Fragen, Antworten und ihre Bedeutungen



Philipp tat diese Umarmung unendlich gut. Lange hatte er nicht mehr solche Berührungen genießen dürfen, weil er sie einfach auch nicht zugelassen hatte. Von niemandem hatte er umarmt werden wollen. Jetzt bei Holger war das anders. Die starken Arme vermittelten Geborgenheit und das Streicheln beruhigte ihn, obwohl er nicht gedacht hatte, dass er aufgewühlt gewesen war.

Irgendwann – Philipp konnte nicht einschätzen wann – löste er sich von ihm, lächelte beinahe schüchtern zu ihm hoch. Es bedeutete ihm viel, dass Holger ihn nicht vorher zurückgedrängt hatte.

„Schön, dass du da bist“, sagte er wahrheitsgemäß. „Kommst du direkt vom Training?“ Er wollte einfach ein ungezwungenes Gespräch beginnen. Das war doch sicher gut, oder?

                                            

Holger sah sofort runter, als die Umarmung sich lockerte. Philipps Blick ließ ihn lächeln und seine Worte erfüllten ihn mit Bestätigung. Es war sehr gut, dass er da war.

Sofort nickte er, ging zu dem Tisch mit den vier Stühlen. „Ich soll dich von Arjen und den anderen grüßen“, richtete er den Gruß aus und hoffte, dass er Philipp damit eine Freude bereiten konnte. Immerhin war es doch schön, wenn sich Freunde für einen interessierten, oder?        

 

Philipp sah Holger etwas überrascht an. „Haben sie nach mir gefragt?“, hakte er noch. „Was hast du ihnen erzählt?“ Mit einem Mal bekam er die Angst, dass Holger ihnen alles erzählt hatte. Wie er ihn geschlagen und geküsst hatte. Wie er geweint hatte. Wie er seine Stimme gesucht hatte... einfach alles. Das wollte er aber nicht. Ihm war das wirklich unangenehm. Wieso konnte er nicht mal richtig erklären, aber Philipp wollte einfach auch nicht, dass Holger über ihn redete. Vor allem nicht dann, wenn er sich doch fast nur ihm anvertraute. Hoffentlich nutzte er dieses Vertrauen nicht aus. Wobei... ob er wohl mit Dr. Memmer redete? Wäre das legitim? Richtig gut würde er das auch nicht finden, aber es war etwas ganz anderes als wenn er mit Arjen und den anderen reden würde.

 

„Natürlich“, antwortete Holger. „Das ist doch selbstverständlich, dass sie nach dir fragen.“ Philipp war ein guter Kapitän, das betonten ausnahmslos alle. Da hätte es den Innenverteidiger eher gewundert, wenn sich niemand mehr für ihn interessieren würde.

Bei seiner zweiten Frage schaute er Philipp einen Moment lang an, bevor er darauf etwas erwiderte.

 

War es wirklich so selbstverständlich? Philipp war sich da nicht so sicher. Seit der Entführung waren Wochen, nein, sogar Monate vergangen. Er hatte sich ja auch nicht blicken lassen. Es war doch nur natürlich, wenn sie auch nicht mehr nachfragen würden, oder? Philipp wusste es nicht. Aber es ging ihm ja auch gar nicht richtig um das Nachfragen, sondern eher darum, was Holger so antwortete.

 

„Nicht viel“, zuckte er mit den Schultern. „Es hat auch niemand so explizit nachgefragt, nachdem ich erwähnte, dass es dir halt im Moment nicht so gut geht, aber ich dir helfen will.“ Sein Blick ruhte sanft auf den Kapitän. „Du musst dir keine Sorgen machen, dass ich zu viel erzähle.“ Das war doch sein Problem, das für den anfänglich überraschten und etwas ängstlichen Gesichtsausdruck verantwortlich war.

 

Er erzählte nicht zu viel? Wenn er ehrlich war, passte es ihm schon nicht, dass er sagte, es würde ihm nicht gut gehen. Das lag aber viel mehr an der Tatasche, dass er nicht hören wollte, dass es ihm nicht gut ging. Philipp hatte da ein Problem mit zu akzeptieren, dass… ja, dass es ihm einfach nicht gut ging. Dass er auf Hilfe angewiesen war – und das so offensichtlich.

Er nickte bloß, wusste nichts darauf zu erwidern. Musste er das überhaupt? Er hoffte nicht. Er wollte das einfach nicht weiter ausdiskutieren. Philipp wusste, dass er da auf Dauer mit klarkommen musste, aber doch nicht sofort heute, oder?

 

Holger wertete es als gutes Zeichen, dass Philipp nicht mehr nachhakte. Er selber würde auch nichts mehr dazu sagen, aber der Kapitän glaubte ihm doch, oder? Er würde nichts weiter erzählen, wenn er es nicht wollte.

 

Wieder fiel Holgers Blick auf den noch nicht fertig gegessenen Zwetschgendatschi. „Hab ich dich gestört?“, nickte er in Richtung des Tellers. Selbst wenn nicht, hatte er zumindest ein wenig zu sich genommen, wobei er viel mehr brauchen würde, so mager sein Körper aussah.

 

Der ehemalige Kapitän schüttelte den Kopf. „Ich hab keinen Hunger mehr. Möchtest du noch? Der ist sehr lecker.“

 

Die Antwort auf seine Frage war ernüchternd. Er hatte wirklich den Verdacht, dass Philipp sich erst wieder nach und nach beibringen musste, mehr zu essen. Es brächte also nichts, wenn er ihn motivierte mehr zu essen, weil ihm sonst schlecht werden könnte. Holger nahm sich vor sich darüber zu informieren, irgendwie musste Philipp doch schnell wieder zu Kräften kommen. Körperlich sowie seine Psyche.

„Hunger hätte ich schon...“ Skeptisch besah er sich das Gebäck. Gegessen nach dem Training hatte er auch noch nicht so wirklich etwas. „Also, wenn du es wirklich nicht mehr willst...“, ließ er den Satz offen und suchte Philipps Blick. Wie sah das denn auch aus, wenn er hier sein Essen wegfutterte?

 

„Nein, nimm ruhig“, bestätigte er mal wieder um ein Lächeln bemüht. „Er ist wirklich lecker und es wäre doch schade, wenn man ihn wegschmeißen müsste, oder?“

Philipp setzte sich an den Tisch und schob Holger das Stück Kuchen rüber. Dann griff er nach dem Kalender und blätterte ihn durch, besah sich dabei die Termine des FC Bayern. Die erste Runde im Pokal war also überstanden und die zweite wohl auch. Champions League-Spiele standen auch weiterhin auf dem Plan... „Meinst du, ich kann diese Saison noch einmal auf dem Platz stehen?“, fragte er plötzlich, traute sich aber nicht aufzusehen und studierte weiter den Kalender. Woher die Frage auf einmal kam, konnte er selber nicht erklären, aber er hatte sich das gefragt. Er wünschte es sich auch, obwohl dieser Wunsch mit einer riesigen Angst verbunden war. Oder eher mit mehreren Ängsten. Als erstes musste er dafür wieder fit werden und dafür musste er sich eingestehen, dass im Moment sein Leben alles andere als richtig lief und er sich helfen lassen musste. Ein Philipp Lahm musste zugeben, dass er am Ende war und alleine nicht aus seinem Loch kam. Das war eine große Herausforderung.

              

Er war zwar immer noch skeptisch wegen des Kuchens, aber entschied sich doch dafür ihn zu verspeisen. Wegwerfen wäre wirklich zu schade dafür. „Danke“, freute er sich sichtlich und begann zu essen, während er Philipp dabei beobachtete, wie er den Kalender studierte. Es war gut, dass er die Termine eingetragen hatte. Eigentlich rechnete er mit irgendeiner Frage zu einem Spielstand oder zu vergleichbaren, aber er stellte eine Frage, die Holger wirklich überraschte. Er hörte den Wunsch und die Hoffnung darin wieder spielen zu können. Philipp hatte wirklich Mut gefasst überhaupt wieder spielen zu wollen. Er überlegte auch gar nicht lange, er fand es so toll, dass er das von sich aus fragte, ohne dass Holger ihn dies aufzwang. „Bestimmt“, nickte er. Wenn er sich wirklich anstrengte und bemühte zu Kräfte zu kommen, wollte er nichts ausschließen. „Aber was auf jeden Fall drin ist, ist ein Besuch in der Allianz Arena. Wir würden uns alle freuen, wenn du zu den Spielen kommst. Und dann stehst du bald schon wieder selbst auf dem Rasen.“ Holger verbarg seine Freude nicht.

 

Philipp sah auf. Zu Besuch sein? So wie als wenn er verletzt wäre? Nur, dass er dieses Mal armselig war, weil er sich psychisch hat fertig machen lassen?

„Ich weiß nicht, ob ich das will.“ Gerade wollte er es nicht. Er wollte nicht den ganzen Sponsoren und Promis begegnen, nicht den Spielern, die nicht im Kader waren und deren Familien und Freunden. Nein, er wollte keine Fragen hören, wie es ihm denn ginge oder wie schlimm es denn war. Er wollte nicht erzählen, wie die Entführung war oder wie es war die eigenen Freunde sterben zu sehen. Er wollte auch kein geheucheltes Mitleid hören. Nein, gerade zu diesem Zeitpunkt wollte er keinen Besuch in der Arena.

 

Holgers Enthusiasmus wurde schneller zerstört, als ihm lieb war. Philipp klang nun wieder alles andere als begeistert von seinem Vorschlag. Wollte er sich bis zu seinem endgültigen Comeback also nicht in der Allianz Arena blicken lassen? Irgendwie verstand er das Problem nicht. Erinnerte ihn das zu sehr an Mario und die anderen? Holger kaute den letzten Bissen hinunter und wollte nachfragen, wieso er nicht bei den Spielen zusehen wollte. Immerhin könnte das sein Verlangen selber wieder auf dem Platz zu stehen, steigern. Demnach würde die Genesung schneller gehen, oder? Aber er ließ es bleiben und schwieg stattdessen. Er würde sich liebend gerne mit ihm unterhalten, aber im Moment wusste er nicht, was er sagen konnte und was nicht. Er wollte Philipp mit keinem seiner Worte runterziehen oder verletzen. „Der war echt sehr lecker.“ Ein unnötiges Thema, aber wenigstens unterbrach er so die Stille, die aber nun doch wieder einkehrte. Was gab das Gespräch über den aufgegessenen Kuchen auch schon her?

 

Holger sagte nichts dazu, sprach lieber über den Kuchen. Philipp wusste nicht, was ihm lieber war. Aber unabhängig davon gefiel es ihm nicht, dass er so mit Samthandschuhen angepackt wurde. Doch er wusste ganz genau, dass er da selber dran schuld war. Philipp war ja nicht doof, aber das alles war eben nicht so einfach.

Er öffnete das aktuelle Tabellenblatt vom Kalender und stand auf. Er nahm einfach ein Bild mit einer Blume von der Wand und hing den Kalender an den Nagel. So hatte er ihn vom Bett aus gut im Blickfeld.

 

Die Stille wurde wieder durchbrochen. Dieses Mal durch das Wegrutschen des Stuhls und Philipps Schritten. Kurz blickte er ihn an und erkannte selbst durch das lockere Shirt, das er trug, dass er einiges abgenommen hatte. Es war schwierig mitanzusehen, selbst wenn er sich klarmachte, dass Philipp an sich arbeiten wollte, damit es wieder so wurde wie früher.

 

So viele Monate waren vergangen. So viele Geburtstage hatte er verpasst und seinen eigenen würde er wohl kaum feiern dieses Jahr. Zumindest nicht in seiner jetzigen Verfassung. Wen sollte er aber denn auch einladen?

„Ist das komisch?“, fragte er plötzlich und drehte sich, um Holger sehen zu können. „Ist das komisch ohne Mario, Thommy und die anderen?“

Er selber konnte es nicht beurteilen. Er hatte ja niemanden hier. Aber allein die Vorstellung, dass da niemand mehr war, der Witze machte in der Kabine oder wieder mal damit angab, wen er an der Playstation geschlagen hatte, schmerzte. Wie war dann erst die Realität?

 

Philipps Frage erstaunte ihn dann noch mehr als die, ob er diese Saison nicht spielen konnte. Was sollte er ihm sagen? Was versprach er sich von der Antwort? Die Wahrheit würde ihn runterziehen, da brauchte Holger gar nicht lange darüber nachdenken. Deshalb zog er es vor auf den Teller zu blicken und sich an einem Krümelchen fest zu starren. „Es ist eben irgendwie anders“, fing er zögerlich an. „Komisch ist das falsche Wort. Es ist eine Sache, an die man sich gewöhnen muss.“ Er betonte das letzte Wort ganz besonderes. „Man kann es nicht ändern“, fügte er deutlich leiser, sah auf und lächelte Philipp traurig an. „Wenn ich merke, dass es mich runterzieht, weil sie nicht da sind. Im Training oder bei Spielen, denke ich einfach, dass sie den Verein gewechselt haben. In ein ganz weit entferntes Land oder so...“ natürlich war es eine naive Vorstellung, aber sie half, um sich nicht 24 Stunden täglich bewusst machen zu müssen, dass er sie nie wiedersehen würde und sie ihr Leben wegen dieser sinnlosen Entführung lassen mussten.

 

Holger brauchte etwas mit seiner Antwort, aber Philipp wartete geduldig. Er wusste nicht, womit er rechnen sollte, aber die Worte verwunderten ihn. Es war nicht der Punkt, dass man sich daran gewöhnen musste. Er verstand auch den Wink mit dem Zaunpfahl, dass Philipp keine andere Wahl hatte. Vielmehr war es die Erklärung, was Holger tat, wenn es ihn herunterzog. Das passte nicht zu ihm. Das klang als würde er weglaufen und sich der Realität nicht stellen. Aber war Philipp in der Position ihm das zu sagen und zu kritisieren? Ihm zu sagen, dass das nicht der Holger war, den er kannte? Er war ja auch nicht der Philipp, den er kannte.

Der Ältere nickte also bloß und setzte sich ihm wieder gegenüber. Dem Blick wich er aus, wollte und konnte Holger nicht ansehen. Wieso konnte er sich selbst nicht erklären. Lieber spielte er mit einer Servierte, die auf dem Tisch lag.

 

Das Gespräch erwies sich als äußerst schleppend. Philipp nickte bloß und sagte auch nichts mehr dazu, wohl in der Hoffnung, dass der Blonde etwas ansprach. Aber was interessierte dem Kapitän denn im Moment? Über den FC Bayern konnten sie schon mal wieder reden, also wäre es doch nicht verkehrt von internen Geschehnissen zu plaudern.

„Momentan sind die meisten fit. Ab und zu zwickt wohl Francks Oberschenkel etwas, weswegen er auch neulich das Training streichen musste, aber sonst sind wir ziemlich vollzählig.“ Holger biss sich auf die Unterlippe. Toll, das war ja auch ein super Thema, das er da wieder anschnitt. Gerade jetzt von Vollständigkeit und Beschwerden zu reden, war nicht so ganz klug. Es war aber zu spät, um das rückgängig zu machen. Vielleicht hatte er Glück und Philipp würde sich dafür auch mehr oder weniger begeistern können mehr zu erfahren als nur die Termine von den Spielen.

              

Philipp sah nicht auf als Holger anfing über das Team zu reden. Er dachte nach. Ob die anderen wohl sauer waren, dass er nicht da war? Wer waren überhaupt „die anderen“? Franck und Arjen waren noch da, wie er erfahren hatte und sonst? Eine neue Saison bedeutete neue Spieler und die hatte der FC Bayern sich zwangsläufig suchen müssen. Gab es noch mehr Abgänge? Und wer war sonst dazu gekommen? Er wusste es nicht, hatte es auch bisher nirgends nachgelesen.

Zögerlich hob er den Blick. Konnte er Holger offenbaren, dass er das nicht wusste? Aber wenn er ihm nicht vertraute, wem denn dann?

„Holger“, fing er langsam an, brach ab, senkte den Blick, ehe er ihn doch wieder hob. „Wer sind denn „die meisten“ eigentlich? Wer ist gegangen und wer ist gekommen zur neuen Saison?“

Wenn er ehrlich war, erschreckte ihn die Frage gerade, wo er sie laut aussprach. Er wusste nicht mal, wie der aktuelle Kader aussah. Der Kader seines Vereins, seines Teams, der Kader, von dem er eigentlich der Kapitän war. Ihm wurde bewusst, dass er den Titel nicht verdient hatte. Er musste ihn sich erst wieder verdienen, vorher wäre es nicht fair den anderen gegenüber. was war bloß aus ihm geworden?

              

Die Frage war eine einzige Bestätigung zu der traurigen Wahrheit. Philipp hatte sich gegenüber dem FC Bayern total desinteressiert verhalten, weil er die Entführung nicht verkraften und verarbeiten konnte. Er spürte auch seine Unsicherheit, so als schien er mit sich gehadert zu haben, ob er die Frage stellen sollte. Holger entschied sich es ihm so einfach wie möglich zu machen, in dem er lächelte und so tat, als schockte ihn das nicht. So als wäre es eben einfach eine ganz normale Frage.

„Luiz ist nach zu Wolfsburg gewechselt“, begann er. „Mario Götze ist einer unserer Neuzugänge. Durch Pep kam es auch zu einer Verpflichtung von Thiago Alcantara.“ Holger dachte an den neuen Torhüter, von dem er schon mal hörte, dass er sich nach Philipp erkundigte. Er bekundete sogar sein Interesse ihn zu besuchen, aber irgendwie wollte der Blonde das nicht. Er wollte Philipp helfen, weil er der einzige war, der an ihn ran kam. Diese Position teilte er nur ungern mit einem von Philipps alten Freunden. „Timo... Timo Hildebrandt kam auch neu. Und im Sturmzentrum verstärkt uns Fernando Torres. Sind alle auch ganz nett und konnten sich gut in die Mannschaft integrieren.“ Philipp würde immer noch dazu passen, er wäre der perfekte Kapitän, was auch Arjen immer wieder verlauten ließ. Nie war dem Holländer rausgerutscht, dass er immer diesen Posten besitzen wollte, lediglich war von der Vertretung, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Philipp wieder bei Kräften war, gesprochen.

 

Philipp hing an Holgers Lippen und hörte ihm ganz aufmerksam zu, versuchte sich zu merken, was der Jüngere ihm da erzählte. Bei einem Namen hingegen wurde er hellhörig. „Timo ist bei Bayern? Aber wi-…“, er brach ab. Natürlich wusste er wieso. Sie hatten Ersatz gebraucht für Manuel. Aber das es ausgerechnet Timo war. Philipp hatte nicht damit gerechnet, dass sie noch mal zusammen in einem Team spielen würden. Aber das taten sie ja nicht mal richtig. Philipp hockte hier in dieser Klinik und dabei hätte so viel wie früher sein können. So viele Erinnerungen kamen hoch. Gemeinsam in Stuttgart, gemeinsam in der Nationalmannschaft… sie hatten all die Jahre den Kontakt bewahrt. Er war mal stärker und mal weniger stark gewesen, aber so war das halt manchmal. Jetzt im Moment war halt eben gar kein Kontakt da.

„Timo also“, setzte er seinen Satz nachdenklich fort, lächelte leicht, dachte aber auch an die anderen Namen. Götze, Torres, Thiago… alles große Namen. Aber es mussten auch große Namen ersetzt werden. Sehr große Namen. Fußballerisch und von der Persönlichkeit her.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass er fast aus Gewohnheit raus den Kopf gesenkt hatte, er hob ihn wieder und lächelte Holger an. „Ich hätte nie gedacht mal mit Torres in einem Team zu spielen.“ Das Lächeln war ehrlich, die Worte auch. Wie es wohl war mit ihm? Philipp würde gerne mit ihm trainieren. Aber es war das eine, dass er es wollte und das andere auch etwas dafür zu tun.

 

Holger konnte Philipp ansehen, dass er bei der Erwähnung von Timos Namen reagierte. Irgendwie ließ ihn das seufzen. Er wollte wohl eine Frage stellen, aber brach sie ab und hinterließ ein Stirnrunzeln auf Holgers Gesicht. Was wollte er denn fragen? Warum er zum FC Bayern wechselte? Er konnte sich eben die Gründe von Timo durchaus vorstellen. Philipp und er waren bekannterweise befreundet und womöglich wollte er ihm beistehen und für ihn da sein. Das ging natürlich am besten, wenn man im selben Verein spielte. Holger kam nicht umher sich die Frage zu stellen, ob Timo mehr bewirken würde als er? Der Gedanke behagte ihn nicht, kränkte ihn sogar, obwohl es sich wirklich nur um eine Überlegung handelte.

Und das beinahe selige Lächeln bestätigte diesen Gedanken. Wieder seufzte Holger und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Es war gut, dass Philipp in dem Moment den Kopf senkte und ihm sein gekränkter Gesichtsausdruck, der sich nur ganz kurz gezeigt hatte, verborgen blieb.

Die Rede fiel dann aber erstaunlicherweise auf einen anderen Spieler. „Er schätzt dich als Spieler sehr“, berichtete Holger. Das hatte Fernando sogar schon auf einer Pressekonferenz, in der es unter anderem auch um den kleinen Abwehrspieler ging, verlauten lassen. Für Holger bestand kein Zweifel daran, dass die beiden sich verstehen würden. Torres hatte zwei Kinder und eine Frau zu hause, war ein totaler Familienmensch, genau wie Philipp... vor der Entführung.

 

„Er schätzt mich?“ Philipp klang nicht nur überrascht, er war es auch. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber die Worte freuten ihn. Als Spieler schätzte er ihn auch. Torres war gut, das musste man ihm lassen. Ob er ihnen nun einen Traum zerstört hatte oder nicht.

Allerdings fragte er sich, was er wohl noch denken musste. Wie dachte man jetzt über ihn? Hielt man Philipp für einen Schwächling? Würde es nicht Stärke zeigen, wenn er wiederkommen würde? Oder war zu viel Zeit vergangen? Zu lange hatte er sich gehen lassen… konnte er jetzt noch ohne dumme Kommentare zurückkommen oder war das gar nicht mehr möglich? War es je möglich gewesen? In dieser Gesellschaft vermutlich nicht.

 

Holger verstand Philipps Erstaunen nicht. „Ja... so gut wie alle tun das.“ Hatte er vergessen, was für ein herausragender Spieler er einmal war? Das konnte sich der Innenverteidiger beim besten Willen nicht vorstellen. Und wenn dem so wäre, würde er ihm DVDs von Spielen mitbringen, die er sich ansehen konnte. Philipp musste das als Ansporn nehmen, denn Holger war sich absolut sicher, dass er seine Leistungen wieder abrufen konnte, wenn er wieder fleißig trainierte und regelmäßig und auch genau aß.

 

Holger überlegte, von was er ihm noch alles berichten könnte. „Es gibt aber auch etwas, was im Verein momentan nicht ganz so rund zu laufen scheint, ich hoffe aber, die Situation entspannt sich zwischen Pep und Mandzu wieder.“

 

Pep… stimmt, da war ja noch etwas. Leise seufzte er und verfluchte sich gerade dafür, dass er es nicht einfach hinbekommen hatte wieder zu trainieren nachdem seine Verletzungen verheilt waren. Also die körperlichen. Die seelischen würden vielleicht niemals heilen. Wer wusste das schon? Aber das war gerade egal. Es ging ihm jetzt um das, was er verpasst hatte. Den Rest der Saison, den Saisonauftakt… was war eigentlich mit der Reise geworden, die er und Claudia gebucht hatten? War sie alleine geflogen? Oder mit einer Freundin? Und was war mit seinem Sohn?

Plötzlich war Philipp weg vom Fußball. Es zählte innerlich so viel auf, was gewesen war, was er verpasst hatte. Dazu zählte Julians zweiter Geburtstag. Ihm traten Tränen in die Augen und es dauerte nicht lange und sie liefen seine Wange hinab.

„Holger“, schniefte er, suchte beinahe verzweifelt den Blick des Jüngeren. „Wa-warum konntest du nicht eher kommen und… mi-mich retten? Ich habe so viel verpasst.“ Vermutlich verstand er den Zusammenhang gar nicht. Oder er interpretierte es falsch, aber was sollte er machen? Erklären konnte Philipp sich gerade nicht. Er schluchzte auf und fuhr sich immer wieder über die Augen.

Er wollte Holger mit diesen Worten keinen Vorwurf machen. Er war ja in gewisser Weise selber Schuld an der Situation. Außerdem hatte es in der Hand der Psychologen gelegen, ob Holger hatte kommen dürfen oder nicht, aber der kleine Kapitän wusste, dass es noch Jahre so weiter gegangen wäre, wenn Holger nicht bei ihm aufgetaucht wäre.

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Kommentare: 1
  • #1

    Engel (Montag, 20 Juli 2015 17:32)

    Hey :)
    Ich glaube, dass es gut ist, wenn Philipp langsam begreift, dass er monatelang nur tatenlos vor sich hin gesiecht ist
    Und dass es sehr vieles verpasst hat
    Sich seinen eigenen Sohn!
    Dass er mit Holger solche Fortschritte macht, freut mich total
    Holger yeaaaah ^^