Kapitel 39 - Verlorene Kontrolle



„Pippo wird schon nicht böse sein, dass ich dich heimbringe, oder?“, fragte Mario, als er in die Seitenstraße einbog. Eine kleine Abkürzung zu Holgers Apartment, die nicht ganz so einfach zu befahren war mit einem riesigen Audi.

Holger zuckte mit den Schultern. „Wird er schon nicht. Der will sicher auch jetzt erstmal zu seiner Familie.“ Da interessierte Holger doch sowieso nicht mehr. Claudia und Julian standen an erster Stelle. Ob es dem Innenverteidiger passte oder nicht, stand außer Frage.

„Wär aber möglich“, gab Mario zu bedenken, „Ich vermute, unser Captain hat es sich zu seiner persönlichen Aufgabe gemacht ein Auge auf dich zu haben.“

„Hat er eigentlich gestern lange mit euch gefeiert?“, lenkte Holger erstmal ab, „Er sah nämlich gar nicht müde oder so aus.“

Mario grinste leicht. Hatte der Innenverteidiger den Kapitän etwa so genau angesehen? Allerdings wirbelte Holgers Frage seine eigenen Gefühle wieder auf. Die, die er zu verdrängen versuchte um den Erfolg der Mannschaft genießen zu können. Aber das klappte gestern schon nicht ganz, auch heute irgendwie nicht. Konnte er Holger erzählen, dass er es gar nicht wusste, wie lange Philipp gefeiert hatte? Weil er selber ziemlich früh ins Bett gegangen war? War es überhaupt noch ein Geheimnis, dass er mit den Gedanken spielte wegzugehen? Aber damit wollte er Holger jetzt nicht belasten, für den Innenverteidiger war es schon schwer genug.
„Pippo sieht man so einiges nicht an. Darunter auch sein Alter“, umging er die Antwort mit einem lockeren Witz. Zeitgleich parkte er das Auto vor Holgers Apartment.

„Willst du mit hochkommen?“, bot der Innenverteidiger anständigerweise an, doch Mario verneinte.

„Nein, danke. Ich leg mich jetzt erstmal hin und warte bis Carina von der Arbeit nach Hause kommt.“ Diese hatte nur das Auto gebracht und war dann gleich in die Modelagentur in der Innenstadt gestiefelt.

„Okay, man sieht sich. Danke fürs Herbringen.“

„Kein Problem. Machs gut.“

„Mario?“ Holger war ausgestiegen, die Autotür aber noch nicht zugeschlagen.

„Was denn?“

„Ist mit dir alles in Ordnung?“ Holger war ja nicht entgangen, dass Mario die Antwort hinausgezögert hatte. Und ein wenig verfolgte er den Transfermarkt auch noch. Er hoffte allerdings, dass das alles nur Gerüchte waren.

Mario konnte sein Lächeln nicht mehr aufrecht halten und senkte die Mundwinkel. „Nicht wirklich.“

Noch ehe Holger in irgendeiner Weise reagieren konnte, funkte Mario dazwischen. „Sei mir nicht böse, aber ich würd mich jetzt echt gern hinlegen. Machst du bitte die Autotür zu?“

Er antwortete nicht, nur schlug er die Tür unbeholfen zu und humpelte zum Eingang. Er beobachtete nicht mehr, wie Mario weg fuhr.

Normalerweise nahm Holger immer die Treppen nach oben, aber durch die Krücken musste er sich mit dem Aufzug arrangieren. Er war froh wieder zuhause zu sein, aber Philipp konnte er natürlich trotzdem nicht ausblenden. Diese Umarmung war mit so viel Glücksgefühlen verbunden, das war unbeschreiblich. Dieser fuhr wahrscheinlich gerade nach Hause zu seiner Familie.
Und womit sollte sich der Innenverteidiger jetzt beschäftigen? Er könnte es Mario gleich tun und sich hinlegen. Abschalten. Entspannen. Vergessen. Wenn er Glück hatte, bekam er ein paar Stunden Schlaf.
Holger holte sich aus dem Schlafzimmer eine Decke und eine Schmerztablette und machte es sich auf der Couch gemütlich. Er hörte zwar, dass sein Handy eine SMS ankündigte und las den Namen auf dem Display, doch er ignorierte es. Er traute sich seltsamerweise nicht sie zu öffnen. Würde Philipp ihm Vorwürfe machen, weil er einfach abgehauen war und nicht wie versprochen mit ihm zusammen feierte? Er bemühte sich wirklich die ungelesene Nachricht fürs erste auszublenden. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass er einschlafen konnte. So viel geisterte in seinem Kopf herum und ließen ihn einfach nicht zur Ruhe kommen.


„Danke für’s Bringen“, Philipp stieg lächelnd aus. Die Tasche stand am Gehweg.

„Gerne, Phil, jeder Zeit wieder. Bis dann.“

Lisa und Thomas fuhren davon und Philipp sah ihnen nach. Dann ging sein Blick aufs Handy, ehe er seufzend die Tasche nahm und zur Haustür ging. Keine Antwort. Was sollte er davon halten? Vielleicht hatte Holger sie ja einfach noch nicht gelesen…
Der Kapitän trug die Tasche hoch in ihre Wohnung und schloss auf.

„Philipp?“ Seine Frau klang überrascht. Sie schien in der Küche zu sein.

„Ja, ich bin wieder da.“

Und er hatte Recht. Mit einem Lächeln auf den Lippen kam sie angelaufen, zog ihn in eine Umarmung und küsste ihn zärtlich.

„Mein Triple-Held“, hauchte sie.

Philipp lächelte leicht. Warum dachte er jetzt daran, dass Holger der letzte war, den er geküsst hatte?

„Ich bin froh, dass du endlich wieder da bist und ich dich nicht mehr nach Vail lassen muss“, erklärte sie ihm.

Philipp musterte seine Frau. War sie denn nicht sauer, dass er sich kaum gemeldet hatte? Oder sagte sie extra nichts? Weil sie wusste, dass er gerade müde und glücklich war? Schob sie es nur auf? Er wusste es nicht.
„Ich bin auch froh. Der Flug hat immer ganz schön geschlaucht, aber Holger ist ja jetzt wieder da.“

„Stimmt…“, plötzlich klang sie kühler.

Philipp war das gerade egal. Er war mit einem Mal ziemlich fertig.

„Ich habe kaum geschlafen. Wo ist Juli? Ich möchte ihn sehen, bevor ich mich hinlege.“

In dem Moment hörte er den Kleinen brabbeln. Philipp folgte der Stimme ins Wohnzimmer, wo er in seinem Spielstall saß. Als er Schritte hörte sah er auf und krabbelte zum Rand. „Papa“, brabbelte er. Zumindest konnte man das daraus verstehen.

„Hey mein Schatz“, Philipp hob ihn hoch und gab ihm einen Kuss. Julian lachte, fasste seinem Papa ins Gesicht. Er sah wirklich glücklich aus.

„Er hat dich vermisst.“ Claudia kam hinzu. Zärtlich strich sie durch Julians blonde Haare. „Ich übrigens auch.“

„Ich bin ja jetzt wieder da“, er gab sowohl ihm als auch ihr einen Kuss, ehe er seinen Sohn seiner Mutter übergab. „Ich leg mich hin.“


Erst als es schon dämmerte, schlug Holger seine Augen wieder auf. Gut geschlafen hatte er nicht und auch sein Nacken schmerzte durch die komische Liegeposition. Aber es war vollkommen egal. Sein Körper konnte es ja machen. Immer wieder schön gegen ihn arbeiten, nur damit er seinen Beruf nicht mehr nachgehen konnte. Wie sehr er sein rechtes Bein mittlerweile verfluchte! Das erste, was Holger wieder einfiel, als er sich seinem Wachzustand bewusst wurde, war die SMS von Philipp. Sollte er sie nicht endlich mal öffnen? Mit laut klopfendem Herz machte er die Nachricht auf und war überrascht. Der Kapitän wollte vorbeikommen? Und er ignorierte ihn und legte sich schlafen. Ganz toll. Holger könnte sich schon wieder ohrfeigen für seine Feigheit. Kurz spielte er mit dem Gedanken Philipp zu antworten, dass er jetzt noch vorbei kommen sollte, aber hatte seine Familie nicht auch ein Recht auf seine Anwesenheit? Obwohl er die Frage anders herum stellen sollte. Hatte Philipp denn keinen Anspruch auf Ruhe?
„Bleib bei deiner Familie, ich zieh dich doch nur runter“, hauchte er traurig. Genau das sollte er antworten! Schnell huschten seine Finger über das Display, doch genau in diesem Moment, als er auf Senden klicken wollte, schaltete sich das Handy aus. Akku leer. Genervt ließ er das Handy auf die Couch fallen, lehnte sich zurück und schloss tief durchatmend die Augen. Er fühlte sich richtig schlecht. Obwohl sogar schlecht noch untertrieben war. So als würde ein schweres Tier auf seinen Schultern hocken und ihn zu Boden drücken. Keine Aussicht auf die Möglichkeit wieder aufzustehen.
Fast schon eilig erhob er sich, schnappte sich Jacke und verließ die Wohnung. Er brauchte frische Luft!


Philipp verließ das Wohnzimmer, ging ins Schlafzimmer, schloss dort die Tür und atmete tief durch. Wieder warf er einen Blick aufs Handy. Nichts… kurzerhand suchte er Holgers Nummer im Telefonbuch und rief ihn an. Es tutete und tutete und tutete… nichts.
Mit einem unguten Gefühl zog Philipp seine Klamotten aus, warf sie über einen Stuhl und warf sich nur in Boxershorts aufs Bett. Ihm war klar, dass er nicht schlafen konnte. Seine Gedanken drehten sich um Holger. Ihm war unwohl bei dem Gedanken, dass er gerade alleine in seiner Wohnung saß. Holger hatte eben so schlecht ausgesehen und er war einfach abgehauen… war er vor ihm geflohen? Weil Philipp ihm das Lächeln nicht abgekauft hatte?
Plötzlich wurde er unruhig. Er musste wissen, was mit Holger war. Philipp sprang auf, zog sich eine Jeans und ein T-Shirt an, warf eine Jacke über und verließ das Schlafzimmer. Claudia war mit Julian im Wohnzimmer. „Ich muss noch mal los“, sagte er nur und war schon verschwunden.

„Was? Wohin? Philipp?“, sie rief ihm noch nach, aber er schlüpfte nur in seine Schuhe.

„Noch was klären“, rief er zurück, ehe er aus der Tür verschwand. Er konnte ihr nicht sagen, dass er nach Holger sehen wollte, aber genau zu dem fuhr er als er ins Auto stieg, den Motor startete und vom Parkplatz fuhr.


Holger genoss es, dass es dunkler wurde. So sah man ihn nicht mehr so intensiv, wie er auf dem Gehsteig auf Krücken her
um hopste. Warum sein Weg ihn genau zur Säbener Straße führte, wusste er nicht, aber als er sich vor dem Gebäude mit dem FC Bayern Logo stehen sah, hielt er inne. Zufällig sah er, dass noch Licht in einer Abteilung brannte und nutzte die Gelegenheit um noch einzutreten. Da er zum FCB gehörte, wurde ihm der Weg auch selbstverständlich nicht versperrt. Holger humpelte durch den Gang, hinaus aus dem Zentrum und auf direktem Weg zum eingezäunten Trainingsplatz. Dort ergatterte er sich einen Fußball, den er eine Weile stumm betrachtete, bevor er seinen Blick schweifen ließ. Hier hatte er erst noch mit dem Physiotherapeuten gejoggt, hatte angefangen sein Knie wieder zu belasten und sich auf die kommende Saison gefreut. Dass alles war dann an einem einzigen Tag in weite Ferne gerückt. Nein, seine Karriere war längst in weite Ferne gerückt. Egal was andere sagten oder dachten. Sie wollten ihn aufmuntern. Was sollten sie auch sonst tun? Sogar er selber musste das beim heutigen Interview sagen. „Es wird lange dauern, aber es wird alles wieder gut“, meinte er, „Man müsse Geduld haben.“ Dass er dabei herum stotterte, seine Stimme zitterte und er vollkommen überfordert wirkte, beachtete niemand. Der Reporter nannte ihn sogar „Nationalspieler Holger Badstuber“, worauf er gerne verächtlich geschnaubt hätte. Das war alles einmal und er verstand nicht, warum man das auch noch erwähnen musste. Der Herr wusste genau, dass die Weltmeisterschaft für ihn gelaufen war.
Holger seufzte schwer, während sich seine Gedanken um seine Verletzung drehten. Warum ging das Gefühl einfach nicht weg, dass Anfang Dezember nicht nur sein Kreuzband gerissen war, sondern auch seine Karriere wie eine Seifenblase in der Luft zerfetzt wurde?
Leicht stieß er mit einer Krücke gegen den Ball, der einige Meter weiter kullerte. Es machte immer noch Spaß. Auch wenn er sich dafür verfluchte auf Krücken spielen zu müssen, aber dennoch war da dieses vertraute Gefühl, was ihm einen kurzen Moment lang ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Holger hüpfte dem Ball nach, kickte ihn mit der Krücke weiter und humpelte wieder langsam hinterher. Auf eine gewisse Art erbärmlich, wie oft er genau das wiederholte. Doch er spürte, dass sich je öfter er – mit Krücke – gegen diesen Ball trat, eine unbändige Traurigkeit, ein Anflug von Hilflosigkeit bei ihm einschlich. Er wollte etwas tun können, damit er wieder spielen konnte, aber wusste ganz genau, dass er im Grunde machtlos war im Kampf für seine Karriere. Wenn sein Knie noch länger nicht mitspielte, war es das.


Ungeduldig wippte Philipp auf seinen Füßen auf und ab. Er hatte jetzt schon zweimal geklingelt. Er betätigte die Klingel ein drittes und viertes Mal… dann klingelte er Sturm. Nichts.
„Man, Holger, wo bist du?“ Ratlos ging Philipp zu seinem Auto und lehnte sich dagegen. An welchen Ort würde Holger jetzt gehen? War er bei seiner Mutter oder Ute? Aber das konnte er sich nicht vorstellen. Vielleicht hatte er noch eine Behandlung oder einen anderen Termin an der Säbener Straße. Aber heute? An einem Sonntag?
„Egal, ein Versuch ist es wert“, murmelte Philipp und blickte noch einmal hoch zur Wohnung, aber nichts regte sich. Seufzend stieg er ein.

Philipp fuhr sein Auto erst gar nicht in die Tiefgarage, sondern ließ es an der Straße stehen. Hier war es sehr ruhig, aber anscheinend arbeiteten wirklich noch welche hier.
Der Sicherheitsdienst ließ ihn durch und Philipp betrat das große Gebäude. Er machte sich auf zu den Behandlungsräumen, aber dort war niemand. Still und verlassen war jeder einzelne Raum.
Langsam verließ Philipp die Hoffnung, dass er Holger hier finden würde. Er ging den Weg zurück und kam an die Stelle, wo es links zum Trainingsplatz gehen würde. Vielleicht war es eine innere Eingebung, vielleicht auch Verzweiflung aber Philipp schlug eben jenen Weg ein. Und tatsächlich. Schon durch die Fensterfront sah er jemanden auf dem Platz. Dieser Jemand war Holger.
Es tat Philipp weh zu sehen, wie er mit seinen Krücken einen Ball vor sich her kickte. Stumm trat er an den Rand des Spielfeldes und beobachtete Holger einen Moment. Was sollte er tun? Er fühlte sich irgendwie hilflos. Warum tat Holger das? Warum war er hier so alleine? Hatte er extra diesen Zeitpunkt ausgewählt, weil er wusste, dass niemand da sein würde?

Warum kickte er nur immer wieder gegen diesen Ball? Irgendwie erschien ihm dieses Trainingsfeld plötzlich unwahrscheinlich groß. Holger hopste dem Leder doch schon so lange hinterher und kam nicht zum Ende. Aus diesem Grund holte der Innenverteidiger mit der Krücke etwas fester aus, damit der Ball ein größeres Stück weg rollte, verlor aber auch dadurch den Halt. Er geriet ins Schlingern, ehe er unbeholfen zu Boden stürzte. Holger öffnete nach einem ächzenden Laut seine Augen, erkannte den Fußball einige Meter von sich entfernt und merkte, wie dieses runde Leder in seinem Sichtfeld verschwamm. Ein wässriger Film überzog seine Pupillen, füllten die Augen unaufhaltsam mit Tränen, die er weg zu blinzeln versuchte, aber nicht schaffte. Der klägliche Versuch sich mitsamt den Krücken aufzurappeln, scheiterte an der fehlenden Kraft, die er in diesem Moment nicht in seinem Körper verspürte. Eigentlich wollte Holger auch gar nicht mehr aufstehen. Er sollte liegen bleiben, dann konnte er auch gar nicht mehr hinfallen. Nicht mehr an seinem Comeback arbeiten, um nicht mehr enttäuscht zu werden. Der bloße Gedanke an sein Karriereende ließ ihn schluchzen. Holger liebte den Fußball, aber irgendwann war es genug an Rückschlägen. Und in diesem Augenblick der Schwäche war es ihm nicht möglich sich aufzurappeln und weiter zu machen. Sowohl im Hier und Jetzt, als auch in ferner Zukunft, in der er sich einer weiteren Operation stellen musste.

Der Kapitän suchte den Weg auf das Spielfeld, er wollte zu Holger gehen. Mit einem Mal hatte er das dringende Bedürfnis ihn zu umarmen.
Holger schien ihn nicht zu bemerken, kickte munter weiter, stolperte aber plötzlich. Erschrocken blieb Philipp stehen und atmete erleichtert aus als Holger sich aufrappeln wollte. Hatte er sich also nicht verletzt… skeptisch stellte er fest, dass es nicht klappte. War das ein Schluchzen?

„Oh Holger…“, flüsterte Philipp. Er näherte sich Holger von der Seite, ging neben ihm auf die Knie und strich sanft über seinen Rücken.
„Ich bin da“, hauchte er. „Komm her.“ Philipp rang sich ein Lächeln ab und öffnete seine Arme. Er wollte ihm zeigen, dass er sich ruhig an ihn klammern konnte. Seinen Gefühlen freien Lauf lassen konnte. Wenn nicht bei ihm, wo denn dann? Philipp wusste doch am besten, was los war oder nicht?
Dabei konnte er allerdings nicht verhindern, dass sich seine Augen mit Tränen füllten, die er erfolgreich zurückdrängte. Er durfte jetzt nicht weinen, er wollte stark sein für Holger. Es tat ihm aber in der Seele weh seinen Freund so vorzufinden.

Erschöpft atmete Holger durch, schloss seine Augen und versuchte gegen diese alles erschütternde Hilflosigkeit anzukämpfen, doch es mangelte ihn an mentaler Kraft. Er wusste mit erschreckender Sicherheit, dass es nie wieder so wie früher sein würde. Egal, wie sehr ihm das auch andere einredeten, oder er sich selber auch beim Interview dazu geäußert hatte.
Wie von weiter Ferne hörte er Philipps Stimme und zuckte unter der leichten Berührung zusammen, die ihn aber nicht wie sonst beruhigte, sondern noch mehr aufwühlte. Wieso war Philipp denn gerade jetzt zur falschen Zeit am falschen Ort? Oder war es schon richtig so? Aber müsste er jetzt nicht eigentlich zu Hause sein? Er war doch so lange schon abwesend...
Zwei warme Augen musterten ihn, während Holger nicht länger an sich halten konnte und völlig aufgelöst seine Arme um Philipp legte. Fest drückte er ihn an sich. Holger begann hemmungslos zu weinen, ein beklemmendes Gefühl schnürte sich um seine Brust. „Ich halt das nicht mehr aus. Diese ganzen schlechten Nachrichten.“ Er hatte Philipp doch versprochen sich zusammenzureißen und jetzt enttäuschte er ihn mit dieser Aktion sicher zutiefst. Der Kapitän wollte doch glücklich und zufrieden das Triple feiern und jetzt musste Holger hier einen Heulkrampf veranstalten, nur weil er mit der Belastung nicht mehr fertig wurde. Mit der Belastung, dass sein Karriereende bevorstand, nicht umzugehen wusste. Dass ihn die Sehnsucht übermannte wieder Fußball zu spielen. Anstatt den Kapitän von sich zu stoßen, damit er seiner Hilflosigkeit nicht länger ausgesetzt war, verstärkte er den Griff um dessen Körper, klammerte sich schon beinahe an ihn. Er schluchzte irgendwelche Bruchstücke von dem, was in seinem Kopf herum spukte. Erwähnte das Interview, hauchte Marios Namen, dessen Verhalten für Holger auch Bände gesprochen hatte, und schaffte es gerade noch nicht laut auszusprechen, dass da Gefühle für Philipp waren, die nicht sein sollten. Allerdings zog ihn diese Tatsache zusätzlich runter.
„Phil...“, hauchte er zitternd und schluchzend. Es war der schwerste Satz, den er je aussprach und damit offen zugab. Und doch musste er sich das eingestehen. „Ich kann nicht mehr.“

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