Nacht und war irgendwie auch ganz froh drum. Er wollte da jetzt nicht drüber sprechen. Nicht, wo er sich nur verabschiedete und nicht mehr für ihn da sein konnte.

 

Holger setzte sich sofort aufrecht, um seine Hand an dessen Wange zu legen und ihn fordernd zu küssen. Doch es war ein viel mehr eine besitzergreifende Tat. Eigentlich wäre Abstand wohl das Richtige für ihre Situation, aber er konnte nicht. So lange er die Gelegenheit dazu haben würde, Philipp zu küssen, musste er das ausnutzen. Vielleicht gab es doch noch die minimale Hoffnung, dass er sich doch nicht von ihm trennen konnte, weil seine Gefühle mittlerweile viel zu stark dafür waren, als dass er es aushalten könnte, getrennt von ihm zu sein. Es war nur eine kleine Hoffnung, aber sie existierte.

 

Philipp saß keine fünf Sekunden, als sich Holger zu ihm beugte und ihn küsste. Überrascht keuchte Philipp auf. Damit hatte er nicht gerechnet. Mit einem Kuss, okay, aber nicht mit so einem verlangenden. Irgendwie zeigte dieser Kuss ihm aber auch, dass Holger ihn brauchte, ihn begehrte und ihn vor allem liebte.
Dieser Kuss zerriss Philipps kleines Herz.

 

Holger ahnte, dass Philipp deutlich spüren würde, dass das kein einfacher Kuss war und es auch ansprach.

 

Als sie sich löste, grinste der Kapitän. „Mit so einem Kuss habe ich nicht gerechnet“, gab er zu. „Aber er war gut.“ Er zwinkerte Holger zu, stand dann auf und setzte sich zu ihm auf die Matratze. Noch konnte er ihm nah sein, da wollte er es auch tun. Seine Hand lag auf der Bettdecke auf Holgers Oberschenkel. Er spürte ihn und übte leichten Druck aus. Dabei schenkte er dem Jüngeren ein ehrliches Lächeln.

 

Sanft lächelte der Innenverteidiger und beobachtete die Bewegungen des Älteren, auch wenn das gar nicht weiter nötig gewesen wäre. Die Matratze senkte sich und er konnte Philipps Hand fühlen, die seinen Oberschenkel berührte. Sehnsüchtig richtete er seinen Blick auf die Hand und trug immer noch das Lächeln im Gesicht. Doch es hatte auch etwas trauriges an sich, was Philipp aber zum Glück verborgen blieb. Er sollte beruhigt fliegen, aber dennoch nicht auf die Idee kommen sich zu trennen.

 

In einer halben Stunde, oder?“ Der Blick wanderte weiter zur Uhr, wodurch er automatisch an dem Bild auf dem Nachttisch hängen blieb. Er betrachtete es wirklich gerne. „Meldest du dich, sobald du angekommen bist?“, fragte er nach.

 

Philipp wollte ihm gerade antworten, ihn beruhigen, dass er sich keine Sorgen machen musste, aber so weit kam er nicht. Schwester Anna trat ein. Sofort erhob sich der Kapitän vom Bett, das war einfach höflicher.

 

Wenigstens war Philipps nächste Handlung nicht der Griff in die Hosentasche, um ihm den Ring zu geben. Das würde er nicht vor Schwester Anna machen, ganz sicher nicht.

 

Die Krankenschwester und der Fußballer reichten sich die Hände. „Ich wünsche Ihnen einen guten Flug. Kommen Sie gut an und machen Sie sich keine Sorgen um Herrn Badstuber. Ich habe immer ein Auge auf ihn und passe gut auf ihn auf.“

 

Sie zauberte ein Lächeln in Philipps Gesicht und er schaute kurz zu Holger, ehe er Schwester Anna wieder ansah. „Ich zähle auf Sie.“


Holger lächelte leicht, auch wenn die Zeit leider gegen sie arbeitete. Lange Wochen würden ins Land ziehen, viele Spiele stattfinden und Philipp würde viel Zeit bei seiner Familie verbringen, bis er wieder wenigstens in Deutschland ankam. Es war ein grausiger Gedanke, vor allem als er sich vorstellte, dass der Kapitän sich in dieser Zeit entlieben könnte. Er musste genau auf sein Verhalten achten, wenn sie skypten und miteinander schrieben.

 

Das können Sie, das wissen Sie doch.“ Sie zwinkerte ihm zu und ließ die beiden Herren wieder alleine, da sie noch zu den anderen Patienten musste.


„Es ist schön, dass sie sich die Zeit genommen hat, sich zu verabschieden“, fand Philipp, setzte sich wieder an Holgers Bett. Er legte eine Hand an seine Wange, strich sanft darüber. „Ich melde mich, sobald ich in Manchester gelandet bin, keine Sorge.“
Irgendwie wollte er noch mehr sagen. Holger klar machen, dass er den Kopf nicht hängen lassen sollte, aber irgendwie fand er auch, dass diese Worte fehl am Platz waren. Holger wusste es und Philipp wusste, dass es schwer werden würde, wenn er erst weg war. Es war ja so schon schwer. Und es würde noch schwerer werden, wenn sie beide wieder in München waren. Daran wollte er nicht denken, aber er musste es. Er musste sich dieser Tatsache einfach stellen. Die Realität war leider nicht so rosig, wie er es gerne hätte. Oder vor allem, wie Holger es gerne hätte.

 

Sanft legte Holger seine Hand auf Philipps, die seine Wange berührte. „Auf Schwester Anna ist Verlass. Dann kannst du beruhigt sein und dich auf die kommenden Spiele konzentrieren.“ Bewusst ließ er weg, dass er sich auch auf seine Familie kümmern konnte, denn davon wollte er nichts wissen. Wäre das Leben ein Wunschkonzert gäbe es keine Claudia, die seine Welt stark einschränkte.

Gemächlich löste er die Hand von seiner Wange, führte sie zu seinen Lippen und hauchte einen Kuss darauf, ehe er sie auf dem Bett ablegte und sie mit seiner streichelte. „Wenn ich zurück bin, können wir ja wieder golfen gehen“, schlug Holger vor. Er wollte eine Aussicht auf Zeit mit Philipp haben und nicht hören müssen, dass das nicht mehr ging wegen seiner Familie. „Auch so mal rausfahren, wäre schön“, zählte er auf. „Oder ein ruhiger Abend im Bett. Ich könnte dir ja mal dein Lieblingsessen kochen.“
Es war allesamt egoistisch gemeint und das tat Holger tief in seinem Inneren aufrichtig Leid. Er setzte den Älteren mit seinen Vorschlägen gezielt unter Druck, aber was sollte er sonst machen? Er wollte um ihn kämpfen, er durfte das nicht so einfach beenden und ihn alleine lassen. So grausam konnte Philipp doch nicht sein, oder? Ihn erst küssen, Hoffnungen machen und letztlich sitzen lassen, um bei seiner Familie zu sein. Genau genommen hatte Holger wirklich etwas gegen den Kapitän in der Hand. Seine Frau wäre sicher nicht begeistert, wenn sie die Wahrheit erfahren würde. Aber gerade weil er Philipp liebte, schwieg er gegenüber Claudia. Denn damit würde er den Kapitän unglücklich machen und das war das letzte was Holger wollte.

 

Holgers Worte ließen Philipp schwer Schlucken, doch er ließ sich das nicht anmerken. Viel mehr lachte er leicht. Dann schüttelte er den Kopf und sah Holger tadelnd an. „Immer mit der Ruhe. Du musst wieder fit werden. Also sprich nicht von Sport oder in der Küche rumhüpfen, ja? Deine Genesung steht an erster Stelle, dann sehen wir weiter.“
So umging er sein schlechtes Gewissen. So umging er, dass er sagen musste, dass es das vielleicht nicht geben würde. Vor allem nicht so, wie Holger es sich wünschte. Philipp musste bei Holger Abstriche machen. Der konnte seine Worte einfach nicht so erfüllen, wie er es gerne hätte. Das zeigte ihm aber auch, dass er sich entscheiden musste. Musste, aber nicht konnte… aber sollte. Es war alles so verzwickt.

 

Holger zeigte nicht, dass ihn die Erwiderung Philipps traf. Vielleicht interpretierte er zu viel hinein, aber er war sich eigentlich schon sehr sicher, dass er nur abwinken wollte. Gerade Philipp war doch der, der alles Positive gerne aufzählte und ihn dazu drängte, nicht den Kopf hängen zu lassen. Wenn er sich den ganzen Tag also nur mit seiner Genesung befasste und sich gar nicht im privaten Bereich bewegte, war das nicht sonderlich förderlich für den gedanklichen Heilungsprozess.

 

Philipp nahm Holgers Hand in seine, küsste sie, wie er zuvor eine. Was sollte er noch dazu sagen? Dass er ihn liebte? Es wäre die Wahrheit, aber es klang verlogen in seinen Ohren.

 

Holger reagierte kaum auf Philipps Liebkosungen, hätte ihn aber gerne heran gezogen, um in seinen Armen liegen zu können. Er kam sich bedürftig vor, so sehr wie er Philipp mittlerweile brauchte. Liebe machte nun mal in gewisser Hinsicht auch etwas abhängig.

Ein gemütlicher Abend ist ja auch nicht schlecht“, antwortete er und hielt dagegen. Welchen Grund Philipp ihm wohl jetzt nennen würde, warum das nicht ging. Allerdings fragte er sich Sekunden später, warum er das gesagt hatte. Er wollte doch nicht hören, dass Philipp wegen Claudia keine Zeit mehr für ihn haben würde.

 

Das lässt sich sicher einrichten“, schmunzelte Philipp. Er glaubte da wirklich dran, aber so ein Abend würde die Hoffnung schüren. Wobei er ihn nutzen konnte, um ihm die Ringe zu geben. Es könnte eine Art Abschiedsabend werden. Vielleicht… er musste gucken, was Holger aushalten würde. Wobei es einfach sein musste. Philipp ermahnte sich selbst, dass er es nicht immer wieder vor sich herschieben würde. Er musste da konsequent sein, egal wie schwer es ihm fallen würde und wie sehr es auch wehtun würde. Ihm und Holger.

 

Holger war überrascht, dass Philipp doch einwilligte. Hatte er sich vielleicht mit den Ringen getäuscht und der Ältere plante gar nicht, sich von ihm zu distanzieren? Doch Holger blieb misstrauisch, wollte sich aber erst mal noch nicht direkt hinein steigern. Philipps Verhalten in der nächsten Zeit via Skype würde es zeigen, auf was er sich einstellen musste.

„Noch ein letzter Kuss, bevor du weg musst?“ Hoffnungsvoll sah der Jüngere den Kapitän an. War der Gedanke denn wirklich so abwegig, dass auch Philipp so viel für ihn empfand, dass er sich für ihn entschied? Er hatte ihn doch bislang noch nie zu etwas gedrängt oder ihn zu einer Entscheidung gezwungen.


„Du bekommst auch gerne zwei.“ Philipp beugte sich vor und küsste Holger ganz sanft und liebevoll. Er löste sich etwas, lächelte ihn an, schaute verliebt in seine Augen und küsste ihn erneut. Dieses Mal deutlich intensiver, aber nicht weniger gefühlvoll.
Es war ja nicht so, dass ihm das alles leicht fallen würde. Er hatte nun mal einfach Gefühle für Holger, starke Gefühle. Er liebte ihn. Aber er liebte auch seine Ehefrau.

 

 

Die Küsse sprachen für den Blonden eine deutliche Sprache, sie zeugten von Liebe. Philipp küsste ihn so hingebungsvoll, dass er die Liebe darin spüren konnte. Der Moment, in dem sie sich intensiv in die Augen schauten, kam ihm endlos vor. Es war nur von zwei Küssen die Rede, aber Holger konnte nicht anders als seine Lippen noch ein letztes Mal für mehrere Wochen einzufangen. Seine Hand wanderte dabei Philipps Arm entlang bis er ganz unten angelangt war und fest seine Hand drückte. Es war so ein tolles Gefühl gewesen, als er den Halt direkt nach dem Aufwachen spüren konnte.
Die Zeit des Abschieds rückte aber unmittelbar näher und so musste sich Philipp wohl oder übel auf dem Weg machen, wenn er sein Flugzeug rechtzeitig erreichen wollte.

 

Holger kam nicht von ihm los und würde Philipp in dem Moment nur auf sein Herz hören und den Kopf ausschalten, würde es ihm auch so gehen. Doch der Kopf war präsent, was vielleicht auch besser so war.
Philipp löste sich von Holger. Er hob ihre Hände an, drückte sie noch mal und küsste dann Holgers Handrücken. „Ich melde mich, wenn ich angekommen bin. Und du machst so lange keinen Mist, ja? Denk dran, Schwester Anna wird mir Bericht erstatten, wenn du unartig bist.“ Neckend zwinkerte er dem Jüngeren zu. Er wollte ihn noch mal ein letztes Mal lächeln sehen. Vermutlich würde er ihn dann doch wieder kurz küssen, aber dann musste er auch los. Sein Taxi wartete vielleicht, aber der Flug sicher nicht.

 

Holger konnte nichts dagegen tun, dass sich seine Mundwinkel nach oben zogen, allerdings war das auch mit Angst verbunden, denn er wusste, dass Schwester Anna Philipp wirklich Bericht erstatten würde, wenn er sich nur schlecht gelaunt zeigte. Er stand tatsächlich unter Beobachtung im positiven aber auch im negativen Sinne. „Und du machst dir nicht zu viele Sorgen, okay?“, erwiderte er und zog ihn am Shirt noch einen Augenblick lang zu sich, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Aber es blieb nicht bei den Lippen, er berührte die Mundwinkel und auch die Wangen, die von ihm liebkost wurden. Dann löste sich der Griff. „Bis bald“, verabschiedete er sich. „Ich liebe dich.“ Die Worte waren leise, kaum mehr als ein Hauchen, aber allein Holgers verliebter Blick in diese tollen, tiefen Augen des Älteren offenbarte schon alles.

 

Mach ich nicht“, versicherte Philipp zwar, log aber dabei. Er würde sich Sorgen machen, wie immer. Sonst wäre er nicht Philipp, aber es wäre irgendwie auch nicht sein Holger, wenn er sich um ihn keine Sorgen machen müsste.
Die Küsse brachten ihn zum Schmunzeln. Und sie ließen sein Herz schneller schlagen. Er spürte, wie die Schmetterlinge durch seinen Bauch flogen. Er war ihm verfallen. Zu sehr verfallen.
„Ich liebe dich auch“, wisperte Philipp. Er löste sich, lächelte Holger ein letztes Mal zu und verschwand dann, sonst würden sie nie voneinander loskommen.

 

Nachdem Philipp schon seit etwa einer Minute lang verschwunden war und Holger nachdenklich vor sich hin gestarrt hatte, griff er zu seinem Smartphone und checkte seine eingegangenen Nachrichten, um sie endlich zu beantworten. Er ließ sich damit immer mehr Zeit, wenn Philipp bei ihm war, weil er die Zeit mit ihm genießen wollte. So als wüsste er bereits tief in seinem Inneren, dass es irgendwann vorbei sein würde.
Langsam war er selbst genervt von seiner negativen Erwartungshaltung, aber was sollte er nach den Ringen auch sonst denken? Dass er ihn heiraten wollte? Bitter lachte der Innenverteidiger auf und versuchte sich dem Beantworten zu widmen. Er war in Versuchung mit Mario darüber zu reden, aber es passte ihm nicht, ihn damit belasten zu müssen. Er hatte ja auch eigene Probleme, die wiederum Holger ablenken konnten. Gezielt schrieb er daher Mario, was es neues gab und wie es ihm in Florenz erging. Das was in den Medien berichtet wurde, glaubte er nicht. Zumindest nicht alles.
Lange hatte er jedoch nicht Zeit auf seinem Handy zu tippen und seine Freunde und Familie zu kontaktieren, denn die Rehaübungen mussten auch erledigt werden.

 

Auf dem Weg nach Manchester kreisten Philipps Gedanken um Holger und die Ringe. Und um Claudia. Er spielte mit dem Gedanken Mario anzurufen, doch was würde der ihm raten? Er hatte dem Stürmer versprochen, dass er Holger nicht verletzten würde, nicht mit ihm spielen würde. Er spielte auch nicht mit ihm, aber er würde ihn verletzen. War es nicht besser, wenn das heute und nicht erst morgen passierte? Philipp wusste es nicht. Er wusste so vieles nicht.

Erschöpft ließ Philipp sich in seinem Sitz zurücksinken, drehte den Kopf zum Fenster und lehnte ihn an die Lehne. Er war richtig müde und hatte seine liebe Not seine Augen noch offen zu halten. Die ganze Fliegerei, der Stress mit Claudia, das Doppelleben, der Fußball... es war alles so viel und Philipp wusste im Nachhinein gar nicht mehr, wie er das alles bewältigt hatte. Nächstes Jahr würde die Weltmeisterschaft beginnen. Eine neue Aufgabe für ihn als Kapitän. Im besten Fall war er dann wieder sechs Wochen unterwegs. Danach musste er für seine Familie und womöglich auch Holger da sein. Im Anschluss kam die Vorbereitung des FC Bayern Münchens für die neue Saison.

Philipp atmete tief durch und rieb sich angestrengt über die Stirn. Es war viel, zu viel. Aber er hatte sich der Situation immer angepasst und neu angenommen, um das alles zu bewältigen. Dennoch musste er zugeben, dass es schlauchte und vor allem das Wissen, dass er auch noch die volle Verantwortung für seine Familie, Holger, den FC Bayern sowie die Fußballnationalmannschaft zu haben. Eine Belastung weniger würde schon reichen.

Philipp blickte träge aus dem Fenster und dachte an die kommende Weltmeisterschaft. Er glaubte wirklich daran, dass sie es schaffen konnten. Wäre das dann nicht der beste Zeitpunkt aufzuhören? Aber was war, wenn sie es nicht schafften? Wäre der Zeitpunkt dann schlechter oder auch in Ordnung? Vielleicht sollte er so eine Entscheidung gar nicht an einen Titel knüpfen, sondern gut überlegt handeln. Schließlich konnte es sein, dass er irgendwann den ganzen Anforderungen nicht mehr gewachsen war. Er wurde leider auch nicht jünger. Und den Zeitpunkt seines Karriereendes wollte er schon immer gerne selbst bestimmen. Philipps Gedanken drehten sich um die Zukunft, bis ihn irgendwann doch ein starker Schlaf übermannte und ihn bis zur Landung durchschlafen ließ.

 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Engel (Donnerstag, 21 Januar 2016 12:39)

    Hey :)
    Meine Sympathien für Philipp fallen ins Bodenlose^^
    Er betrügt willentlich alle beide und schiebt aus reiner Bequemlichkeit die Wahrheit vor sich her. Entschieden hat er sich momentan ja und zwar, dass er seine Familie nicht für Holger verlassen wird. Warum hält er den Jüngeren dann hin?
    Mir wäre ja am liebsten, dass Holger jemand anderen findet ;)
    Langsam finde ich nämlich, dass Philipp ihn nicht verdient hat. Und dem wünsche ich den bösesten Liebeskummer der Welt ;)

  • #2

    Mailiw Alba (Mittwoch, 03 Februar 2016 22:09)

    Hach

    So negativ.. so depressiv.. nicht meine Richtung momentan xD Aber gut geschrieben und Holger will ich hauen, ne ned wirklich. Aber schreibt mal schön weiter ;)