Kapitel 67 – Offensive trifft auf Defensive



„Glaubst du, du kannst jetzt schlafen?“
Vielleicht tat ihm die körperliche Nähe oder eher Wärme auch gut. Oder es war einfach die Tatsache, dass er nicht alleine war. Auf jeden Fall war es Philipp wichtig, dass es Holger einigermaßen gut ging. Und wenn das der Fall war, wenn der Kapitän ihm Halt und Sicherheit gab, dann würde er das tun. Dafür waren Freunde immerhin da.


Holger sah fragend auf, als Philipp noch näher rutschte. Er hatte selbstverständlich nichts dagegen einzuwenden, aber er fragte sich, wozu er das machte. Erst als sich der Arm um ihn legte, verstand er den Grund. Er war dankbar dafür, so wie er Philipp für alles dankte. Für seine Geduld, sein Verständnis und vor allem für seine Freundschaft, die er schon durch seine Laune oft auf eine harte Probe stellte.
„Weiß nicht“, hauchte er und kuschelte sich wieder an Philipp. „Bleibst du denn auch noch wach?“, fragte er hoffnungsvoll nach. Philipp konnte bestimmt schlafen und war müde vom ganzen Tag, aber Holger wäre es fast lieber, wenn er auch noch wach bleiben würde. Für ihn.


„Ich versuche wach zu bleiben“, versprach Philipp ihm. Müde war er zwar noch nicht, aber er konnte sich vorstellen, dass er gut einschlafen konnte, so wie sie hier lagen. Da konnte er lediglich versuchen wach zu bleiben. Vor allem, wenn sie sich nicht groß unterhielten.
„Aber versuch zu schlafen, das wird dir sicher gut tun“, war er zuversichtlich. „Wenn dein Körper zur Ruhe kommt, hören gewiss auch die Krämpfe auf.“ Zumindest klang es in seinen Ohren logisch.


Holger nickte leicht und schloss langsam seine Augen. Das was Philipp da sagte, klang ganz plausibel. Wenn er morgen aufwachte, war es bestimmt vorbei mit den Krämpfen. Ihn war glücklicherweise nun auch angenehm warm und diesen Erfolg schrieb er nicht nur der Wärmflasche zu, denn auch Philipps Hand hatte sein Zutun.


Es vergingen einige Minuten, in denen nur das leise Ticken der Uhr zu hören war, was Holger zwar störte, aber es zu ignorieren versuchte. Ob Philipp wohl schon schlief?
Holger wagte es nicht sich zu bewegen und entschied sich, sich weiterhin ruhig zu verhalten. Auch, weil er Philipp keine Sorgen bereiten wollte. Also versuchte er endlich einzuschlafen, was nach einer halben Stunde auch zu gelingen schien. Regelmäßig hob und senkte sich seine Brust, seinen Mund hatte er leicht offen, um leise durch diesen atmen zu können.


Erst als Philipp glaubte, dass Holger wirklich schlief, fand auch er seine Ruhe und sank ins Reich der Träume. Und er träumte wirklich etwas. Er besiegte Holger an der Playstation. Zwar verrückter Weise in „Need for Speed“, aber das war ihm egal. Er jubelte, während der Innenverteidiger fassungslos den Kopf schüttelte.
Der Traum zauberte ihm sogar ein leichtes Lächeln auf die Lippen und sorgte dafür, dass er wirklich ruhig und vor allem auch gut schlief. Den Arm nahm er selbst im Schlaf nicht von Holger weg. Fast als würde sein Unterbewusstsein wissen, dass es so sein musste und er sich nicht rühren sollte.



Holger war erstaunt, als er am nächsten Morgen blinzelnd die Augen öffnete und er irgendetwas Rotes vor sich erkannte. War das sein Shirt? Irritiert drehte er seinen Kopf etwas und schlagartig fiel ihm alles wieder ein. Philipp schlief seelenruhig bei ihm und hatte auch noch immer seinen Arm um ihn gelegt, was dem Innenverteidiger sofort ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Es war ein tolles Aufwachen, sogar seine Magenkrämpfe waren verschwunden. Nur die Peinlichkeit in Form der Häschenwärmflasche blieb, die jetzt kühlte, anstatt ihn zu wärmen. Er schob sie etwas von sich weg und stützte einen Arm auf der Matratze ab, um etwas höher als der Kapitän zu sein, den er liebevoll musterte. Immer noch hielt er seine Hand und schien sich die ganze Nacht über gar nicht bewegt zu haben. Oder er war lange wach und achtete darauf, dass er sich nicht bewegte. So fürsorglich wie Philipp war, erschien Holger sogar das als realistisch.
Vorsichtig löste er die Hand, die er letzte Nacht ergriff und begann kaum merklich über die Wange des Älteren zu streichen. „Danke, dass du da warst“, wisperte er lächelnd. Es fühlte sich gut an, dass er Philipp nicht egal war.
Wenn man ihn fragte, brauchte Holger gar keine Wärmflasche, selbst wenn sich Kälte bei ihm einschleichen würde, denn sein stark pochendes Herz in seiner Brust erwärmte ihn schon. Es war wie die letzte Nacht, die sie gemeinsam verbrachten. Er konnte dem Verlangen nicht widerstehen ihn zu berühren und diesesmal war eben jenes Gefühl noch stärker. Holger wollte Philipp küssen. Und allem Anschein nach fasste er auch den Mut dazu. „Dass du da bist“, korrigierte er seine letzte Aussage hauchend, ehe er seine Lippen auf Philipps legte. Zu diesem Zeitpunkt gab es kein Zurück mehr. Sanft bewegte er seinen Mund gegen ihn und schloss genießerisch die Augen. Das fühlte sich so verboten gut an...


Die kaum spürbare Berührung an der Wange, holte ihn aus seinem tiefen Schlaf und die Lippen, die plötzlich seine berührten, rissen ihn dann endgültig zurück in das Hier und Jetzt. Erschrocken schlug er die Augen auf und erkannte Holger vor sich, der ihn küsste. Das war kein Versehen, er bewegte richtig die Lippen gegen seine.
Von Null auf Hundert beschleunigte Philipps Herzschlag. Er konnte das gerade nicht einordnen. Aus einem Reflex heraus stemmte er beide Hände gegen Holgers Brust und drückte ihn abrupt von sich weg. Seine Entgeisterung musste man ihm förmlich ansehen. Er bekam nicht mal einen Ton raus, sondern starrte sein Gegenüber einfach nur an. Was sollte das denn jetzt? Automatisch dachte er wieder an den Kuss in Vail und fragte sich, ob das wirklich nur ein Versehen war oder ob Absicht dahinter gesteckt hat.


Der Druck gegen seine Brust ließ Holger die Augen aufschlagen und in Philipps entgeistertes Gesicht blicken. Es schmerzte. Nicht nur das Wegstoßen, auch sein Blick traf Holger mitten ins Herz.

Er sah ihm an, dass er Fragen hatte. Fragen, was das sollte und was er sich dabei gedacht hatte ihn zu küssen. Die Wahrheit würde Holger ihm nicht mitteilen, dazu verflog sein Mut wieder zu schnell. Es war gar nichts mehr übrig von eben jenen Mut, der ihn zu dieser Tat leitete.

„I-ich...a-also“, stammelte er und wandte seinen Blick ab. Schluckte schwer, als er auf die Bettdecke schaute. Zögerlich sah er auf wieder auf und fing an Philipps Mimik anders zu interpretieren. War sie nicht auch von Verständnislosigkeit geprägt? Dieses Verständnis, für das er Philipp so schätzte, wandelte sich in das bittere Gegenteil. Und das nur, weil er auf sein Herz hörte und nicht auf seinen Kopf.


„T-tut mir L-leid, d-das... ich war n-noch g-gar nicht richtig w-wach“, stotterte er unbeholfen herum, versuchte sich zu erklären.


„Gestern, a-also das w-war alles s-so v-viel.“ Er wollte noch hinzufügen, dass er erst ganz spät eingeschlafen, dementsprechend müde und nicht Herr seiner Taten war. Aber er brachte keinen Ton mehr heraus, sondern hoffte nur, dass kein großes Donnerwetter folgte.


Mit diesem Stottern konnte Philipp nichts anfangen. Zeigte es nicht nur, dass Holger die Wahrheit verschweigen wollte? Irgendwie kaufte er ihm nicht ab, dass er noch nicht richtig wach gewesen war. Ihn beschlich aber das Gefühl, dass er nie herausfinden würde, was Holger dazu veranlasst hatte, ihn im Schlaf zu küssen. Im Schlaf! Traute er sich nicht, wenn er wach war? Irgendwie wusste Philipp nicht, was schlimmer gewesen wäre.
Er sah Holger noch einen Moment an, ehe er sich auf die andere Seite drehte und sich auf die Bettkante setzte. Auch dort saß er kurz regungslos, überlegte, ob das wirklich das Beste war einfach zu fahren und entschied sich dafür.


Philipps Schweigen erschwerte Holger die ganze Situation nur noch. Aber er wollte ihn auch nicht zwingen etwas zu sagen. Alle Worte, die er den Kapitän jetzt zutrauen würde, gefielen dem Blonden nicht, deshalb war vielleicht sogar Schweigen die bessere Alternative.


Während Philipp sich anzog, drängte sich eine andere Frage in den Vordergrund. „Geht es dir denn wieder besser?“ Das musste er einfach wissen, damit er ruhigen Gewissens fahren konnte. Kuss hin oder her.



Er beobachtete, wie er sich auf die Bettkante setzte. Holger nickte stumm, ehe er bemerkte, dass Philipp das gar nicht sehen konnte.
„Ja“, antwortete er einsilbig. Er wusste nicht, wie er diese Frage einzuordnen hatte. Holger suchte den Vorwurf in der Aussage, aber fand ihn nicht. Philipps Stimme klang ganz neutral, als ob es den Kuss gerade eben gar nicht gegeben hätte. Und doch lag da etwas zwischen ihnen, was sie dazu zwang so verklemmt miteinander umzugehen. Holger senkte den Blick und seine Gedanken rasten. Philipp würde den Grund für den Kuss verstehen, wenn er die Wahrheit kannte. Aber die konnte er nicht sagen, aus Angst er würde den Kapitän verlieren. Der Ältere würde ihn meiden, dessen war sich der Innenverteidiger sicher.


Wirklich begeistert klang Holger ja nicht über die Tatsache, dass es ihm wieder besser ging. Aber das war wohl gerade einfach auch nicht wichtig. Es war nebensächlich geworden. Zumindest für Holger. Für Philipp aber auch irgendwie. Er war froh, dass es so war, aber damit war auch gut.


„S-sei bitte nicht sauer“, hauchte er und stellte bewusst nicht die Frage, ob er denn überhaupt sauer wäre.


Sauer? War er sauer? Nein. Philipp wusste gar nicht, was er war. Er war weder sauer, noch glücklich oder sonst was. Er war lediglich verwirrt.
„Ich bin nicht sauer“, antwortete er also wahrheitsgemäß. Die Hose hatte er schon an und als er sich sein Shirt überzog, drehte er sich wieder zu Holger um, lächelte leicht, aber es wirkte irgendwie gezwungen.


Eigentlich hatte sich Holger erhofft die Situation ein wenig angenehmer zu gestalten, sobald er erfahren würde, dass Philipp nicht sauer war. Aber es brachte gar nichts. Egal ob sauer oder nicht, die Tatsache, dass er ihn offensiv küsste, ließ sich ausblenden.


„Aber ich sollte jetzt fahren. Dir geht es ja besser also habe ich keinen Grund mehr hier zu bleiben.“

Trotzdem rührte er sich nicht. Es war fast so als würde er auf eine Bestätigung von Holger warten. Oder gab er ihm noch mal die Möglichkeit sich zu erklären? Wollte Philipp überhaupt eine Erklärung haben? Er war sich da gar nicht mehr so sicher.


Noch gemeiner hätte es Philipp nicht ausdrücken können. Zwang sich der Kapitän also nur Zeit mit ihm zu verbringen, um sein schlechtes Gewissen, weil es ihm schlecht ging, zu beruhigen?
„Stimmt“, bestätigte Holger, versuchte seine Enttäuschung darüber zu verbergen und schaute den Kapitän dabei nicht an. „Gibt wirklich keinen Grund mehr.“

Holger würden tausend Gründe einfallen, warum Philipp hier bleiben sollte, aber er nannte keinen einzigen. Zu verletzt war er durch die Aussage des Kapitäns. Was hatte er sich auch erhofft? Dass er den Kuss genauso erwiderte wie damals in Vail? Ja, eigentlich wünschte er sich genau das. Dass es in pure Ablehnung endete, hätte er zwar erahnten können, aber seine Naivität positiv zu denken, hatte sich mal wieder gehörig täuschen lassen.


Ihm gefiel diese Stimmung zwischen ihnen gerade überhaupt nicht, aber Philipp wusste auch nicht wirklich damit umzugehen. Er wusste gerade aber gar nichts, deswegen wunderte ihn das weniger. Am liebsten würde er sofort zu Bastian fahren und mit ihm reden, aber… das ging nicht. Vor allem müsste er zu viel erzählen. Zu viel, was er nicht wollte und nicht konnte.
Provisorisch faltete er das T-Shirt und legte es aufs Bett. Für einen Moment starrte er sich daran fest, ehe er sich doch losriss und ums Bett herum ging.


„Komm gut nach Hause“, sagte er betont gleichgültig und schwang sich aus dem Bett, damit er nun, wie Philipp es gerade vorzeigte, mit dem Rücken zu ihm saß. "Danke, dass du da warst." Wieder betont distanziert, obwohl es Holger unglaublich viel bedeutete, dass Philipp mit ihm die Magenkrämpfe durchstand. Es war besser ihn jetzt nicht ansehen zu müssen, es hätte nur seine wahren Gefühle offenbart.


„Du weißt, dass ich gerne hier bin“, merkte er an, seine Hand zuckte kurz, er wollte sie ausstrecken, Holger durch die Haare fahren, ließ es aber im letzten Moment bleiben.


Philipp schien bemerkt zu haben, dass sein Satz ihn traf und revidierte eben jene Aussage, auch wenn Holger nicht aufsah. Er wollte nicht in sein Gesicht blicken und schon gar nicht, wollte er über diesen Kuss reden, für den es keine Rechtfertigung gab. Zumindest keine, die man Philipp auftischen konnte ohne seine Fassung gänzlich zu verlieren.


„Und du weißt, dass du anrufen kannst, wenn was ist. Also… wir sehen uns.“ Die Frage war nur wann? Als Philipp das Schlafzimmer verließ, hatte er das ungute Gefühl, dass beide erwarten würden, dass sich der anderen melden würde und schließlich würde es niemand tun.


Sein Angebot ließ er unkommentiert. Der Kapitän wusste ganz genau, dass Holger nicht anrufen würde, selbst wenn die Magenkrämpfe zurückkommen würde und er sich vor Schmerzen auf den Boden krümmen musste. Falscher Stolz hin oder her, er hatte ihn geküsst und schaffte es einfach nicht ihm gegenüber zu treten. Nicht in dem Wissen, dass er ihn zurückstieß.


Philipp schlüpfte in seine Schuhe, griff den Schlüssel und verließ Holgers Wohnung ohne noch mal nach ihm zu sehen. Philipp konnte gerade aber auch nicht anders. Dieser Kuss wühlte ihn zu sehr auf. Er verstand es einfach nicht.


Holger hörte bloß mehr die Schritte und dann das Schließen seiner Wohnungstür. Weg war er. Obwohl er sich gestern mit körperlichen Schmerzen quälen musste, war der gestrige Abend wunderschön und besonders. Aber anscheinend nur für ihn. Verzweifelt vergrub er sein Gesicht in den Händen, rieb sich über die Stirn und die Schläfen und drehte sich dann wieder zur anderen Bettseite. Philipp hatte hier gestern den Arm um ihn gelegt und ihn behütet. Egal wie sehr er sich auch bemühte keine warmen Gefühlen aufkommen zu lassen, gelang es dem Innenverteidiger nicht. Warum verliebte er sich nur in den Kapitän? War der Kreuzbandriss nicht schon schwer genug? Nein, das genügte nicht, da brauchte es noch die Gefühle für Philipp. Für den verheirateten Philipp.


Schneller als es ihm eigentlich lieb war, stieg er in den Wagen, fuhr nach Hause und stellte sich dort erst mal unter die heiße Dusche. Das brauchte er gerade und irgendwie hatte er die irrsinnige Hoffnung dort die Antworten auf seine Fragen zu finden. Natürlich war diese Hoffnung vergebens. Wäre ja auch zu schön gewesen.



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