Kapitel 60 - Traute Zweisamkeit



Der kleine Kapitän spürte deutlich die Berührung an seiner Wange, die ein Kuss sein musste, aber die Trägheit in seinem Körper verbot ihm sich zu rühren und darauf zu reagieren. Quasi im Halbschlaf hoben sich leicht seine Mundwinkel an, ehe er wieder ins Reich der Träume abdriftete. Er war gerade einfach nur froh und erleichtert, sonst hätte er niemals so tief und zufrieden schlafen können. Womöglich hätte es anders ausgesehen, wenn Holgers Ansicht sich nicht geändert hätte. Aber was brachten Spekulationen? Gerade konnte Philipp eh nicht darüber nachdenken. Gerade wollte er sich ausruhen und Schlaf nachholen. Hier bei Holger, bei dem er sich gerade wirklich wohlfühlte.

Noch bevor sich Holger seiner Tat bewusst wurde, glaubte er ein Lächeln auf Philipps Gesicht erkennen zu können. Ganz toll, vermutlich dachte er an seine blöde Ehefrau und nicht an ihn. Was hatte er sich auch davon versprochen? Dass Philipp die Augen aufschlug und ihn zurück küsste? Ja, eigentlich hatte er sich genau das vorgestellt.
Leise, und um den Kapitän nicht zu wecken, legte er sich wieder hin und bettete den Kopf auf Philipps Brust. Es war seltsam, wie er hier lag. Vor allem wenn man bedachte, dass das eigentlich Claudias Platz war und nicht Holgers.
Auch wenn er sich an Philipps Seite mehr als wohl fühlte, schaffte er es nicht einzuschlafen. Zu aufgewühlt war er von all den neuen Eindrücken, die wie ein Regenschauer auf ihn nieder prasselten.

Irgendwann erwachte Philipp. Er wusste nicht mal warum, vielleicht reichte der Schlaf einfach. Er wusste es nicht, aber es war eigentlich auch egal. Fakt war, dass er sich erst kurz orientieren musste, wo er war, allerdings erkannte er sofort Holger, der mit seinem Kopf auf ihm lag. Sofort kamen die Erinnerungen und das selige Lächeln auf seinen Lippen zurück.
Philipp erkannte gar nicht, ob Holger wach war oder nicht. Er hob einfach eine Hand und strich ihm sanft durch seine Haare. Entweder er war wach und würde reagieren oder er würde wach werden. Sie sollten aber vielleicht auch langsam los. Holger musste sicher noch packen, immerhin war das nicht geplant gewesen, dass er heute zurückfuhr.

Holger zuckte leicht zusammen, als er eine Hand auf seinem Kopf spürte, die durch seine Haare strich. Zögerlich hob er seinen Kopf an und sah direkt in das lächelnde Gesicht des Kapitäns. „Na, wieder wach?“ Er bemühte sich unbeschwert zu klingen und sich auch so zu verhalten. So als hätte es dieses Geständnis und den Kuss niemals gegeben.

Ohne eine Antwort abzuwarten, richtete der Jüngere sich etwas auf, damit auch Philipp sich wieder erheben konnte.
Der Kapitän plante bestimmt gleich zurück nach München zu fahren, weswegen Holger nach seinen Krücken griff und zum Schrank hopste, um seine Reisetasche hervorzuziehen. „Du willst sicher so schnell wie möglich nach Hause, oder?“, vermutete er, drehte seinen Kopf, um Philipp ansehen zu können. Ein Lächeln hätte es werden sollen, aber seine Mundwinkel zogen sich stattdessen eher nach unten. „Ich beeil mich mit dem Packen.“

Philipp musterte Holger besorgt. Er hatte sich inzwischen auch aufgesetzt. „Ich denke, du möchtest gerne zurück nach München, warum stimmt dich das Packen dann traurig?“
Immerhin waren es seine eigenen Worte gewesen. Es war ja nicht so, dass Philipp ihn dazu drängte zurück zufahren. Er würde ihn auch die Tage holen, wenn Holger lieber noch etwas hier bleiben wollte. Gut, für die Reha war das nicht gerade vorteilhaft, aber es wäre auch okay.
„Was ist los?“, hakte er noch mal nach. Er hatte gehofft, die Zeit, in der er Holger traurig sehen musste, war vorbei.

Hastig drehte er seinen Kopf wieder zum Schrank, um seine Sachen herauszuholen und in die Reisetasche zu legen. Er versuchte sich Zeit zu verschaffen, da er nicht wusste, was er Philipp zur Antwort geben sollte. Dass er in München zwar unbedingt die Reha weitermachen wollte, aber doch wieder alleine herumlungerte und ihm das zusetzte, erschien ihm falsch. Das war ja auch peinlich, womit er Philipp sicher nicht konfrontieren würde.
„Ach, ich hab nur eben an was gedacht“, winkte er belanglos ab, neigte seinen Kopf etwas, damit er aus dem Augenwinkel den Kapitän ansehen konnte... plötzlich stach ihm das Kaffeeshirt ins Auge. Philipp war die ganze Zeit über draufgelegen und Holger konnte nur hoffen, dass es noch nicht bemerkt wurde. Aber wie bugsierte er es nun heimlich in seine Tasche, ohne das Philipp es mitbekommen würde?

„An was hast du denn gedacht?“, fragte Philipp neugierig, wie er nun mal war. Er blieb zwar auf dem Bett sitzen, fühlte sich aber nicht sonderlich wohl dabei. „Soll ich dir helfen?“, fragte er dann, obwohl er wusste, dass Holger Hilfe nicht sonderlich mochte. Oder hatte sich das jetzt vielleicht auch geändert? Er wusste es nicht, aber er würde es nie rauskriegen, wenn er nicht fragen würde.

„An...“ Holger stoppte sogar das Packen. Konnte es Philipp nicht einmal gut sein lassen? „An so einen kleinen Jungen, der gehänselt wird, weil er mein Trikot trägt.“ Sein Improvisationstalent ließ eben noch etwas zu wünschen übrig, aber an sich war es besser als gar nichts mehr zu sagen.

Philipp runzelte die Stirn. Ein Junge wurde gehänselt, weil er Holgers Trikot trug? Ernsthaft? War es soweit schon gekommen? Aber das waren Kinder… so viel Gewicht durfte man dem auch nicht geben. Es war aber verständlich, dass Holger das dennoch mitnahm.

„Er hat übrigens ein Bild gezeichnet. Es liegt da auf dem Tisch.“ Er zeigte auf den viereckigen Tisch neben dem Kleiderschrank und lächelte Philipp leicht an. „Mal sehen, ob du erkennst, was es darstellen soll.“
Auf die Frage, ob er Hilfe bräuchte, ging er nicht ein. Der Kapitän kannte die Antwort doch sowieso. Außerdem war er eh gleich fertig.

„Ein Bild?“ Neugierig stand Philipp auf und ging zu eben jenem Tisch. Er nahm das Bild in seine Hände und versuchte etwas daraus zu sehen.
„Also das bist sicher du“, er zeigte auf eines der drei Männchen. Aber die anderen beiden? Hielt einer von ihnen eine Sonne in der Hand? Oder war es einfach nur unglücklich gemalt? Da das dritte Männchen die gleiche Kleidung trug wie Holger, waren das sicher die Trikots. Außerdem könnte es von der Größe her ein Kind sein.

Während Philipp das Bild begutachtete, packte Holger die letzten Shirts ein und zog den Reißverschluss zu, allerdings nicht ohne sie so unauffällig wie möglich zum Bett zu manövrieren und das Kaffeeshirt noch schnell mit hineinzustopfen. Hier lassen konnte er es ja schlecht.

„Hat der Junge gemalt, wie er mit dir Fußball spielt und das andere ist ein Gegner?“
Ja, das erschien Philipp schlüssig.

„Was?“ Stirnrunzelnd humpelte er auf Philipp zu und schüttelte schmunzelnd den Kopf: „Nein, nicht ganz.“
Er deutete auf die zwei Männchen im Trikot. „Das sind du und ich. Und der andere mit der gelben Karte ist der Schiedsrichter. Er musste es mir auch erst erklären, da ich sonst wohl nicht drauf gekommen wäre.“

"Du und ich?", echote Philipp. "Warum das denn? Wie kommt er denn auf mich? Wegen Vail?" Das würde zumindest Sinn ergeben. Sonst konnte er sich das nicht vorstellen, immerhin war er nicht unbedingt der erste, der mit Holger in Verbindung gebracht wurde. Nicht so wie bei Schweini und Poldi oder so...

Holger konnte nur grinsen, als er Philipps Erstaunen erkannte. „Ich weiß nicht“, zuckte er mit den Schultern. „Die Szene schien ihm wohl gefallen zu haben, weshalb er sie auf einem Bild verewigen musste. Ich fand das ja damals nicht so toll.“ Unwillkürlich drängte sich wieder diese blöde Wette, die er Philipp in Vail vorgeschlagen hatte, in seine Gedanken. Er hätte sie verloren, davon war Holger mittlerweile felsenfest überzeugt. Hauptsache er hätte spielen dürfen, aber diese Möglichkeit ergab sich so leider nicht mehr.

Philipp richtete den Blick wieder auf das Bild und musste unwillkürlich lächeln. Es war schön, dass Holger ausgerechnet jetzt Unterstützung von einem jungen Fan bekam. "Du nimmst das sicher mit, oder? Soll ich es ganz oben in die Tasche legen? Dann verknickt es bestimmt nicht. Ich passe auch auf, wenn ich sie nehme." Philipp machte Anstalten zur Tasche zugehen, die inzwischen auf dem Bett stand.

Als der Ältere sich in Richtung Bett wandte und auch sein Vorhaben ankündigte, machte sich fast schon Panik in Holgers Mimik breit. „Nein!“ Auch wenn es sich komisch anhörte und vermutlich auch aussah, beeilte er sich regelrecht zurück zum Bett zu hopsen und Philipp die Zeichnung aus der Hand zu nehmen. „Ich mach das schon.“

Perplex ließ Philipp sich das Blatt aus der Hand nehmen. Gut, wenn Holger gar keine Hilfe wollte, sollte er es alleine machen.

Hastig zog er den Reißverschluss auf und legte das Blatt Papier oben drauf. Direkt über das zerknüllte Kaffeshirt von Philipp. Er wähnte sich schon am Ziel, als der Reißverschluss klemmte. Auch das noch... Holger zog energischer an dem Verschluss und klemmte so das Papier ein, was ihn fluchen ließ. Er wollte doch nicht, dass Philipp das Shirt entdeckte und sich dann sonst was von ihm dachte. Aber er brachte es auch nicht übers Herz die Zeichnung komplett zu zerstören.

Das Ratschen des Papiers ließ ihn aber aussehen und zu Holger gehen. "Oh nein das Bild!", vorsichtig fasste er es an und begutachtete die Situation. Das sah böse aus. "Du musst ganz vorsichtig den Reißverschluss wieder aufziehen, damit du es nicht weiter kaputt machst", stellte er fest. Insgeheim fragte er sich, warum Holger nicht vorsichtiger gewesen war. Er hatte den Eindruck, dass das Bild ihm viel bedeutete. Hätte er das Shirt erkannt, würde er sich diese Frage vielleicht nicht stellen, aber er sah lediglich einen Ärmel und dachte nicht direkt an sein Kaffeeshirt.

Wieder war Holger kurz davor Philipp wegzustoßen aus Angst er könnte seine wahren Gefühle enttarnen, aber er wollte den Moment nicht wieder zerstören. Als der Kapitän ihn anleitete, wie er das Bild noch einigermaßen retten konnte, stockte Holger und richtete den Blick starr auf die Reisetasche. Der Einriss in das Papier war doch vergleichbar mit seinem Kreuzbandriss. Erst war es nur beschädigt, aber da es keinen Sinn mehr hatte es zu stärken, wurde es entfernt. Sinnbildlich dafür zog er den Reißverschluss vorsichtig auf, griff mit der anderen Hand aber in die Tasche und schob das Shirt etwas zur Seite. Auch wenn es nicht ganz so gelang, wie er sich das vorstellte, würde es wohl reichen, damit Philipp es nicht zu Gesicht bekam.
„Ich hätte nicht so schnell zuziehen sollen“, meinte der Innenverteidiger. Auch hier stimmte die Situation vollkommen mit seiner Verletzung überein. Er hatte seinem Knie zu früh zu viel zugemutet.

"Passiert", Philipp lächelte leicht und nahm die geschlossene Tasche an sich. "Hast du dann alles?“

„Ich glaube ja...“ Holger tätigte noch einen letzten umschweifenden Blick, während er erleichtert zur Kenntnis nahm, dass die Tasche geschlossen war und es für Philipp keine Möglichkeit mehr gab das Shirt zu sehen.

„Soll ich schon mal im Auto warten, während du dich verabschiedest?" Philipp wusste nicht, ob es Holger nicht lieber war, wenn er noch kurz alleine sein konnte mit seiner Familie. Er selber würde es bestimmt wollen. Aber er musste erst noch lernen, was Holger jetzt neuerdings lieber war. Philipp wollte sich ihm etwas anpassen. Hauptsache ihm ging es gut. Er hatte ihn wirklich vermisst während der Zeit auf Hawaii. Das wurde dem Kapitän immer mehr bewusst. Dafür hatten sie die Tage vorher zu viel Zeit miteinander verbracht. Zu viel intensive Zeit vor allem.

Sein Angebot nahm der Innenverteidiger dankend an.

Zusammen verließen sie das Gästezimmer und Philipp steuerte direkt die Haustür an, während Holger in die Küche zu Ute abbog.

„Philipp nimmt mich mit nach München“, erklärte er.

Von jetzt auf gleich erhellte sich Utes besorgte Miene und wich in pure Erleichterung.

„Ich will die Reha endlich weitermachen“, fügte er hinzu, als Ute zu ihm trat und ihn an sich drückte.

„Du schaffst das, Brüderchen. Das weiß ich.“ Und wie sie das wusste. Sie wusste nur nicht, wie Philipp dieses kleine Wunder vollbrachte und aus Holger den Kämpfer wieder hervor lockte.

„Wo ist denn Philipp?“ Sie wollte sich noch bei ihm für seine sofortige Hilfe bedanken, aber Holger berichtete, dass er im Auto wartete.

„Achso“, sie klang etwas enttäuscht, aber dann musste sie ihm eben später eine SMS schreiben und sich so bedanken.

„Tut mir Leid, ich weiß, ich war etwas anstrengend“, entschuldigte er sich noch kleinlaut, aber eigentlich war ihm klar, dass Ute ihm das nicht weiter übel nahm und ihn verzieh. Es waren eben auch besondere Umstände, weswegen er so ein Verhalten an den Tag legte.

„Denken wir einfach nicht mehr dran. Das gehört der Vergangenheit an, Holger. Und jetzt ab mit dir zu Philipp, damit ihr noch, bevor es dunkel wird, ankommt“, scheuchte sie ihren Bruder aus dem Haus, der sich zum Auto, das direkt vor dem Haus parkte, begab.

Als er an diesen Morgen die Augen aufschlug, hätte er nicht gedacht, dass er heute mit Philipp zurück nach München fahren würde. Aber er war glücklich mit der Entscheidung und noch glücklicher war er, dass der Streit beigelegt war, der ihn so sehr belastete.


Als Holger zu ihm ins Auto stieg, startete Philipp direkt den Motor und fuhr los.
„Ich bin froh, dass ich dich mitnehmen kann“, gab er zu, wusste gar nicht, ob er das schon mal gesagt hatte.


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