Kapitel 25 - Vorwürfe 2.0



Philipp schien nicht mit diesem Thema gerechnet zu haben. Was der Grund für sein anfängliches Herumdrucksen war. Aber was hatte er auch erwartet? Dass er freudig zu erzählen begann, dass er ihm misstraute?
Holger unterbrach ihn nicht, sondern sah ihn erwartungsvoll an, wie er seinen Standpunkt schildern würde. Es war nicht so, dass er ihn nicht verstand, dass er an den Worten in der SMS zweifelte, aber doch war es blöd zu wissen, dass Philipp ihm mittlerweile so misstraute. War es schon so weit gekommen? Holger hatte den Kapitän schon viel zu oft zurückgestoßen, das musste der Grund für diese Zweifel sein.

„Ich hätte nicht zweifeln sollen, aber du…“

„Was?“ Holger drehte seinen Kopf zu Philipp, sah ihn an, dieser allerdings hatte den Blick auf den See gerichtet. „Ich war selbst Schuld, dass du gezweifelt hast? Weil ich bei jedem zweiten Wort austicke? Weil ich nicht von selbst drauf komme, dass dich so eine SMS runterziehen könnte? Oder wegen was, Phil?“
Wenigstens sah er ein, dass er sich an ihn hätte wenden sollen. Aber so begriff er das erste Mal, warum Philipp das nicht machte. Er hatte Angst vor einer Diskussion, vor einem Streit oder einer Auseinandersetzung, in der Holger ihn wieder von sich gestoßen hätte. Da konnte er ihm jetzt nicht einmal Vorwürfe machen.

Wow, da war Holger ja mal erschreckend ehrlich. Vermutlich nicht nur zu Philipp, sondern auch zu sich selbst.
„Ich hätte dich fragen sollen und nicht einfach Mario“, murmelte er. Allerdings kam ihm die Frage auf, warum Mario das gepetzt hatte. Er erzählte Holger, dass Basti dessen SMS kannte und jetzt auch noch, dass er Zweifel gegenüber Holger hegte. Was sollte das? Er schnaubte leicht auf.
„Als Sekretärin wäre er wohl für den Flurfunk verantwortlich.“

Holger folgte Philipp Blick, zog aber leicht die Stirn kraus.
„Willst du ihm vorwerfen, dass er mir die Wahrheit erzählt? Ich bekomme hier in Vail ja eh fast nichts mit.“ Oder wie durfte er Philipps Schnauben verstehen?

„Ich weiß einfach nicht, woran ich bei dir bin“, sagte der Kapitän fest und drehte den Kopf, dass er Holger direkt in die Augen sehen konnte.

Der plötzliche Blickkontakt ließ Holger inne halten und den Kapitän entgeistert ansehen. Worauf bezog er das denn nun? Etwa auch auf den gestrigen Kuss? Holger wurde nervös, er wusste selbst nicht, wo dieses Verlangen ihn zu küssen herkam. Der Innenverteidiger legte sich bereits zurecht, mit was er kontern würde, als Philipp ihm näher erklärte, was er damit auszudrücken versuchte. Es war keine Rede von dem Kuss, aber trotzdem fühlte er sich unwohl.

„Ich verstehe, dass es schwer für dich ist und ich akzeptiere es, wenn du mich von dir stößt, aber trotzdem weiß ich nie... also das ist die eine Seite und die andere ist das, was Montag war. Du hast so unbeschwert gelächelt als du mich gesehen hast.“ Philipps Lächeln enthielt fast schon eine Spur Traurigkeit.
„Und dennoch hast du mich wieder abgewiesen und dann das Telefonat mit Mario… was sollte ich denn danach denken? Du verwirrst mich einfach. Ich will aber Mario auch nicht vorwerfen, dass er dir die Wahrheit erzählt. Aber irgendwie regelt er das gerade zwischen uns oder will es regeln oder so, frag mich nicht, aber er muss sich da doch nicht einmischen und dir erzählen, was wir am Telefon bequatscht haben!“
Ja, das fand Philipp wirklich nicht gut.

Bildete Holger es sich ein oder lächelte Philipp wirklich traurig? Nahm ihn das alles so sehr mit? Aber was sollte das? Wollte er ihm ein schlechtes Gewissen vermitteln? Wollte er jemanden, der schon am Boden lag, nochmal treten, nur damit er sich noch schlechter fühlte? Warf er ihm mit diesen Worten vor, dass er kein Dauergrinsen hatte?
„Also erstmal, entschuldige bitte, dass ich nicht ganz so guter, definierbarer Laune bin. Wenn ich mir das Kreuzband ein drittes Mal reiße, schmeiß ich 'ne Party, versprochen“, meinte Holger
zynisch.

War das jetzt etwa sein ernst? Philipp hatte doch nicht verlangt, dass er immer freudestrahlend durch die Gegend läuft. Aber er ließ ihn erst mal reden.

„Hast du dich denn mal gefragt, warum ich dich abweise?“ Weil er manchmal mit Philipps Nähe überfordert war, die ehrliche, korrekte Antwort. Aber die galt es auszublenden, denn es gab da noch einen weiteren, nicht minder ehrlichen Grund.

Philipp zuckte etwas zusammen. Sollte das heißen, dass alles, was er tat, falsch war? Oder empfand Holger es in seinem Starrsinn nur so? Irgendwie wuchsen seine Schuldgefühle.

Mario drängte sich wieder in Holgers Gedanken. „Dir passt es doch nur nicht, dass Mario mir das erzählt hat, oder? Was hätte er denn denken sollen, als du ihn nach der SMS fragst?“ Es lief wie immer. Sie entfernten sich aus dem Krankenhaus, schwiegen sich an und dann endete alles in einer Diskussion, bei der keiner nachgeben wollte. Obwohl doch. Philipp gab nach. Aus Mitleid.

„Man, natürlich passt es mir nicht! Aber mir passt so vieles nicht“, fing Philipp schließlich an.
„Ich erwarte gar nicht, dass du immer gute Laune hast. Ich weiß doch, wie scheiße das ist, aber lass deine schlechte Laune bitte nicht an mir aus. Und wenn ich schuld daran bin, dass du mich immer wieder zurückstößt, dann sag mir das doch einfach mal, verdammt! Sprich mit mir, aber bitte vernünftig. Ich weiß, dass ich auch mit dir hätte reden sollen wegen der SMS, aber… ich habs halt nicht getan. Du hast ja auch nicht mit mir geredet, also sind wir Quitt, oder?“ Er lachte leicht auf. Aber es klang irgendwie höhnisch.

„Was passt dir denn noch alles nicht?“, unterbrach Holger ihn schroff. War Philipp in der Position sich großartig zu beschweren? Gut, vielleicht über ihren Umgang miteinander, aber sonst? Erst gestern in der Eisdiele hatte er ihm doch vorgeschwärmt, wie toll es bei ihm lief.

Philipp ließ die Frage offen. Was sollte er antworten? Dass es Holgers Launen waren, die ihm nicht passten? Und wenn er ehrlich war, dann passte es ihm auch nicht, dass sie nicht über den Kuss redeten. Eigentlich wollte er es selber nicht, aber dann doch wieder irgendwie. Eine sehr verzwickte Situation.

„An wen soll ich sie denn sonst auslassen? Du hast mir ja gestern wieder deutlich vor Augen geführt, dass ich niemanden habe. Ach und wenn wir schon bei dem Thema sind und ich dir sagen soll, wenn du dich falsch verhältst, ist gestern das beste Beispiel. Das war taktlos. Schwärmst mir von deinem perfekten Leben vor und denkst nicht einmal mit, wie scheiße das für mich ist. Ist ja toll, dass es bei dir so läuft und ja, ich weiß, dass ich selber nachgefragt hab, aber da hab ich ja nicht erwartet, dass du so dermaßen ausschweifend wirst!“

Holger redete weiter, warf ihm vor, dass er gestern von seiner Familie erzählt hatte… das konnte Philipp nicht glauben. War er jetzt auch noch schuld daran, dass Holger keine Freundin hatte oder was? Wieder schwieg er und schluckte seine Worte einfach herunter. Es war besser so. Was brachte es, wenn sie sich jetzt gegenseitig Vorwürfe machen würden? So zogen sie sich doch beide nur noch weiter runter.
Philipp fuhr sich durch seine Haare und legte den Kopf für einen Moment in den Nacken, ehe er Holger direkt in die Augen sah. „Sei bitte ehrlich: also ist es okay für dich, wenn ich hier bin?“
Eigentlich wollte er fragen, ob er sich freute, dass er hier war, aber im letzten Moment hatte er seine Frage dann geändert. Er wollte es ja mal nicht übertreiben, außerdem würde er sonst den Kuss von gestern daraus auslegen und dann würde seine Theorie, dass Holger Gefühle für ihn hatte wohl akut sein. Und das wollte er nicht denken, wenn er es nicht wusste. Eigentlich sollte er da gar nicht mehr dran denken… eigentlich.

Holger schnaubte und lehnte sich genervt und achtlos mit den Schultern zuckend auf der Bank zurück. „Weiß nicht. Frag doch Mario.“
Holger kam sich vor wie auf dem Spielfeld. Er regte sich auf und war auf 180. Scheiße... was warf er Philipp da an den Kopf? Er verwirrte Philipp und das war kein Wunder. Im Moment wusste Holger aber selbst nicht wo ihm der Kopf stand.

Im nächsten Moment war es als würde sein Herz kurz schmerzen.
Er wusste es nicht? Also konnte er ja doch gleich wieder fliegen. Philipp fragte sich, was er eigentlich hier machte. Wobei… doch, er wusste es. Er machte sich lächerlich.

„Es tut mir Leid. Man, natürlich ist es okay, wenn du da bist.“ Holger rutschte bis an die Kante, beugte sich nach vorne und stützte seinen Kopf auf die Hände, mit denen er angestrengt durch seine Haare fuhr. „Es wird alles wieder anders, besser und normaler... irgendwann.“ Er versuchte zu lächeln, sich selbst und Philipp Mut machen, dass sie irgendwann wieder normal miteinander umgehen konnten.

Obwohl er sauer war, konnte der Kapitän nicht anders als Holger, wie er so nach vorne gebeugt da saß, einen Arm um die Schultern zu legen und ihn zu sich zu ziehen. Es fehlten ihm aber die Worte. Was sollte er sagen? Waren sie nicht gerade noch am Streiten? Und jetzt? Irgendwie wollte Philipp ihn trösten, aber er wusste, dass Holger keinen Trost und kein Mitleid wollte.
In gewisser Weise erschöpft lehnte er seinen Kopf an Holgers Schulter.

Gezielt war Holger Philipps Blicken ausgewichen. Das war auch besser so. So erkannte dieser nicht, dass Holgers Mimik sich dagegen sträubte in seine Arme gezogen zu werden. Das war doch Mitleid hoch zehn! Und erst recht wollte er sich wehren, als Philipp endlich etwas sagte.

„Ich will dir helfen, ich will für dich da sein, aber ich weiß nicht wie“, flüsterte er. „Weil ich mit deinen Stimmungsschwankungen nicht umgehen kann, das tut mir leid. Und wenn ich daran schuld bin, dann tut es mir auch leid, aber dann sollte ich vielleicht doch schon heute wieder zurückfliegen…“ Ihm gefiel der Gedanke nicht, aber es machte doch Sinn, oder? Dieses ewige hin und her war doch für Holger sicher alles andere als gut. Und es war ja nur „okay“, dass er da war. Gut, er hatte die Frage auch so gestellt, aber irgendwie wäre es ihm lieber gewesen, wenn Holger ihm bestätigt hätte, dass er wirklich froh war, dass Philipp da war.
Er überlegte seinen Arm zurückzuziehen. Er passte nicht so ganz zu seinen Worten, aber irgendwie war es schön so.

In Holger zog sich alles zusammen. Es war nicht die Aussage, dass er mit seinen Stimmungssschwankungen nicht klar kam. Nein, die Tatsache, dass Philipp heute fliegen wollte, schmerzte. Hatte er ihn so sehr von sich gestoßen, dass jetzt ein ganzer Tag schon zu viel war, an dem er Holger noch ertragen musste? Holger war enttäuscht. Von Philipp, aber auch von sich. Weil er sich nicht zurückhalten konnte.
Zögerlich schlang Holger seine Arme um Philipp. Ganz vorsichtig, aus Angst, Philipp könnte sich jetzt von ihm abwenden. „Bitte lass uns jetzt aufhören. Damit uns gegenseitig weh zu tun. Ich will dich doch nicht ständig wegstoßen, ich will das wirklich nicht.“ Sein Griff um den Kleineren wurde fester und fester. Er wollte ihn im Moment nicht loslassen. Ihn nicht mehr von sich stoßen.

DieUmarmung passte nicht wirklich zu dem, was sie sich vorher gegenseitig an den Kopf geworfen hatten. Aber das war gerade egal. Philipp lächelte leicht, als er spürte, dass Holger die Umarmung erwiderte. Er atmete erleichtert aus. Das tat wirklich gut.
„Oh Holger“, flüsterte Philipp und fuhr durch seine Haare, während Holgers Griff fester wurde. Was hatte er eben gesagt? Heute schon fliegen? Nein, er konnte ihn doch nicht alleine lassen.
„Ich will das doch auch nicht“, gab er zu. „Mich macht das alles fertig. Ich bin doch hier um dich aufzuheitern, dich zum Lächeln zu bringen und… ach, ich fange schon wieder davon an“, Philipp atmete tief ein, ehe er seufzte. Irgendwie war das schön Holgers Geruch so intensiv wahrzunehmen.
Sanft fuhr er durch die blonden Haare. Holger hielt ihn so fest, dass Philipp sich gar nicht traute ihn loszulassen. Er wollte aber auch nicht. Er fühlte sich wohl dort. Aber langsam wurde es komisch, oder? Also für Außenstehende. Oder war es egal, was die dachten? Es war egal.

Ein kleiner Stein fiel Holger vom Herzen, als sich Philipp nicht löste, sondern ihm sogar durchs Haar strich und die Umarmung nicht löste.
„Schon gut, lass uns einfach nicht mehr davon reden“, flüsterte Holger und war in Versuchung hinterher zu schieben, dass sie am besten überhaupt nicht mehr reden sollten, dann konnte man sich auch nicht mehr hochschaukeln. Holger lehnte sich gegen die Umarmung und schloss beruhigt die Augen. Er hatte Philipp so übel beschimpft, man konnte schon fast sagen, ihm mit seiner Laune das Leben zur Hölle gemacht und ihm den Aufenthalt gründlich vermiest. Und trotzdem blieb er hier, saß mit ihm auf dieser Bank und stieß ihn nicht als Retourkutsche ebenfalls weg. Holger dachte zwar wieder kurz daran, ob es eben das berühmt berüchtigte Mitleid war, aber hatte Philipp nicht in der Eisdiele gesagt, dass er gern bei ihm war, weil er ihn mochte?
Es brachte aber nichts darüber nachzudenken. Hundert prozentige Gewissheit hatte Holger nie, warum sich Philipp so verhielt.

Das war wohl das Beste, weswegen Philipp auch bloß nickte und nichts mehr dazu sagte. Aber früher oder später würden sie das doch tun, da war er sich sicher. Warum mussten sie sich eigentlich selber so quälen? Es war doch total bescheuert eigentlich.

Wie lange sie wohl jetzt schon in den Armen des anderen lagen? Es tat dem Innenverteidiger fast schon zu gut, wie Philipp durch seine Haare fuhr. Erst als etwas Hartes auf seinen Kopf prallte, über den der Ältere gerade noch zärtlich gestrichen hatte, riss er die Augen auf und löste sich abrupt von Philipp.

„Au! Scheiße, was war das denn jetzt?“
Holger drehte seinen Kopf und rieb sich die Aufprallstelle, während er einen Fußball, der gerade auf die Wiese kullerte, entdeckte. So schnell konnte dieser Moment also vorbei sein. Holger wusste nicht, ob er sich mehr über den Ball, der seinen Kopf getroffen hatte, ärgerte oder über die Tatsache, dass er sich deshalb so abrupt von Philipp gelöst hatte.

„Schaut mal, ist er das?“ - „Ja, ich glaube schon.“ - „Wollen wir hingehen?“

Entgeistert drehte sich Holger um und erspähte einige Kinder, die unschlüssig aus sicherer Entfernung jemanden anvisierten.



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