Kapitel 163 - Als ein Schrecken ohne Ende

 

 

Bei der Erwähnung seiner Familie fühlte der Innenverteidiger einen stechenden Schmerz. Entschied er nur so, weil es normal war, bei seiner Familie zu bleiben? Philipp war in der Regel ein geradliniger und womöglich auch altmodischer Familienmensch. Aber wenn das der einzige Grund war, warum er zu seiner Familie ging, war das traurig. Immer hatte er gepredigt, dass er nicht alles in sich hinein fressen sollte, dass er Gefühle und Schwäche zeigen durfte. Und was tat Philipp? Seine Gefühle verdrängte er, um seinem Kopf zu folgen. Oder reimte er sich das nur in seinem Wunschdenken zusammen? Wahrscheinlich. Und das alles nur, weil er ihn nicht verlieren wollte. Nicht an Claudia und auch nicht an Julian, denn Holger war eifersüchtiger denn je.
„Damit kommst du jetzt?“, schnaubte Holger, strafte den weinenden Philipp mit einem kalten Blick. Er hatte es satt ihn ansehen zu müssen. Die Lippen, die er nicht mehr küssen durfte, die tiefen Augen, in denen er nicht mehr versinken sollte und seine Hände, die ihn nicht wieder halten würden. Vielleicht irgendwann mal in einem Spiel beim Abklatschen, aber mehr auch nicht. Mit hektischen Bewegungen hob er seine Krücken auf und startete einen zweiten Versuch aufzustehen. Es gelang. So konnte er flüchten vor dem Anblick des Älteren, den er nicht mehr ertragen konnte. Warum weinte Philipp, wenn er es doch beenden wollte? Weinte er, weil er jetzt nicht mehr zweimal Spaß haben konnte? Es war ein gemeiner Gedanke, denn Holger wusste ganz genau, dass es dem Älteren nie um so etwas gegangen war. Alle Zärtlichkeiten zwischen ihnen waren aus voller Liebe geschehen und nicht weil einer von ihnen einfach so Bock darauf hatte, intim zu werden.

 

Philipp hatte zwar nur seine Shorts an, aber das war nicht der Grund, warum ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Er hatte diesen Blick verdient, konnte ihm aber nicht standhalten, schaute zu Boden. So hörte er und sah es nur im Augenwinkel, dass Holger nun doch aufstand und sich von ihm entfernte. Er könnte es vermutlich auch nicht ertragen sich selbst zu sehen. Er würde sich auch hassen und tat es eigentlich ja auch irgendwie.
Philipp rechnete damit, dass Holger kein Wort mehr mit ihm wechseln würde. Es sei denn, er würde ihn rauschmeißen, was sein gutes Recht war. Es war mehr als verständlich. Er würde sich auch nicht hierhaben wollen.


„Weißt du, was mich gerade am meisten stört“, fing er an. „Dass ich immer noch will, dass du glücklich bist und ich dich viel zu sehr liebe, als mich wie eine typische abservierte Affäre zu benehmen.“ Es war klar was er meinte. Er könnte es jederzeit Claudia erzählen, aber er würde es nie tun. Nie könnte der Groll so groß werden, dass er Philipp sein Lächeln aus dem Gesicht wischen wollte. Es reichte, wenn er es selbst verloren hatte.

 

Philipp verstand, was er damit meinte und sah doch wieder auf. Den Ansatz eines Lächelns erkannte man auf seinen Lippen. Es war ein trauriges, aber dankbares. Der Kapitän wusste das wirklich zu schätzen. Holger hätte auch anders handeln können, aber er schützte ihn trotz allem.


„Du hast so lange gewartet, es zu beenden, bis es meinem Knie besser geht, oder? Wäre bei der Operation etwas schief gelaufen, dann...“ Er beendete seinen Satz nicht, denn die Traurigkeit übermannte ihn stärker. War das alles nur noch Mitleid gewesen? Schließlich hatte Philipp gestanden, dass er schon lange überlegt hat, wann und wie er es ihm sagen sollte. Von den Ringen hatte er auch erst nach der geglückten OP erfahren. Bestimmt hätte er sie gar nicht erst gekauft, wenn seine Operation schief gelaufen wäre.

 

Das ist nicht wahr!“ Philipp sprang auf. „Holger, so ist das nicht…“ Nicht direkt. Also schon ein bisschen, aber… das klang so böse, wie er das formulierte.

 

Nicht?“, folgte Holgers prompte Antwort auf Philipps Reaktion und fixierte ihn funkelnd mit seinen blauen Augen. „Wie denn dann?“

 

Eigentlich hatte Holger Recht. Es klang wirklich so, als wäre er nur wegen der Verletzung mit ihm zusammen gewesen, überhaupt erst zusammengekommen. Aber das war nicht die Wahrheit. Er liebte diesen Kerl. Zu sehr vermutlich…

 

Wenn du mich liebst...“ Holgers Gedanken drehten sich im Kreis. Er wollte nicht betteln und ihn anflehen, aber trotzdem tat er es. „Philipp bitte... ich brauche dich.“ Liebe war so geistesgestört. Er war verletzt, sauer und wütend auf ihn und doch liebte er ihn und flehte ihn an, es nicht zu beenden. Und das obwohl er selbst im Unterbewusstsein schon wusste, dass es vorbei war und Philipp nicht mehr umzustimmen war.


Der ehemalige Nationalspieler presste die Lippen aufeinander. Erneute verließen Tränen seine Augen. Ganz langsam schüttelte er den Kopf, ehe es energischer wurde. „Ich liebe dich, Holger… und ich kenne dich.“ Er brach ab, holte tief Luft und setzte zu einem neuen Satz an. Seine Stimme war entschlossener. „Und weil ich dich kenne, weiß ich, dass du mich nicht brauchst. Nicht mehr. Du bist stark, Holger. Du kannst. Du willst wieder spielen und du willst zurückkommen und das wirst du. Dein Wille wird dich weiterbringen.“
Woher er plötzlich diese Kraft nahm, wusste er nicht, aber er wusste, dass es sein musste. Er durfte jetzt nicht einbrechen. Philipp musste stark sein für Holger und durfte vor allem nicht nachgeben. Wenn er das jetzt nicht beendete, wann dann? Es musste irgendwann vorbei sein und Holger musste nach Donaustauf gehen. Auch, wenn Philipp ihn nicht verlassen und nicht verletzten wollte. Es ging nicht anders.
Er griff nach seinem T-Shirt und zog es sich über. Es war sicher besser, wenn er jetzt ging.

 

Die Frage benötigte keine Erklärung. Philipp offenbarte ihm nämlich genau das, was er sich die ganze Zeit über gedacht hatte. Und diese bittere Erkenntnis schmerzte noch mehr als die Trennung wegen seiner Familie und die Tatsache, für ihn nur an zweiter Stelle zu stehen. Er war nicht nur eine Affäre für den Kapitän, nein, er war sein Pechvogel, den er mit einer Beziehung wieder aufbauen wollte. Auch wenn der Ältere ihm das Gegenteil versicherte, brachten seine Aussagen die volle Wahrheit für Holger ans Licht, die er nicht mehr abstreiten konnte. Diese Worte würde er nie zurücknehmen können. „Wenn es nicht wegen meinem Knie ist, warum redest du dann nur davon, dass ich zurückkomme?“ Holgers Blick wurde überheblicher, denn Philipp hatte sich selbst verraten und kränkte den Innenverteidiger damit nur noch weiter. Aber wenigstens hatte er nun die Gewissheit, auch wenn sie ihn quälte. Obwohl man den Blick und die Überheblichkeit eher mit einem Sieg verband, hatte Holger nur eine schmerzhafte Erkenntnis hinzugewonnen. Ungläubig lachte er auf. „Ich glaub das einfach nicht.“ Holger lehnte sich mit dem Rücken an den Schrank, legte den Kopf zurück und atmete tief durch, um die Fassung zu wahren. „Ich habe angefangen Gefühle für dich zu entwickeln, als ich an der Meisterfeier noch geglaubt habe, bald wieder mit euch auf dem Platz zu stehen. Mit meinem Knie hatte das gar nichts zu tun, nur dass die Gefühle und die Dankbarkeit stärker wurden, weil du auch in der schweren Zeit für mich da warst. Und dir ging es immer nur um die Verletzung, deshalb redest du mir jetzt auch ein, dass ich dich nicht mehr brauche. Ich brauche dich nicht wegen meiner verdammten Verletzung, sondern weil ich dich liebe und mich nach dir sehne!“ Wusste Philipp welch erdrückendes Gefühl es war, dass er seine Nähe nur seinen kaputten Beinen zu verdanken hatte? Vermutlich nicht, denn sonst hätte er es nie soweit kommen lassen.

 

Glaubst du wirklich, dass ich dir das alles nur vorgespielt habe, weil dein Knie kaputt ist? Denkst du das von mir? Holger, dann kennst du mich aber schlecht. Meine Gefühle waren und sind auch immer noch aufrichtig. Die haben nichts mit deiner Verletzung zu tun. Aber ich… ich kann so nicht weiter machen.“

 

In Holgers Augen hatte Philipp im Moment nicht das Recht dazu, den Spieß umzudrehen und ihm zu unterstellen, er würde ihn schlecht kennen. Wobei der Ältere etwas Wahres sagte. Er kannte ihn nicht, absolut nicht. Denn er hätte ihm dieses Verhalten nicht zugetraut. Nicht nach ihrer gemeinsamen Nacht, nicht nachdem es so schön geworden war und er nach langer Zeit endlich wieder in München war.
„Vermutlich kenne ich dich wirklich nicht“, erwiderte er bloß und schluckte alle bösen, verräterischen Worte hinunter, die er Philipp gerne aus Frustration um die Ohren gehauen hätte.

 

Er hinterfragte erst gar nicht, wieso Philipp trotz der anfänglichen Tränen plötzlich wieder so entschlossen und stark klang, aber das interessierte ihn auch nicht mehr. „Verschwinde. Hau einfach ab, ich kann dein Gesicht nicht mehr ertragen.“ Wie ungerecht es doch war, dass der Kapitän sich jetzt ein schönes Leben ohne ihn mit seiner Familie machte. Warum hätte er ihn nicht gleich in Trentino abweisen können? Warum hatte er es erst so weit kommen lassen? Nie wieder sollte er sagen, dass er ihn liebte, wenn er damit nur sein Verletzungspech meinte. Holger strengte sich noch immer an seine Haltung zu bewahren, doch alles in ihm zerbrach. Seine Tränen, die über seine Wangen rollten, logen nicht.

 

Philipp schluckte seine eigenen Tränen hinunter, aber es fiel ihm immer schwerer, als er die von Holger sah. Es gab allerdings kein Zurück. Er musste das durchziehen. Für sie beide.

 

Geh endlich!“, schrie er und doch war es kein Schreien im eigentlichen Sinne. Holger verkrampfte in seiner Haltung und wollte nun endlich allein sein. Seine Schwäche offen ausleben, um das Philipp einst gebeten hatte. So hatte er sich weiter sein Mitleid erarbeitet. „Hast du eine Ahnung, wie es sich anfühlt zu wissen, dass du ständig nur darauf gewartet hast, bis ich wieder fit bin, damit du sagen kannst, dass ich dich nicht mehr brauche?“ Sein Schluchzen verbarg er, drehte seinen Kopf weg und blickte stur zur Tür. Nein, er wollte eigentlich keine Antwort. Entweder sie würde ihn weiter verletzen oder Philipp würde ihn weiter anlügen. Auf beides konnte er verzichten.

 

Der Ältere zog sich seine Hose an. Dazu noch Socken. Philipp griff nach seiner Tasche, wandte sich zur Tür, drehte sich aber doch noch mal um und schaute Holger an. Der Drang ihn zu küssen, war enorm hoch. Sein Körper sehnte sich nach ihm. Sein Körper und sein Herz.
„Ich hoffe, du verstehst, dass es mir nicht darum ging. Ich wusste, dass ich diesen Schritt gehen muss, aber ich wusste nicht wann und wie. Das hier fällt mir auch nicht leicht…“ Seine Stimme brach, aber er fang sich. „Aber du wolltest wegen mir hier bleiben und in Donaustauf werden sie sich besser um dich kümmern können. Also geh dahin, Holger. Ruf Müwo an und sag, du hast deine Meinung geändert. Denk an dich.“

 

Holger hörte hinter sich Geräusche, glaubte zu wissen, dass der Kapitän sich anzog, damit er endlich abhauen konnte. Holger war bewusst, dass es das letzte Mal war, dass er in seinem Schlafzimmer war. Und auch in seiner Wohnung, denn hier hatte Philipp nichts mehr verloren. Obwohl der Innenverteidiger unglaublich wütend und sauer war, wünschte er sich dennoch so sehr, dass das nicht das Ende war.

 

Dann wandte Philipp sich ab und ging zur Tür. Dort hielt er erneut kurz inne. „Ich habe dich aufrichtig geliebt und tue es immer noch. Vergiss das nicht.“ Dann verschwand er. Im Flur zog er sich noch schnell die Schuhe und die Jacke an, dann verschwand er. Die Tür fiel laut ins Schloss, so dass Holger hören musste, dass er weg war.

 

Da Philipp an ihm vorbei ging und sich nochmal umdrehte, bekam er den direkten Blick in sein Gesicht ab. Wieder verspürte er das Bedürfnis den Kapitän mit Beschimpfungen zu überhäufen und ihm zum Bleiben zu überreden. Es änderte auch alles nichts, dass Holger sich ausgenutzt fühlte. Er hätte von Anfang an, an seine Familie denken sollen. Denken müssen. Aber auch an Holger, von dem er wusste, wie sehr er ihn liebte. Auch der Ältere betonte erneut, ihn aufrichtig zu lieben. Das Gefühl war toll und gleichzeitig schmerzte es, dies zu hören. Offenbar war seine Liebe nicht stark genug, um das Doppelleben weiter mitzumachen. Dabei war Holger doch derjenige, der darunter am meisten zu leiden hatte, weil er Claudia als offizielle Partnerin akzeptieren musste. Holger starrte Philipp nur an, sprach kein Wort mehr, sondern kämpfte mit sich und seinem Verlangen.


Philipp eilte zum Auto, stieg ein und fuhr weg. Irgendwohin. Egal wo. Irgendwann blieb er stehen, es war eine verlassene Gegend, aber das war auch gut so. Der Motor verstummte und er selbst schluchzte auf. Das tat alles so verdammt weh. Sein Herz schmerzte, die Kehle war wie zugeschnürt und er fühlte sich elend. Er hatte Holger verletzt. Er hatte ihm das Herz gebrochen. Das, war er nie wollte, aber von dem er gewusst hatte, dass es unvermeidbar war, war eingetreten.

Scheiße“, kraftlos schlug er auf das Lenkrad. Philipp fühlte sich so hilflos und er kam sich so unglaublich schlecht vor. Aber es konnte es nicht ändern. Er konnte nur hier sitzen und heulen. Und hoffen, dass Holgers Schmerz bald verging.

 

Die Wohnungstür schlug laut zu, was für Holger das Startsignal war, seine Fassade fallen zu lassen und kraftlos auf dem Boden zu sinken. Die Krücken landeten irgendwo neben ihm, während er mit dem Rücken am Schrank lehnte und sein Gesicht hinter den Händen verbarg. Durch das rasante Sinken zickte sein Knie, aber das war nicht zu vergleichen mit den Schmerzen, die er in seinem Inneren spürte. Das unterdrückte Schluchzen und all die zurückgehaltenen Tränen drängten an die Oberfläche und machten Holger zu einem hilflosen Häufchen Elend, das verzweifelt auf dem Boden kauerte. Er wollte nicht, aber er konnte nicht anders, als seine Tränen zuzulassen. Warum das alles? Warum geriet alles aus dem Ruder seit seiner Verletzung? Wie alles wohl geworden wäre, wenn er sich nie das Kreuzband gerissen hätte?
Holger machte sich über so vieles Gedanken und doch konnte er nach einer halben Stunde, in der er weinend auf dem Boden verweilt hatte, nicht mehr genau sagen, was er sich alles durch den Kopf gehen ließ.
Irgendwann fiel sein Blick auf sein Handy, das auf dem Nachttisch lag. Seine Augen waren stark gerötet, der Mund trocken und der Körper kraftlos. Er erinnerte sich an Philipps Worte, dass er nach Donaustauf sollte. Eigentlich wollte er nicht, aber die Trennung veränderte alles. Er wollte dem Älteren am besten gar nicht mehr begegnen, weswegen Donaustauf die perfekte Fluchtmöglichkeit bot. Zumindest eine Zeit lang, die er dort verbringen musste. Holger räusperte sich und rappelte sich schwerfällig auf, um sich auf das Bett zu setzen und das Handy an sich zu nehmen. Er verbot es sich einen Nachrichtenverlauf mit Philipp aufzurufen, es würde nur noch mehr wehtun, sich in Erinnerung zu rufen, wie sehr er ihn verletzt hatte.
Hastig suchte er daher lediglich Müwos Nummer aus seinen Kontakten heraus, um ihn anzurufen und ihm mitzuteilen, dass er heute später an die Säbener Straße kam und dass er seine Meinung geändert hatte. Das kurze Gespräch verlief seltsam, da Holger dem Vereinsarzt keinen triftigen Grund nennen konnte, warum er nun doch nach Donaustauf gehen wollte. Dennoch schien Müwo froh zu sein, dass er sich doch umentschieden hat. Wahrscheinlich waren alle in seiner Umgebung froh, dass er weg ging, nur Holger selbst war unglücklich. Er konnte sich gar nicht darauf konzentrieren seinen Koffer zu packen, denn immer wieder glitt der Blick auf das Bild von Philipp und ihm. Es war eine Qual es ansehen zu müssen, genauso wie er auch Philipps Gesicht nicht mehr ertragen konnte. Kurzerhand nahm er den Bilderrahmen und warf ihn im Wohnzimmer in den Mülleimer. Für ihn hatte das Bild keine Bedeutung und keine Aussagekraft mehr. Philipp war nicht mehr da und hatte sich nun endgültig für seine Familie entschieden. Noch niemand hatte Holger jemals so verletzt wie der Kapitän es vor einer knappen Stunde getan hatte.

 

 

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