Kapitel 7 - Philipp zeigt Größe



 

Philipp kam gar nicht dazu irgendetwas zu erwidern, denn Holger stieß ihn von sich. Die Hände entfernten sich reflexartig von seinen Wangen und so, wie Philipp auf dem Bett gesessen hatte, verfing er sich beim Auftreten in seinen eigenen Füßen und stürzte rückwärts zu Boden. Er versuchte noch sich aufzufangen, aber das gelang mehr schlecht als recht.
„Au“, schmerzhaft verzog er das Gesicht. Wieder wurde er von Holger zurückgestoßen und wieder schmerzte es. Aber nicht nur körperlich. Innerlich war er zudem sauer auf sich selber. Was kam er eigentlich immer an, wenn er eh nur zurückgestoßen wurde?
Er stand aber nicht auf. Entgeistert sah er Holger an, wie der seinen ganzen Frust an dem Kapitän entlud. Philipp verstand ihn, er verstand ihn wirklich. Er konnte jedes einzelne Wort nachvollziehen, aber wieso musste er dafür herhalten? Wieso musste er sich so anschreien lassen? Das war nicht fair! Ja, Holgers Verletzung war auch nicht fair, aber er konnte doch auch nichts dafür! Er hatte ihm das Kreuzband nicht durchgerissen und wenn er könnte, dann würde er dieses dumme Band eigenhändig mit Nadel und Faden wieder zusammennähen.
Wollte Holger jetzt auch noch persönlich werden oder wie? Langsam wurde es Philipp zu bunt. Er hatte Verständnis für Holgers Reaktion, aber es verletzte ihn dennoch. Als er aber die Träne sah, die Holgers Auge verließ, verflog seine eigene Wut fast gänzlich, aber die Enttäuschung blieb. Sie saß in seinem Herzen. Da konnte er einfach nichts gegen tun.
„Holger“, hauchte er und sah ihn mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen an.

„Wenn du könntest, würdest du mit mir tauschen? Nein. Und warum nicht? Weil du selber nicht dran glaubst, dass es wieder so wie früher wird.“

Das stimmte überhaupt nicht! Philipp öffnete den Mund, wollte protestieren, aber ihm kam jemand zuvor. Ein Räuspern war zu hören und der Kapitän musste sich fast komplett umdrehen, um die Person zu sehen. Die Krankenschwester von eben.

„Bei allem Respekt...“ Sie schüttelte den Kopf und trat näher ans Bett. „Egal wie viel Verständnis ich für Ihre Situation aufbringe, aber das können Sie doch nicht ernst meinen. Herr Lahm sitzt den ganzen Tag und Nacht an Ihrem Bett, versucht sie aufzumuntern und Sie machen ihm Vorwürfe?“ Sie seufzte laut und schenkte Philipp einen entschuldigenden Blick. Dessen Blick war wiederum monoton. Noch bevor der Innenverteidiger den Älteren von sich stieß, dachte die Schwester noch die beiden würden sich im nächsten Moment küssen, aber daraus wurde dann wohl nichts.

Intuitiv rutschte Holger tiefer in die Kissen und wich Philipps Blicken gezielt aus. Die Krankenschwester hatte schon Recht, ihm tat es auch Leid, schämte sich auch selbst für diesen Ausraster, aber er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Dass das eben der komplett falsche Weg war, war dem Innenverteidiger schon klar geworden, als er das letzte Wort ausgesprochen hatte.
Eher zufällig hörte er mit an, dass die Krankenschwester mit Philipp sprach.

Philipp schnaubte leicht und rappelte sich auf. Er zog dabei scharf die Luft ein. Sein Rücken schmerzte und sein rechtes Handgelenk auch. Es war zwar sicher nichts schlimmes, aber der Schmerz musste erst mal wieder vergehen.

„Geben Sie ihm Zeit, bis der erste Schock überwunden ist.“

Irritiert hob Philipp den Blick. Die Krankenschwester lächelte ihn an. Er nickte träge und verließ ohne ein Wort zu sagen den Raum. Er musste da raus. Er bog einfach um die nächste Ecke, lehnte sich dort mit dem Rücken an die Wand. Natürlich wusste er, dass er Holger Zeit geben musste, aber es tat verdammt noch mal auch weh, das alles an den Kopf geworfen zu bekommen. Was dachte der sich denn? Dass er als Fußabtreter hier war?


„Es tut mir so leid...“, flüsterte Holger und presste die Lippen aufeinander. Was es für einen Sinn hatte, dass er das erst sagte, als Philipp ohnehin schon aus dem Raum war, hinterfragte er gar nicht. Er wischte sich schnell die nächste Träne, die sein Auge verließ, weg und merkte, dass auch die Krankenschwester aus dem Zimmer verschwunden war. Dann war er also allein. Es wunderte ihn nicht. Philipp wollte für ihn da sein und was machte er? Stieß ihn zu Boden, sowohl körperlich als auch seelisch. Aber dessen Worte schmerzten in diesem Moment so sehr, dass er sich nicht zurückhalten konnte.


„Herr Lahm?“

Philipp zuckte zusammen und öffnete die Augen, die er bisher geschlossen hatte. „Ja?“

„Alles okay mit Ihnen?“

Er nickte und erhaschte einen Blick auf ihr Namensschild. „Alles okay, Schwester Anna, danke. Gehen Sie ruhig wieder zu Holger.“

Milde lächelte sie ihn an. „Ich glaube, er meinte das alles nicht so…“

„Doch!“, unterbrach er sie. „Er meinte das alles genauso. Er hätte es unter anderen Umständen vielleicht nur nicht gesagt.“

„Aber Sie wissen doch, dass er gerade in einer Ausnahmesituation ist. Er braucht Zeit“, ihre Stimme war sanft und Philipp nickte träge.

Er merkte kaum, dass sich Tränen in seinen Augen sammelten. „Das weiß ich doch alles. Aber kennen Sie das auch, wenn der Verstand es zwar akzeptiert, aber das Herz trotzdem verletzt ist?“ Traurig lächelte er nun ebenfalls, ehe er die Augen wieder schloss, die Tränen zurück drängte, ehe sie über seine Wangen fließen konnten.

„Dr. Steadman ist jeden Moment da. Sie sollten dabei sein.“

„Ich komme gleich“, rang er sich ab. Irgendwie wollte er da nicht wieder rein. Sein Herz sagte ihm, er sollte einfach wieder fliegen, er war hier sowieso nicht erwünscht. Aber gleichzeitig sehnte er sich auch irrsinniger Weise nach der Gegenwart des Jüngeren. Es war alles so wirr. Philipp war voller Sehnsucht und Verständnis, aber gleichzeitig auch so verletzt und enttäuscht.

Philipp fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er hatte nicht erwartet, dass diese Reise so verdammt schwer werden würde. Es war bereits Donnerstagnachmittag. Morgenmittag würde sein Flieger gehen. Er hatte noch nicht einen Gedanken an das Finale verschwendet seit er hier war. Ob das jetzt gut oder schlecht war? Wer wusste das schon?
Seufzend stieß er sich von der Wand ab. Schwester Anna war schon wieder verschwunden. Träge machte Philipp sich auf den Weg zurück ins Zimmer. Dr. Steadman war noch nicht da. Schweigend stellte er sich ans Fenster. Er sah Holger nicht an. Vielleicht war es kindisch, aber er war verletzt und enttäuscht und da konnte das größte Verständnis nichts dran ändern. Der Innenverteidiger konnte froh sein, dass Philipp es nicht genauso tat und seine Gefühle auch an ihm entlud.

Holger wusste anfangs nicht, ob Philipp einfach zurück ins Hotel gegangen war oder sich noch im Krankenhaus aufhielt. Erst als er etwa eine viertel Stunde später schweigend ins Zimmer trat, erhielt der Blonde die Antwort. Er war nicht gegangen. Wäre er an Philipps Stelle gewesen, wäre er gegangen. Aber das was er jetzt abzog, gefiel dem Innenverteidiger auch nicht. Da hätte er gleich ins Hotel gehen können. Was stand er da jetzt am Fenster, schaute ihn nicht an und schwieg? Und wo blieben die Vorwürfe? Wahrscheinlich traute sich Philipp nichts sagen, weil er zur Unterstützung mitgeflogen war und immer noch Mitleid für ihn aufbrachte. Schnaubend spielte Holger mit der Bettdecke, dachte nicht daran das Schweigen jetzt zu unterbrechen. Wollte der Ältere denn dass er hier zu Kreuze kroch, nur weil er eben die Nerven verloren hatte? Klar, war es falsch ihm das alles an den Kopf zu werfen, aber er fühlte sich eben auch verarscht. Zwar nicht von Philipp, aber vom Rest der Welt.
Das Schnauben wich in ein schwermütiges Seufzen, als sich die Tür öffnete und Dr. Steadman endlich in Erscheinung trat.

Dieser grüßte die anwesenden Fußballer mit einem freundlichen „Guten Morgen“ und trat zu Holger ans Bett. Seine Arme stützte er auf dem Bettkasten auf, während sein Blick zwischen dem Älteren und dem Jüngeren umher wanderte. Noch ehe der Arzt zu Wort kommen konnte, preschte Holger dazwischen.

„Ich will, dass du raus gehst.“ Der Innenverteidiger blickte Philipp gar nicht an, während er dies so emotionslos wie nur irgendwie möglich aussprach. Er konnte nicht mal genau sagen, warum er nicht wollte, dass er anwesend war. Es war jetzt einfach so.

„Ich fände es eigentlich besser, wenn Herr Lahm auch dabei ist.“

„Ich nicht.“

Der Kniespezialist wirkte irritiert, schien aber dann den Wunsch seines Patienten zu verstehen und schaute Philipp auffordernd an. Dieser drehte den Kopf und sah Holger einen Moment lang an.

Die Enttäuschung zeichnete sich sichtbar in Philipps Gesichtszügen ab. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ er den Raum.

Der Kniespezialist inspizierte eine ganze Weile das Bein des Innenverteidigers, ehe er sich einen Stuhl heranzog und sich zu Holger setzte. Er begann zu erklären, was sie nun eigentlich bei der Operation machten. Der Innenverteidiger musste schwer schlucken, als er hörte, dass das funktionsuntüchtige und zu großen Teilen gerissene Kreuzband entfernt wurde, aber eben noch kein neues einsetzbar war, wegen den offenen Sehnenkanälen der alten OP, die sie erst mit Material aus Holgers Hüfte auffüllten, damit sie wieder richtig zu wuchsen. Daher prophezeite er ihm auch Schmerzen an der Hüfte.


Philipp verließ den Raum und ging einfach irgendwohin. Warum war er hier? Er sollte wirklich heute schon zurückfliegen, wenn Holger ihn eh nicht da haben wollte!
Der Kapitän sah sich um. Es war echt schön hergerichtet, aber da hatte er gerade kein Auge für. Er entdeckte den Wasserspender, nahm sich was zu trinken und blieb nachdenklich da stehen. Mit der freien Hand fuhr er sich übers Gesicht und durch die Haare. Was war das nur? Irgendwie hatte er sich Colorado anders vorgestellt.


„Die zehn Monate Zwangspause werden Sie dieses Mal benötigen. Die Reha wird besonders schonend und langsam auf Sie zugeschnitten sein, damit das Kreuzband optimal in die Knochen einwachsen kann. Sobald also die Bohrlöcher zugewachsen sind, setzen wir das neue Kreuzband ein, währenddessen werden wir an Ihrer Physis arbeiten.“

Dr. Steadman erklärte alles noch ausführlich, ehe er abschließend nachhakte, ob Holger noch Fragen hatte. Eigentlich hatte er eine, nur diese Frage könnte ihm selbst Dr. Steadman nicht beantworten, das kam durch das Gespräch deutlich heraus. Zumindest reimte Holger es sich so zusammen und senkte die Mundwinkel. Warum musste alles nur so schwierig sein? Und woher kam das plötzliche Verlangen, dass Philipp doch hier wäre und seine Hand hielt? Gerade eben hatte er ihn doch weg geschickt. Das war doch alles zum Verrückt werden.

„Ich schaue morgen wieder vorbei und dann bekommen sie auch die Schiene für Ihr Bein, damit Sie sich auch wieder bewegen können.“ Damit verabschiedete sich der Kniespezialist und schloss leise die Tür hinter sich. Versuchte danach auf dem Flur Herrn Lahm zu finden.


„Ich habe Herrn Badstuber nun alles erklärt und Sie können jetzt wieder zu ihm.“

Als Philipp plötzlich angesprochen wurde, hob er den Kopf. Dr. Steadman war wohl fertig bei Holger.

„Vorausgesetzt, Sie wollen.“

Philipp schnaubte kurz. „Ich glaube, es geht nicht darum, was ich will, sondern was Holger will“, erklärte er. Er trank den Becher leer, zerdrückte ihn in seiner Hand und warf ihn in den Mülleimer neben dem Wasserspender.

„Herr Lahm, Sie sollten zu ihm gehen. Ihre Anwesenheit tut ihm wahrlich gut.“

„Tut sie das?“ Philipp seufzte leicht. Heute Nacht hatte Holger auch noch nach seiner Nähe gesucht. Er hatte sein Handgelenk umklammert, als wollte er nicht, dass Philipp verschwinden würde.

Dr. Steadman nickte ihm aufmunternd zu. „Ich weiß nicht, ob wir uns morgen früh noch sehen, da ich eine Operation habe und Sie fliegen dann ja schon wieder, richtig?“

Philipp nickte bloß.

„Kommen Sie nach dem Spiel wieder?“


Das war eine gute Frage. Philipp zuckte ratlos mit den Schultern.

„Ich wünsche Ihnen viel Erfolg für das Spiel und werde Ihnen die Daumendrücken“, er hielt Philipp die Hand hin und dankbar schüttelte er sie.

„Danke, wir werden unser bestes geben.“

Dr. Steadman verschwand den Gang entlang und Philipp sah ihm einen Moment nach, ehe er seufzte. Er sollte zurückgehen zu Holger. Er brauchte ihn doch. Und in dieser Situation sollte es Philipp sein, der über seinen Schatten sprang. Auch, wenn ihm dieser Sprung sichtlich schwer fiel.
Zuerst aber lenkte sein Handy ihn ab. Eine SMS von Jupp Heynckes. Um Viertel nach Zwölf würde sein Flieger zurück gehen. Herr Stevens würde ihn um zehn Uhr vor dem Hotel erwarten. So früh schon? Schnell antwortete er, damit Jupp sicher sein konnte, dass er Bescheid wusste. Dann ging er weiter den Gang entlang.
Vor der Tür zögerte er, ehe er zaghaft klopfte und dann eintrat. Holger lag in seinem Bett. Was sollte er auch sonst tun?
Ohne ein Wort zu sagen, zog Philipp den Stuhl wieder zum Bett und setzte sich daneben. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Ihm ging so viel durch den Kopf, er konnte es nur schwer beschreiben. Er dachte auch nicht wirklich nach, als er seine Arme ausstreckte und Holgers Hand griff. Dafür war er doch hier. Zum Händchenhalten. Er lächelte leicht und suchte Holgers Blickkontakt. Vielleicht brauchte es ja gar keine Worte. Vielleicht verstand er ihn ja auch so. Was Philipp ihm sagen wollte? Dass alles gut war. Dass er ihn verstand. Dass er nicht sauer war. Und gegen diese Enttäuschung würde er schon ein Mittel finden.



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