Kapitel 58 - Zufluchtsort



Mit einem nachdenklichen Blick in sein Spiegelbild zog er den Reißverschluss seiner dunklen Regenjacke bis ganz nach oben. Das Wetter war wirklich alles andere als sonnig, deshalb war es gut für einen möglichen Regenschauer gewappnet zu sein. Mühselig trottete er aus dem Gästezimmer und bemühte sich vorsichtig die paar Treppen hinunterhumpeln, bis er durch das Klingeln an der Tür erschrak und inne hielt. Lediglich einen Schritt musste er machen, um neugierig aus dem Fenster zu schauen, wodurch er einen perfekten Blick auf die Straße erhaschen konnte.
„Oh nein...“ Er schüttelte den Kopf und wiederholte seine Aussage einige Male. Das war doch Philipps Auto, oder? Natürlich war es das. Wer sonst durfte dieses Kennzeichen haben?
Auch wenn es Holger sowieso schon klar war, hörte er, wie Ute die Tür öffnete und den Kapitän begrüßte. Irgendwie klang das nicht mal sonderlich überrascht... hatte sie etwa...?
Holger hätte den beiden am liebsten die Krücken vor die Füße geworfen und wäre abgehauen. Irgendwohin, wo alles besser war. In eine Traumwelt, in der er sich alles so zurecht rücken konnte, wie er es gerade haben wollte.
Zögerlich schielte er um die Ecke. Immer darauf bedacht, dass Philipp ihn nicht erkennen konnte. Wieder schlug sein Herz schneller und er spürte, dass seine Gefühle überhaupt nicht abgeflacht waren. Und eigentlich war er nicht einmal mehr sonderlich sauer... die Sehnsucht im Moment überwog. Und trotz dieses Gefühls konnte er keinen Schritt auf ihn zugehen. Wie eine Schranke, die bei jeder Regung nach unten klappte und ihm den Weg zu Philipp versperrte.

„Ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist“, war Ute von Anfang an ehrlich, als sie Philipp herein bat. Sie führte ihn in die Küche und bot ihm dort einen Platz an. Sie wollte erst mit ihm reden, bevor sie ihn zu Holger schicken würde. Sie musste jetzt einfach Gewissheit haben.

Philipp folgte Ute in die Küche. Es wunderte ihn weniger, dass Holger nicht dort war. Er hatte sich fast schon gedacht, dass sie mit ihm kurz alleine reden wollte. Es überraschte ihn auch nicht, dass sie den Smalltalk wegließ und gleich zur Sache kam, allerdings tat es ihre Frage.


Holger nutzte es aus, dass Ute mit Philipp in die Küche verschwand. Das verschaffte dem Innenverteidiger genügend Zeit unbemerkt das Haus zu verlassen und davon zu humpeln. Er ging dahin, wo er eigentlich auch geplant hatte hinzugehen, bevor der Kapitän hier aufkreuzte. Mit ihm reden war jetzt nicht möglich, das ging einfach nicht. Obwohl er sich danach sehnte in seinen Armen zu liegen, die Augen zu schließen, seinen Duft einzuatmen und ihn an seiner Seite wissen. Nichts würde er jetzt lieber tun...


„Ich denke, wir müssen nicht wirklich ausführen, was bei Holger los ist.“ Ute setzte sich gegenüber vom Kapitän des FC Bayern und strich sich unruhig mit einer Hand über die andere. „Ich kenn mich zu wenig aus, … aber wie ist das nun eigentlich mit dieser Re-Ruptur? Stehen Holgers Chancen wirklich so schlecht, dass es so wie früher wird? Ganz ohne Grund wird er sich das doch nicht in den Kopf gesetzt haben, oder?“ Eine gewisse Angst verspürte sie schon. Was wenn Philipp auch der Meinung war, dass er womöglich einiges an Leistung einbüßen musste? Wenn ihr kleiner Bruder also die ganze Zeit Recht behielt. Abwartend sah sie ihn an. Ute wollte die Wahrheit, egal wie diese auch ausfallen möge.

Er zögerte mit seiner Antwort etwas, denn seine Worte sollten gut überlegt sein.
„Weißt du, es gibt Spieler, die haben sich zweimal das Kreuzband gerissen, sogar dreimal. Bei jedem verheilen diese Wunden anders aber das wichtigste an der ganzen Sache ist der Kopf. Holger muss es wollen und dafür arbeiten. Natürlich ist die Chance da, dass er zurückkommt. Sie ist sogar recht groß. Ob er wieder so gut wird wie früher ist die andere Sache, dass kann niemand genau sagen. Aber wenn Holger sich jetzt schon aufgibt, dann stehen die Chancen richtig schlecht.“
Er seufzte stumm und richtete den Blick auf die Kerze, die auf dem Tisch stand. „Ich weiß nicht, woher das kommt, dass er sich so darauf fixiert hat, dass er eh nicht mehr spielen kann. Vielleicht weil die Zeit nach dem ersten Kreuzbandriss so hart war und jetzt weitere zehn Monate auf ihn zukommen.“ Er richtete den Blick wieder auf Ute. „Hat sich denn gar nichts in dieser Woche getan? Ich meine, ich hab keine Wunder erwartet, aber gehofft, dass er wenigstens ansatzweise zur Besinnung kommt.“
Wobei eigentlich hatte Philipp das hauptsächlich in Bezug auf ihr beider Verhältnis untereinander gehofft. War Holger denn überhaupt bei einem Psychologen? Oder konnte Jupp gar nichts erreichen? Langsam war Philipp mit seinem Latein am Ende. Wenn er sogar hier bei seiner Schwester war und die nicht wusste, was sie tun sollte, wie sollte er denn dann helfen können? Vor allem nach dem Streit.


Holger überquerte eine Straße, hob den Kopf leicht an und erblickte schon von weitem das hohe Kreuz inmitten des großen Grundstücks des Friedhofs. Doch, jetzt gab es etwas, was er lieber tun würde. Utes Worte brachte den Innenverteidiger ungewollt zum Nachdenken.


Ute hätte sich das eigentlich auch denken können. Es gab eine Chance, aber um diese realisieren zu können, musste Holger mitspielen. Und genau da lag das Problem. Auf Philipps Frage hin konnte sie nur mit den Schultern zucken. Sie dachte ja selbst, es würde sich bessern. „Ich weiß nicht, was sich dieser Sportpsychologe dabei gedacht hat, als er Holger Heimaturlaub verordnet hat.“

Ute beantwortete also die Frage nach dem Psychologen. Der lag mit dem Heimaturlaub sicher nicht falsch, aber anscheinend war das unwichtig neben ihrem Streit. Es lag doch an ihrem Streit, oder?

Sie versuchte leicht zu lächeln, als sie den Kapitän ansah. Sie musste auch wegen der anderen Sache mit ihm reden und es wäre dumm damit hinter dem Berg zu halten. „Die Re-Ruptur ist eben nur die eine Sache, Philipp. Jedes Mal, wenn auch nur ansatzweise dein Name fällt, tickt er aus. Ich kenne meinen Bruder ja, er führt sich oft auf wie Rumpelstilzchen höchstpersönlich, aber so extrem war es dann doch noch nicht. Ich habe ihn einige Male gefragt, ob etwas vorgefallen ist, aber entweder man bekommt eine patzige Antwort oder er blockt komplett ab. Trotzdem weiß ich, dass ihn das zusätzlich belastet.“ Im Grunde war es die unausgesprochene Bitte, dass Philipp einen Schritt auf ihn zugehen sollte. Sie seufzte leise, wandte den Blick ab und stand auf, um sich gegen die Küchentheke zu lehnen. „Wieso musste dieser zweite Kreuzbandriss nur sein? Aber es bringt ja nichts. Man muss es so nehmen, wie es ist.“ Zum wiederholten Mal in diesen ganzen Tagen, die sie mit Holger verbrachte, zwang sie sich ein Lächeln aufs Gesicht. „Holger ist oben im Gästezimmer.“

Auf jeden Fall zog sich wieder mal alles in Philipp zusammen. Es schmerzte zu hören, wie sehr Holger unter dem Streit litt. War es mehr die Ohrfeige oder die Worte? Oder lag es nur daran, dass er zu Jupp gegangen war?
Philipp seufzte stumm. Er wusste, dass er im Recht lag, trotzdem fühlte er sich schlecht. Er hätte nicht fliegen sollen.
„Wo ist das Gästezimmer?“, fragte er bloß und ging auf das andere gar nicht mehr ein.

Ute schien erleichtert zu sein, als sie ihm antwortete: „Zweite Tür links.“

Der Kapitän stand auf und legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. „Wir kriegen ihn schon wieder hin.“ Zumindest hoffte er das.

Er verschwand also aus der Küche und ging die Treppe hoch. Mit jedem Schritt schlug sein Herz schneller. Was sollte er ihm sagen? Würde Holger sauer sein, dass er hier aufgekreuzt war? Würde er ihn rausschmeißen? Anbrüllen? Ignorieren?
Unsicher klopfte er, aber es kam keine Reaktion. Er klopfte noch mal lauter. Wieder keine Reaktion. Nach dem dritten Mal drückte er die Klinke herunter und schob die Tür langsam auf. Ganz vorsichtig schaute er um die Ecke. „Holger?“, fragte er zaghaft. Als erstes erkannte er den Schreibtisch, dann ein Bett und schließlich war dort eine Kommode. Aber kein Holger. Wo war er denn hin?
Philipp wollte gerade wieder gehen, als sein Blick auf etwas fiel, was unter dem Kopfkissen hervor lugte. Neugierig trat er näher. War das etwa… er nahm den Stoff unter dem Kissen hervor. „Mein Shirt“, flüsterte er verwirrt. Warum hatte Holger es mitgenommen, wenn er doch scheinbar so sauer war auf ihn? Oder zeigte es nur, dass er Holger trotz der ganzen Sache doch gut tat? Es war auf jeden Fall richtig gewesen, dass er es damals nicht mitgenommen hatte als er es in Holgers Bett gefunden hatte.
Vorsichtig legte er es wieder unter das Kissen. Ein leichtes Lächeln umspielte dabei seine Lippen. Es war irgendwie ein gutes Gefühl zu wissen, dass er in gewisser Weise bei ihm gewesen war obwohl er im Urlaub war.
Das alles brachte aber nicht plötzlich Holger ins Zimmer. Also ging er wieder zurück.

Ute sah ihn überrascht an als Philipp so schnell wieder in der Küche stand.

„Er ist nicht da“, erklärte er ihr. „Wollte er vielleicht weg?“

„Nein“, sie schüttelte den Kopf. „Das wäre mir neu.“

„Vielleicht hat er mein Auto gesehen.“ Philipp stellte fest, dass es unklug war direkt vor dem Haus zu parken, aber jetzt war es eh zu spät. „Wo kann er denn sein?“

Holgers Schwester wirkte nachdenklich. „Ich glaube… Philipp, weißt du wo der Friedhof hier ist?“


Immer wenn Holger den langen Weg auf dem Friedhof entlang schritt, glaubte er, dass alles andere aus dieser Perspektive ganz weit weg und nichtig geworden war. Die Probleme erschienen so in einem ganz neuen Licht. Er mochte diese Ruhe, die hier auf dem Friedhof, herrschte. Hier konnte er nachdenken bei dem Menschen, der ihm so unglaublich viel bedeutete und doch nicht mehr Teil seines Lebens sein durfte.
Holger bog fast schon unauffällig wie ein Schatten nach rechts ab und fand sich vor dem Familiengrab wieder. Trist schimmerte der Grabstein in einem leichten Grauton, während der Blumenschmuck mehr Farbe verlieh und dem Ganzen ein beinahe idyllisches Bild schenkte. Das Wetter passte zu Holgers momentanen Gefühlslage. Stumm zogen sich seine Mundwinkel nach unten und seine Augenlider senkten sich. Er wollte gar nicht wissen, welche Worte im Gespräch von Ute und Philipp über ihn gefallen waren. Es war doch auch egal, was sie alle von ihm dachte. Die schlimmste Meinung kannte er ja schon und das war die, die er über sich selber hatte. Früher wäre ihm nie über die Lippen gekommen, dass er nicht mehr auf den Platz zurückkehren würde.
Holger hob seinen Blick an und ihm war mittlerweile längst bewusst, wie sehr er seinen toten Vater, mit seinem Entschluss aufzugeben, enttäuschte. Er hatte ihm versprochen immer für seine Träume zu kämpfen, das war das, was er ihm lehrte und sich erhoffte sein Sohn würde es beherzigen. Immer und zu jeder Zeit, egal um welche Lebenslage es sich auch handelte.
Unweigerlich erinnerte Holger sich daran, wie sie beide im Garten Fußball spielten und sein Vater den Wunsch äußerte, dass er mal beim FC Bayern spielen sollte. Genau dieses Versprechen gab er seinem Vater an seinem Sterbebett und erfüllte es.
Ohne es verhindern zu können, liefen ihm stumm Tränen über die kalten Wangen und wurden vom leichten Wind erfasst.
„Ich war so dumm...“, murmelte er hauchend. „Wie konnte ich nur glauben, dass es mich glücklicher macht, nicht mehr um meine Karriere zu kämpfen?“ Seine Worte waren lediglich einem unverständlichem Flüstern zuzuschreiben.
„Ich will doch wieder Fußball spielen... ich will zurückkommen“, sprach er deutlich entschlossener und etwas lauter aus. Wer sollte ihn hier schon hören? „Ich werde dafür kämpfen und schaffe das, Papa“, wisperte er wieder leiser. Das zweite Versprechen, das er ihm gab. Er würde alles daran setzen, es in Erfüllung gehen zu lassen.


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