Kapitel 164 – Wunsch und Wahrheit

 

 

 

Trotz allem musste Holger aus der Wohnung und an die Säbener Straße fahren, um sich die Unterlagen abzuholen, die er für morgen benötigte. Außerdem wollte sich Müwo nach dem momentan guten Zustand des Knies vergewissern, bevor er Holger in die Obhut seiner Kollegen in Donaustauf abgab. All das sollte den Innenverteidiger eigentlich ablenken und ihm den Anstoß geben, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, doch er schaffte es keine Sekunde den Kapitän auszublenden. Ununterbrochen dachte er an ihn und spürte den Stich tief in seinem Herzen. Womöglich war er gerade bei seiner Familie, küsste die Lippen seiner Frau und hielt sie im Arm. Dort wo eigentlich er hingehörte und nicht Claudia.

 

 

 

 

 

Philipp saß schon ein Weilchen einfach in seinem Auto, als sein Handy aufblinkte. Eine Nachricht von Claudia.
//Guten Morgen, ich stelle noch die Wäsche an und fahre dann mit Julian zu meinen Eltern. Kannst du sie später auspacken, wenn du wieder kommst? Bis heute Abend :-* //
Da war sie. Seine Familie, für die er sich entschieden hatte. Seine Familie, die er gewählt hatte. Seine Familie, für die er Holger aufgegeben hatte… es war nicht so, dass er Zweifel bekam, aber es war schwer. Zu wissen, dass Holger so litt. Aber wie wäre es anders? Claudia würde zu ihren Eltern ziehen, Julian mitnehmen, die Scheidung einreichen, vielleicht sogar das alleinige Sorgerecht beantragen? Und Holger? Das… das hatte doch keine Zukunft mit ihm. Oder redete er sich das nur ein?
Philipp fuhr sich durch die Haare. Er hatte das Richtige getan. Er musste sich das nur immer wieder einreden, denn es war so.

 

 

 

 

 

Nach drei Stunden kam er wieder zurück in seine leere Wohnung. Es war totenstill seit Milly und July bei seiner Mutter lebten und das würde sich auch nicht ändern. Die minimale Hoffnung, Philipp hätte seine Meinung geändert, war nach einer Minute der Stille komplett zerstört. Durch den Gedanken fiel ihm ein, dass Philipp noch den Schlüssel zu seiner Wohnung hatte, den er nicht da gelassen hatte. Ein Zeichen? Holger schüttelte den Kopf über seinen Optimismus, der völlig unangebracht war in dieser Situation. Schließlich hatte Philipp ihm klar gemacht, dass er wieder auf dem Weg der Besserung war und ihn nicht mehr brauchte. Es war herrlich, wie sehr er sich über die Besserung seiner Verletzung freuen konnte. Sie kostete ihm schließlich die Beziehung zu Philipp, so war er auf einer Seite wirklich verbittert darüber.
Matt ließ er sich auf seine Couch sinken und blickte starrend an die Zimmerdecke, ehe er gedankenverloren seine Augen schloss. Zwei kleine Tränchen rannen aus seinen Augen seitlich über seine Wangen. Wie konnte Philipp nur behaupten, dass er ihn nicht mehr brauchte. Er brauchte ihn mehr denn je.

 

 

 

 

 

Philipp wartete noch etwas ab und fuhr dann Heim. Claudia war weg, also konnte er in Ruhe duschen und sich frische Kleidung anziehen. Danach holte er die Kette mit dem Ring aus ihrem Versteck in seinem Nachtschrank. Damit ließ er sich auf dem Rand des Bettes nieder. Seine Finger spielten mit dem Ring. In dem sanften Licht war die Gravur kaum erkennbar. Hätte es das alles eben leichter gemacht, wenn er den Ring dabei gehabt hätte? Wenn er ihn Holger gegeben hätte? Als Zeichen, dass er immer da war, auch, wenn er es nicht sein konnte? Er wusste es nicht, aber er musste es ausprobieren.
Philipp aß etwas, hing die Wäsche auf und fuhr dann zum Training an die Säbener Straße. Danach fuhr er aber nicht nach Hause, sondern zu Holger. In der einen Hosentasche die Kette, in der anderen den Wohnungsschlüssel. Den hatte er ganz vergessen heute Morgen. Sollte er ihn jetzt noch nutzen? Vielleicht Hoffnungen wecken? Nein, das wollte er auch nicht. Also klingelte er brav. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und irgendwie war Philipp total schlecht. Er wollte Holger nicht schon wieder weinen sehen oder ihn generell traurig erleben. Er wollte ihn lächeln sehen, ihn in den Arm nehmen und am liebsten auch küssen… das ging aber nicht mehr. Der Kapitän betete aber inständig, dass Holger wieder lächeln würde. Denn dieses Lächeln würde er wohl immer lieben.

 

 

 

Holger saß dort eine Weile und wurde erst auf die vergangene Zeit aufmerksam, als ein Klingeln ihn wieder in die bittere Realität beförderte. Wer war das? Angekündigt hatte sich niemand. Holger wischte sich mit seinem Ärmel über die Schläfen, die von den Tränen noch feucht waren und nahm seine Krücken, die an der Couch lehnten, um sich zur Tür zu bewegen. Er räusperte sich und drückte dann auf den Knopf der Gegensprechanlage. „Ja?“

 

 

 

Das plötzliche Knacken in der Sprechanlage ließ ihn zusammenzucken und die Stimme, die er hörte, schnürte ihm die Kehle zu. Philipp atmete tief durch. Plötzlich war es ein blöder Gedanke gewesen. Holger würde ihn nie reinlassen.
„Holger, ich bin es, Philipp… lässt du mich kurz rein? Es dauert auch nicht lange…“

 

 

 

Holger hatte gehofft, es wäre nur die Post. Aber es war Philipp. Allein seine Stimme zu hören, schmerzte und die Worte, die er sagte, taten ihr übriges. Natürlich würde es nicht lange dauern. Warum auch? Philipp musste zurück zu seiner Familie, wollte nichts mehr von ihm.
Nachdenklich lehnte er seinen Kopf gegen die Wand. Etwas vergessen hatte er nicht, das wäre ihm im Schlafzimmer aufgefallen. Also brauchte er auch nicht in seine Wohnung, wo er sich wieder anhören durfte, dass er es schaffte und ihn nicht mehr brauchte. Deshalb entfernte er sich auch ohne einen Ton zu sagen von der Tür und schleppte sich zurück ins Wohnzimmer. Philipp konnte ihn mal und er sollte nicht wagen, den Schlüssel zu nutzen. Wahrscheinlich wollte er ihm diesen nun zurückgeben. Zum Glück passte dieser aber auch in den Briefkasten.

 

 

 

Wieder knackste es etwas in der Sprechanlage. Dann war es ruhig. Zu ruhig. Die Tür summte nicht.
Leise seufzte Philipp. Er konnte es Holger nicht verübeln. Bevor er den Schlüssel nutzen wollte, klingelte er erneut. Dabei wusste er eigentlich, dass sich diese Tür nicht öffnen würde. Nicht für ihn.

 

 

 

Wieder klingelte es. Gab der denn nie auf? Holger lächelte müde bei dieser gedanklich gestellten Frage. Natürlich gab Philipp nie auf, sonst wären sie niemals zusammen gekommen, was im Endeffekt jetzt besser gewesen wäre.
„Verschwinde einfach“, hauchte er, obwohl Philipp es nicht hören konnte. Die Ignoranz müsste ihm aber klar und deutlich zeigen, dass er nichts von ihm wissen wollte.

 

 

 

Philipp wartete vergebens. Er holte den Schlüssel aus der Tasche und war in Versuchung ihn zu verwenden. Wenn er jetzt reinging, würde Holger ihn sicher zurückverlangen. Aber würde er das nicht auch so tun? Und was sollte er noch mit dem Schlüssel? Er hatte ihre Affäre beendet, er brauchte ihn also eigentlich nicht mehr. Und uneigentlich? Hoffte er irgendwie, dass…
Nein. Philipp schüttelte den Kopf und benutzte den Schlüssel. Er verschaffte sich Zutritt in das Gebäude und ging die Treppen nach oben. Sein Herz schlug mit jedem Herz schneller. In der einen Hand hielt er verkrampft die Schlüssel und in der anderen die Kette mit dem Ring.
Ich bin immer deine kleine Stütze.
Diese Worte waren dort eingraviert. Holger sollte wissen, dass er trotzdem da war. Immer da sein würde.
Jetzt stand er vor der Wohnung und atmete tief durch. Sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren.

 

 

 

Da es so ruhig in der Wohnung war, nahm Holger sofort die Schritte im Treppenhaus wahr. Das durfte doch nicht wahr sein! Dass er tatsächlich den Mut aufbrachte, den Schlüssel zu nutzen, um sich Zutritt in seine Wohnung zu beschaffen. Um diesen unnachgiebigen Fußballer in die Schranken zu weisen, rappelte sich Holger wieder auf.

 

 

 

Kurz zögerte Philipp noch, nutzte aber dann den Schlüssel, um die Tür zu öffnen. Er trat ein, schloss sie und wartete auf eine Reaktion von Holger. Wo er wohl war? In der Küche vielleicht?

 

 

 

Gerade als er sich auf die Krücken stützte, hörte er die Wohnungstür, die kurz darauf wieder ins Schloss fiel. Holger rührte sich nicht, spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, da er damit rechnete, dass Philipp gleich ins Wohnzimmer kam. Aber das trat nicht ein.
Hatte er es sich doch noch anders überlegt? Selbst wenn nicht, warum sollte Holger zu ihm kommen? Stur lehnte er sich deshalb an die Sofalehne und wartete geduldig ab, bis Philipp sich zu erkennen gab. Innerlich war er jedoch ungeduldig wie nie zuvor. Obwohl er bereits ahnte, weswegen er ihn aufsuchte.

 

Den Schlüssel hättest du auch in den Postkasten werfen können oder willst du mir noch mal sagen, dass du mich liebst, aber lieber zu deiner Familie gehst?“ Es klang verbittert, was Holger leider auch war. Die Eifersucht auf Claudia und Julian, die er immer zu verdrängen versuchte, kämpfte sich allmählich an die Oberfläche.

 

 

 

Es passierte einen Moment lang nichts. Ein Blick in die Küche verriet ihm, dass Holger dort nicht war. Als er im Wohnzimmer nachgucken wollte, hörte er schon die Stimme. Holger klang verletzt. Zurecht.
Philipp stieß die Tür ganz auf und sah Holger an der Sofalehne. „Nein…“ Wobei das eine Lüge war. Oder? Eigentlich wollte er genau das mit dem Ring sagen. Oder zumindest sowas ähnliches.

 

Ich wollte dir neben dem Schlüssel noch etwas anderes geben, Holger. Ich… ich wollte dir dieses Geschenk geben, wenn ich… ich hatte es nicht dabei gehabt, weil es nicht geplant gewesen war.“ Philipp wusste kaum, was er sagen sollte. Eigentlich sollte er souverän zu seiner Entscheidung stehen, so, wie er immer souverän zu seiner Meinung und seinen Entscheidungen stand. Das war sein Wesen, das war seine Position. Aber hier ging es um Holger, den Mann, den er liebte. Da geriet seine starke Fassade ganz schön ins Wanken.

 

 

 

Holger fixierte abwartend die Tür und als Philipp schlussendlich erschien, wandte er diesen wieder ab. Die klitzekleine Hoffnung, er hätte es sich doch noch anders überlegt und konnte nicht ohne ihn, zerstörte Philipp sofort. Vielleicht war es besser so, aber im Moment war Holger noch nicht empfänglich für irgendwelche Phrasen, die sich an dem Sprichwort orientierten, dass ein Ende mit Schrecken besser war als ein Schrecken ohne Ende. Holger spürte bereits die Tränen, die ihm wieder zeigen wollten, wie schwach er doch ohne Philipp war, aber noch hielt er sie erfolgreich zurück. Er musste nur daran denken, was für einen miesen und grausamen Zeitpunkt der Kapitän gewählt hatte und dass die Beziehung nur auf Mitleid basierte. Als von einem Geschenk die Rede war, erinnerte Holger sich sofort an die Ringe, die er aus Vail kannte. Es konnten doch nur die sein, oder? Wusste Philipp eigentlich, dass er es damit noch schlimmer für den Innenverteidiger machte?

 

 

 

Holger sah schlecht aus, stellte er fest, als er näherkam. Es zerriss Philipp mehr das Herz, als er geglaubt hatte im Vorfeld.
„Bitte gib mir die Chance, dir mein Geschenk zu geben“, bat er Holger beinahe flüsternd.

 


„Nein“, hauchte er schwach und hob seinen Blick. „Nein, ich will kein Geschenk mehr von dir“, sprach er es nun kräftiger aus, damit Philipp es auch ernst nahm. „Ich will auch nichts mehr von dir hören. Du hast dich für deine Familie entschieden und damit gegen mich. Also hör auf mich noch zusätzlich zu quälen, in dem du mir irgendetwas von dir schenkst, das mich nur daran erinnert, dass du bei deiner Familie bist und nicht bei mir!“ Der Ring würde genau wie der Bilderrahmen im Mülleimer landen und es war ihm völlig egal, wenn er den Kapitän darauf hinweisen musste.

 


Philipp starrte ihn an. Der Drang ihn zu umarmen und zu küssen, war hoch. Verdammt hoch. Aber er konnte nicht. Er durfte nicht. Er hatte es sich selbst verboten. Aber es war besser so. Es war besser für Holger, das würde dieser auch irgendwann verstehen. Zumindest redete er sich das ein.
Philipp steckte die Hand in seine Hosentasche und holte den Schlüssel heraus. Traurig sah er ihn an, ehe er ihn einfach auf das Regal an der Wand legte. Er wollte noch was dazu sagen, aber er wusste nicht was. Es wäre ja eh alles falsch.

 

 

 

Philipp zog es vor zu schweigen. Vermutlich wurde er durch die Worte eingeschüchtert, weil er geglaubt hatte, dass er gerne ein letztes Geschenk von ihm annehmen würde. Da hatte er völlig falsch gedacht. Holger wollte durch nichts mehr an Philipp erinnert werden. Nicht an die schönen Zeiten und auch nicht daran, wie er ihn nach einer tollen Nacht einfach so abserviert hatte. Grund: Ihm war eingefallen, dass er ja Familie hatte und er nun sowieso auf dem Weg der Besserung war.
Es gefiel ihm nicht, dass der Ältere ihn anstarrte. So musste er wohl oder übel den Blickkontakt abbrechen und den Kopf zur Seite wenden. In seinem Blickfeld lag der Mülleimer, in dem das Bild gelandet war.

 

 

 

Philipp schenkte Holger noch einen letzten Blick, ein letztes trauriges Lächeln, ehe er den Raum und dann auch die Wohnung verließ.

 

 

 

Nur aus dem Augenwinkel erkannte er das traurige Lächeln und hätte ihn am liebsten eigenhändig rausgeworfen. Philipp sollte nicht traurig lächeln, er war doch Schuld an dem Ganzen! Er hätte nicht einmal mehr hier auftauchen sollen, wenn seine Entscheidung sich doch sowieso nicht geändert hatte. Konsequent verdrängte Holger den Schlüssel, der nun auf dem Regal lag. Er wollte nicht daran denken müssen, wie er ihm diesen damals gegeben hatte, weil er wollte, dass er jederzeit zu ihm konnte. An dem Wunsch hatte sich nichts geändert, nur dass er jetzt nicht mehr erfüllt werden würde.

 


Auf dem Weg nach unten spürte Philipp die heißen Tränen auf seinen Wangen. Sie brannten regelrecht. Aber es war egal. Er musste leiden, er hatte es verdient.
„Ich liebe dich“, wisperte er leise, ehe die Haustür hinter Philipp ins Schloss fiel und er zu seinem Auto ging, um nach Hause zu fahren. Nach Hause… zu seiner Familie.

 

 

 

 

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