Kapitel 49 - Gebrochenes Versprechen


Claudia hatte Pech gehabt. Philipps Eltern hatten Julian schon längst wieder abgesetzt. Sie fuhr noch etwas planlos durch die Gegend, ehe sie ihr Auto wieder nach Hause steuerte. Aber auch dort blieb sie eine ganze Weile sitzen, ehe sie ausstieg.
Philipp saß derweil mit seinem Sohn im Wohnzimmer auf dem Teppich. Sie bauten mit Bauklötzen eine Burg. Aus der Musikanlage schallten Kinderlieder. Das sollte eh gut sein für Kinder und Julian mochte Musik. Jetzt war er aber voll auf die Bauklötze konzentriert. Im Gegensatz zu Philipp, der gar nicht bei der Sache war. Die ganze Zeit dachte er an Hawaii, Claudia, Holger und Bastian. Egal, wie er sich entscheiden würde, er würde es bereuen. War doch scheiße!
Plötzlich stockte er. Das klang wie ein Schlüssel in der Tür. Als die dann wiederum ins Schloss fiel, schaute auch Julian auf.

„Mama kommt“, erklärte Philipp ihm und wenig später stand sie schon in der Tür. Aufgeregt krabbelte Julian zu ihr.


„Hey mein Schatz“, sie hob ihn hoch und gab ihm einen Kuss.

Philipp rappelte sich ebenfalls auf. „Claudia...“, zögerlich ging er auf sie zu.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, jetzt nicht. Vielleicht später.“

Er konnte es ihr nicht verübeln, nickte bloß. Claudia übergab ihm Julian.

„Ich will noch Ordnung ins Schlafzimmer bringen, bevor ich mich ums Essen kümmere.“ Damit verschwand sie wieder.

Im Schlafzimmer traten ihr Tränen in die Augen. Sie hatte gehofft, er würde sie mit den Worten begrüßen, dass er es sich anders überlegt hatte, aber es schien anders zu sein. Alles deutete daraufhin, dass er ihr seine Entscheidung noch mal erklären wollte oder so was in der Art. Aber das wollte und konnte sie gerade nicht hören. Tief atmete sie durch. Gut, wenn Philipp nicht mitkam, konnte sie ihre Unterwäsche, die sie extra gekauft hatte auch wieder auspacken.

Im Wohnzimmer patschte Julian seinem Vater lachend im Gesicht herum, lenkte ihn so wunderbar davon ab, dass er sich eigentlich Gedanken machen wollte. Aber vielleicht sollte er das wirklich mal lassen und einfach die Zeit mit Julian genießen. Immerhin gab es davon in letzter Zeit viel zu wenig.


Basti und Mario unterhielten sich noch eine ganze Weile. Nicht nur über Philipp und Holger, denn auch der Transfermarkt und Italien wurden Thema. Das Klicken der Tür unterbrach die beiden und Carina begrüßte die beiden Fußballer.

„Ich stör euch dann nicht weiter. Ciao!“ Basti lächelte noch kurz, ehe er verschwand und zu Sarah nach Hause fuhr. Er war gespannt, ob Claudia mittlerweile gefahren war oder immer noch bei seiner Freundin Trost suchte.


Philipp wusste nicht wie viel Zeit verging als Claudia wieder im Wohnzimmer erschien.

„Ich hab einfach eben Nudeln mit Soße gemacht“, erklärte sie und nahm Julian auf den Arm, der wieder zu ihr gekrabbelt war.

Der Abwehrspieler nickte. „Ist okay. Danke.“ Er stand auf und stellte sich unschlüssig vor ein Regal. Stellte den Bilderrahmen etwas anders hin.

„Ist die Jacke neu?“

Er zuckte unmerklich zusammen. Was sollte er sagen? Dass es Holgers Jacke war mit Sicherheit nicht.

„Sie ist zwar echt schön, aber gab es die nicht auch kleiner? Sie ist dir eindeutig zu groß.“ Dann verließ sie den Raum mit Julian wieder.

Philipp seufzte. Schön, wenn das Thema damit gegessen war, mussten sie es wenigstens nicht vertiefen.
Gedankenverloren zupfte er am Ärmel der Jacke. Wieder seufzte er. Er wünschte, jemand würde ihm die Entscheidung abnehmen, aber da hoffte er wohl vergebens.


Holger telefonierte am späten Abend noch mit einigen Bekannten, beantwortete Mails und sah noch fern. Philipp hatte sich nicht mehr gemeldet. War das ein schlechtes Zeichen? Vielleicht hatte er es einfach vergessen, weil er mit Packen und seiner Frau beschäftigt war. Er war eben leider nicht Mittelpunkt von Philipps Leben.
Seufzend sah er auf die Uhr und überlegte, ob er wieder raus gehen sollte, aber das vermied er schließlich. Er hatte Angst, dass es so enden würde, wie letztes Mal. Und diesesmal war er sich sicher, dass Philipp nicht zur Stelle sein würde. Und sowieso war ihm das mehr als peinlich.
Sein Weg führte ihn ins Schlafzimmer. Leise schloss der Blonde die Tür hinter sich und ließ sich auf die Matratze fallen. Mit einer Hand strich er fürsorglich über die Bettseite, auf der Philipp letzte Nacht schlief. Was würde er dafür geben sich auch heute wieder an ihn kuscheln zu können. In der Nacht seine Hand zu ergreifen und beruhigt schlafen zu können. So blieb ihm nur das T-Shirt, welches er unter dem Kissen hervorzog und an sich drückte. Natürlich nur unter dem Schutz der Bettdecke. Auch wenn niemand da war, der ihn sehen konnte. So als wollte er es vor sich selber verstecken, dass er tatsächlich ein Shirt umklammerte. Ein Shirt von Mannschaftskapitän Philipp Lahm.


Der Tag verlief nicht sonderlich gut. Claudia ging mit Julian spazieren, verzog sich dann immer in einen anderen Teil der Wohnung und blieb nie bei Philipp. Es schmerzte. Sie machte ihm richtig schön deutlich, wie sehr er sie verletzt hatte. Dabei war das doch nie sein Ziel gewesen!
Claudia ging direkt ins Bett, nachdem sie Julian weggebracht hatte. Alleine saß Philipp vor dem Fernseher. Er spielte mit dem Handy in seiner Hand. Mit irgendwem wollte er reden, aber er wollte sich auch nicht rechtfertigen. Er war doch eh schon am Zweifeln…
Philipp strich über den Ärmel der Jacke. Er hatte sie den ganzen Tag nicht ausgezogen. Warum konnte er selbst nicht erklären, es war halt so.
Als Philipp gegen halb Elf ins Bett ging, schlief Claudia schon. Er war erst in Versuchung gewesen ins Gästezimmer zu ziehen, aber das wäre albern. Leise legte er sich neben sie, betrachtete sie einen Moment und drehte ihr dann seufzend den Rücken zu. Wie konnte es nur passieren, dass seine Ehe auf der Kippe stand? War er so ein schlechter Ehemann? Konnte er nur eins sein? Guter Ehemann oder guter Freund?
Er beschloss morgen erst mal mit Jupp zu reden. Holger musste zu einem Psychologen. So etwas wie auf dem Trainingsplatz durfte nicht noch mal passieren. Nie wieder.


Den Plan setzte er auch am nächsten Morgen um. Nach einem sehr stillen Frühstück suchte er Claudia in Julians Zimmer auf. „Ich muss kurz zur Säbener Straße.“

„Du kannst ruhig sagen, dass du zu Holger fährst“, gab sie bissig zurück.

Philipp verdrehte die Augen und war froh, dass sie ihm eh den Rücken zugedreht hatte. „Ich muss mit Jupp reden und er ist heute dort und räumt sein Büro leer“, erklärte er. „Bis später.“

Sie sagte nichts mehr dazu. Vielleicht war es besser.


Bereits ziemlich früh war Holger wieder auf den Beinen. Er duschte sich, kleidete sich fertig an und ließ sich auf der Couch nieder. Die Uhr zeigte genau 7:00 Uhr. Um etwa 8:00 Uhr sollte er an der Säbener Straße erscheinen, weswegen er eigentlich perfekt in der Zeit war. Sollte er sich nicht doch auf den Weg machen? Ein Blick auf sein verletztes Bein gab ihm dann doch sehr schnell die Antwort. Dennoch griff er erst nach einigem Zögern nach seinem Handy und wählte die Nummer des Physiotherapeuten.

„Hey Holger, was gibt’s denn dringendes?“ Gerry wusste ja, dass sie sich in einer Stunde sowieso treffen würden. „Willst du mir sagen, dass du etwas später kommst, weil ihr zu viel gefeiert habt?“
Er wollte wohl witzig sein.

„Nein, ich...“ Wieder zögerte der Innenverteidiger. „Ich komme heute gar nicht.“

Schweigen am anderen Ende der Leitung, ehe ein irritiert klingendes „Warum nicht“ zu hören war.

Holger kam gar nicht zum Antworten, da kam ihm Gerry schon zuvor.

„Wenn es deshalb ist, dass du die Schmerzen bei den Übungen nicht ertragen kannst, dann kann ich dich beruhigen. Wir gehen da ganz schonend vor.“

„Darum geht es nicht“, erklärte Holger und versuchte zu erläutern, warum er sich dazu entschlossen hatte heute, und auch morgen oder übermorgen nicht an die Säbener Straße zu kommen, um die Reha zu absolvieren. Er merkte, dass Gerry es nicht wirklich verstand, aber er konnte es dem Physiotherapeuten nicht übel nehmen. So mager, wie er das alles ausgedrückt hatte, wären wohl sogar Philipp die Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. An diesen dachte er in dem Moment, als er das Telefonat beendete. Wenn er davon erfuhr, war er sicher nicht begeistert, aber er würde so schnell sowieso nicht davon erfahren. Der Triple-Sieger hatte Urlaub und dazu keinen Grund, warum er zum Trainingsplatz sollte.


Philipp lenkte seinen Audi in die Tiefgarage und begab sich ins Innere des Gebäudes. Vor dem Büro von Jupp Heynckes blieb er stehen und klopfte brav.

„Herein.“

Der Kapitän öffnete die Tür und Jupp schien sichtlich überrascht zu sein.

„Philipp, was führt dich zu mir?“ Der Trainer war gerade dabei eine Kiste zu packen. Im Arm hatte er einige Bücher.

„Es geht um Holger.“

Sofort legte Jupp die Bücher weg und deutete auf einen kleinen Tisch mit zwei Sesseln. „Setz dich.“

Philipp erzählte nur ganz grob davon, dass es Holger schlecht ging und er zusammengebrochen war. Er erwähnte es zwar noch mal, aber trotzdem war beiden klar, dass dies ein vollkommen vertrauliches Gespräch war. Jupp würde es auch nicht erwähnen, wenn er Holger auf den Psychologen ansprechen würde.

„Ich werde gleich mit ihm reden“, Jupp schaute auf die Uhr. „Gleich müsste die Behandlung vorbei sein.“

„Wie? Er ist hier?“ Philipp war durchaus überrascht.

Jupp nickte.

„Willst du auch noch mal mit ihm reden?“

„Nein, ich werde lieber fahren. Er soll nicht wissen, dass ich hier war.“

Beide erhoben sich und verließen gemeinsam das Büro. Während Philipps Weg zum Auto führen sollte, wollte Jupp zu Holger gehen, aber sie kamen nicht weiter als aus der Tür raus.

„Gerry? Bist du schon fertig mit Holger?“ Sie liefen ziemlich überrascht dem Physiotherapeuten in die Arme, der nicht minder überrascht aussah.

„Hat Holger sich denn nicht bei Ihnen gemeldet? Na gut, es betrifft Sie ja nicht mehr. Er will nicht mehr kommen.“

„Was?“ Philipp glaubte sich zu verhören. Gerry sagte mehr dazu, aber der Kapitän war abwesend. In seinem Gehirn arbeitete es. Wieso wunderte ihn das eigentlich nicht?

„Philipp, willst du zu ihm fahren?“ Jupp sprach ihn bewusst direkt an.

Er nickte. War ihm das so sehr anzusehen?

„Gut, mach das. Ich werde wohl heute Nachmittag bei ihm vorbeischauen, wenn ich hier mit dem Gröbsten durch bin“, erklärte der Trainer und lächelte Philipp an.

Dieser nickte. Sie verabschiedeten sich und der Verteidiger setzte sich in sein Auto und fuhr direkt zu Holger. Hatte Claudia also doch Recht gehabt.


Jupp suchte noch das Gespräch mit Gerry, der ihm schilderte, was Holger am Telefon alles gesagt hatte und erklärte, warum er nicht mehr kommen wollte. Philipp hatte vollkommen Recht. Der Junge brauchte Hilfe. Dass er nicht schon eher darauf gekommen ist, dass es Holger so schlecht gehen könnte, ärgerte den alten Trainer selbst. Jupp entschied sich wieder zurück in sein Büro zu gehen und aus der gepackten Kiste ein Adressbuch zu ziehen, in dem er alle wichtigen Nummern aufgeschrieben hatte. Er suchte gezielt unter dem Buchstaben „E“ und zückte sein Handy, um die notierte Nummer von Dr. Engbert zu wählen. Die beiden kannten sich gut, Kai war schon des Öfteren bei den Nachwuchsspielern des FC Bayern als Sportpsychologe tätig und der ehemalige Trainer war sich sicher, dass genau er der Richtige war und Kai Holger bestimmt helfen konnte.

Holger war gerade dabei seine Wohnung auf Vordermann zu bringen, da seine Mutter mit seiner Schwester sich angekündigt hatten. Es sah zwar allgemein nicht unordentlich aus, aber er mochte es eben nicht, wenn ein paar Sachen herum lagen. Während er die Controller in einem Schrank verstaute, klingelte sein Handy. Langsam drehte er sich zum Couchtisch und wunderte sich über Jupps Anruf. Obwohl wundern brauchte er sich nicht. Vermutlich hat Gerry erzählt, wofür er sich entschieden hatte.
Ziemlich verhalten begann auch das Gespräch. Es war wie Holger es sich gedacht hatte. Jupp wusste Bescheid, aber er ahnte noch nicht, dass Philipp auch seinen Teil dazu beitrug.

„Es ist schwierig, aber du musst dran bleiben“, redete er auf ihn ein. Dem Trainer ließ das einfach keine Ruhe und wollte nicht bis Nachmittag warten.

Holger seufzte stumm. Brachte es denn was, wenn sie diskutierten?

„Ich habe eben mit Kai über dich gesprochen. Mit Kai Engbert.“

Der Name sagte Holger selbstverständlich was, weswegen er panisch die Augen aufriss. Ein Psychologe? Nein, er hatte Philipp gestern schon gesagt... Moment! Da gab es doch garantiert einen Zusammenhang. Der Kapitän hatte ihn also an Jupp verraten, auch wenn der Trainer das nicht offen darlegte. Er glaubte nicht, dass nur durch das Gespräch mit Gerry so etwas zustande kam, dass Jupp so darüber redete, als würde er total abstürzen. Von diesem Augenblick an wusste Holger, dass der Kapitän seine Finger im Spiel hatte und war darüber alles andere als erfreut. Er hatte es doch verdammt nochmal versprochen das gestrige Erlebnis für sich zu behalten!

„Ich habe für dich einen Termin bei ihm gemacht“, äußerte sich Jupp in bestimmender Tonlage.

„Aber -“

„Nein, nichts aber. Du gehst dahin, ohne wenn und aber. Das ist eine Anweisung, Holger. Der hast du nachzukommen.“ Jupp ließ den Innenverteidiger gar nicht mehr zu Wort kommen.
„Wir wollen alle, dass du als Spieler zurückkommst und das geht nur, wenn du deine Reha weitermachst. Und damit du genau das tust, brauchst du Hilfe, die dich mental stärkt. Ich werde heute Nachmittag noch bei dir vorbeikommen, dann reden wir darüber und ich sage dir auch, wann dein Termin ist und wo du hinkommen musst.“

Dann legte er auf. Das war also beschlossene Sache, so wie sich das anhörte. Holger warf das Handy auf die Couch und lehnte seinen Kopf erschöpft gegen die Wand. Das hatte Philipp ganz toll hinbekommen. Er hatte mittlerweile keinen Zweifel mehr daran, dass er nicht ganz unschuldig daran war. Er war enttäuscht von ihm, jetzt konnte er nicht einmal mehr dem Kapitän vertrauen.

Philipp verstand es nicht. Er verstand beim besten Willen nicht, warum Holger nicht dort aufgekreuzt war. Also er hatte natürlich einen Verdacht, aber… er verstand es trotzdem nicht. Auch nicht als er in der Straße hielt und ausstieg. Er eilte förmlich zur Haustür und klingelte.
Holger war Zuhause, das wusste er. Aber er wusste auch, dass er nicht besonders erfreut sein würde ihn zu sehen. Oder? Philipp hoffte, dass er sich irrte. Wenn Holger eh nicht gut gelaunt war, wollte er sicher keine Predigt hören.

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